Dem Wahnsinn so nah
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Disclaimer:
I do not own the Forgotten Realms books. I do not make any money from the writing of this story.
26. Kap. Schatten
26. Kapitel
Schatten
Tarlyn Myt’tarlyl, der Hohepriester aus dem gleichnamigen Haus erschrak und hielt in jenem Moment, als ihn jemand ansprang, den Atmen an. Sein Herz raste mit einem Mal wild in seiner Brust und wäre auch beinahe stehen geblieben, doch er konnte sich fassen. Aber der Schreck saß tief. Instinktiv schlangen seine Arme sich um den fremden Körper, der an seinem Hals hing und ihn innig festhielt. Tarlyn wollte die Person von sich stoßen und hielt für einige Sekunde inne, als er eine aufgeregte Stimme vernahm. Sie plapperte begeistert in der Sprache der Drow. „Vater, Vater! Hier bin ich!“
Unter dem schwarzen Schleier, den Tarlyn trug, erkannte er in jenem Moment nur, dass sich die Person auf ihn gestürzt hatte und spürte weiterhin die feste Umklammerung. Doch kaum hatte sich der erste Schock gelegt, merkte er, wie er durch die fremde Last langsam ins trudeln geriet. Der Hohepriester verlor plötzlich das Gleichgewicht und versuchte seinen Sturz abzufangen. Aufgeregt und wild ruderte er mit den Armen in der Luft und dann fiel er geradewegs nach hinten auf den harten Boden. Der Schmerz des Aufpralls jagte augenblicklich durch seinen ganzen Körper.
„Was ist nur passiert, mein Maskierter Fürst?“, rief er stumm zu Vhaeraun. Dann spürte er wieder die fremde Person, die mit ihm zusammen umgefallen war und dessen Hände und Arme ihn immer noch fest umklammerten. Eilig versuchte er den Griff des anderen zu lösen, was ihm mit Leichtigkeit gelang. Denn auch der Fremde schien durch den Fall kurzzeitig irritiert zu sein. Er stieß die Person zur Seite, die darauf unsanft auf dem Boden aufkam und raffte sich schnell auf. Nachdem Tarlyn stand ignorierte er die Schmerzen und wollte gerade nach seinem Dolch im Stiefel greifen, um sich dem unerwarteten Gegner Mann gegen Mann entgegen stellen. Da drang ein klirrendes Geräusch einer Eisenkette und wieder die Stimme an sein Ohr. Diesmal sagte sie lediglich weinerlich. „Aua.“
Der Hohepriester runzelte die Stirn während sich seine bernsteinfarbenen Augen zu schmalen Schlitzen verengten. „Wer seit ihr?“, fragte er und richtete seinen Blick auf den angeblichen Angreifer. Doch was er sah, ließ seine Wut über diesen Angriff verpuffen und selbst den Dolch zog er nicht mehr hervor. Er erkannte vor sich auf dem Boden einen Halbdrow sitzen. Dieser besaß sehr helle Haut und weiße lange Haare, die ihm ins Gesicht fielen. Dazu trug das Halbblut nicht viel am Leib, wie Tarlyn bemerkte. Eine Art Hose aus schwarzem Leder, die gerade mal das nötigste bedeckte, dazu schwarzer Seidenstoff an den Beinen. Die Füße waren nackt und am Oberkörper prangten überall goldene Ketten unter denen eine Schlangentätowierung an Brust und beiden Oberarmen hervor lugten. Dazu gesellte sich ein eisernes Halsband und obendrein eine passende Kette, die das klirrende Geräusch verursacht hatte.
„Wer bist du?“, fragte Tarlyn verwirrt und verzichtete diesmal auf die Höflichkeitsform, denn das Halsband verriet ihm augenblicklich, dass es sich um einen Sklaven handelte, doch keinen den er kannte. Es folgte jedoch keine Antwort, stattdessen hörte er etwas, dass einem Weinen gleichkam.
Wieder runzelte der Hohepriester die Stirn. Er fragte sich, was dies zu bedeuten hatte. Ärgerlich über diesen Zwischenfall, den er so schnell wie möglich erledigt wissen wollte, beugte er sich nach unten und strich dem Halbdrow eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht, um diesen besser sehen zu können. Denn Gefahr konnte er hier nicht erkennen. Dann stockte Tarlyn und die Wut wisch der völligen Verwirrung. Er musste feststellen, dass der Halbdrow noch jung war. Der Hohepriester schätze den Jungen auf nicht mehr als fünfzig Jahre, was er spontan nicht wirklich einzuschätzen wusste und lag damit nicht einmal falsch.
Shar wurde am heutigen Tag, dem 19. Eleint 1324 TZ, 49 Jahre alt.
Tränen rannen dem jungen Halbdrow über die Wangen und dann trafen sich plötzlich ihrer beider Blicke.
Tiefblauen Augen blickten hinauf und sahen dort bernsteinfarbene Augen hinter einem schwarzen Seidenschleier versteckt. Sie glühten, jedoch nicht unheilsvoll, sondern neugierig. Das war nicht Handir, wie Shar schmerzlich feststellte und bei dieser Erkenntnis liefen die Tränen ungehemmt weiter. Vor ihm stand ein Drow, allerdings ein wirklich sehr gut gekleideter und hübscher noch dazu. Dann kam dem Jungen die Erleuchtung, dass es sich um den Dunkelelfen im Gang handelte. Der Gleiche, der andächtig an ihm vorbei ging, genau dort, wo er nur kurz danach Handir gesehen hatte. Dieser Gedanke drohte Shar zu übermannen und er wusste, dass sein Vater nicht wie versprochen zu ihm zurückgekommen war.
„Hör’ auf zu weinen, es ist ja nichts passiert“, begann Tarlyn leise auf den wimmernden Jungen einzureden und hätte beinahe lachen müssen, als er sich über den Sinn seines Satzes klar wurde. Natürlich war etwas passiert, aber zum Glück für beide schien der überraschte Angriff und der darauf folgende Sturz keine Auswirkungen gehabt zu haben, zumindest nicht auf ihn, wenn er seinen augenblicklich schmerzenden Körper außer Acht ließ. Des Weiteren ging von dem jungen Halbdrow keine Gefahr aus. Aber die Neugier nagte nun an dem Vaterpatron und Hohepriester des Hauses Myt’tarlyl.
„Du musst nicht weinen. Stehe auf, ich helfe dir“, meinte Tarlyn freundlich und streckte sogar dem Jungen eine helfende Hand entgegen. Das „Wie“ und „Warum“ dieser unbedarften Geste konnte er sich selbst nicht erklären, er tat es einfach.
Shar musterte die Hand mit einer Mischung aus Angst und Verzweiflung, sowie aus Neugier und Dankbarkeit. So hielt er tatsächlich in seinem Weinen inne und hob leicht den Kopf. Vor sich erkannte er wieder das verschleierte Gesicht, das sich zu ihm vor beugte, doch dahinter verbarg sich kein fürchterliches Monster, wie all die Männer, die Nhaundar immer auf ihn hetzte. Der Dunkelelf schien seine Aufforderung ernst zu meinen und die Hilfe ähnelte dem freundlichen Wesen von Sorn und Zaknafein. Dann kam Shar in den Sinn, dass auch dieser Drow hier das gleiche Symbol wie sein Liebster trug. Und tatsächlich, auf der Brust baumelte immer noch die goldene Halbmaske und der Junge wusste, dass jeder, der so etwas um den Hals hängen hatte, ihm noch niemals etwas zu leide getan hatte. Er vertraute dem Fremden einfach, auch wenn es sich in jenem Moment nicht um Handir handelte. So griff er nach der helfenden Hand und Shar zog sich auf die Beine. Augenblicklich konnte er die aufkommende Neugier nicht mehr verbergen und blinzelte aus den Augenwinkeln den fremden Drow an.
„Wie heißt du?“, fragte Tarlyn, denn auch seine Wissbegier schien auf seltsame Art und Weise geweckt worden zu sein und vergessen schien sogar das Gebet, in dem er noch vor wenigen Momenten so vertieft gewesen war.
„Shar, mein Herr“, kam die leise Antwort.
Ein schöner Name, dachte der Hohepriester und überlegte, wie der Junge überhaupt erst in den Tempel und vor allem wie er in dieses Haus gekommen war. Ein Sklave vom Haus Myt’tarlyl war er nicht. Besonders nicht, weil es sich nach der Kleidung des jungen Halbdrow um einen Liebessklaven handeln könnte, das verriet Tarlyn dessen Aufmachung.
„Wie bist du in mein Haus gekommen?“, wollte Tarlyn weiter wissen und seine Stimme klang sehr interessiert.
Shar schluckte und wusste ja selbst keine richtige Antwort auf diese Frage. Dann verspürte er eine Vertrautheit, die er immer dann empfand, wenn er mit Sorn oder Zaknafein sprach. So hob er den Kopf, strich sich instinktiv die langen Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte mit seinen tiefblauen Augen zu dem Drow. Eine Hand wanderte plötzlich nach oben und er zog das schwarze Seidentuch von dem Kopf des Fremden. Darunter lugten die glänzenden bernsteinfarbenen Augen und ein überraschter Gesichtsausdruck hervor.
„Du bist nicht mein Vater“, wisperte Shar und wurde wieder traurig, da er insgeheim doch gehofft hatte, dass Handir hinter dem Schleier versteckt gewesen sein könnte, um ihm einen Streich zuspielen.
Tarlyn war so verwirrt, dass er sogar vergaß, dass er hätte wütend werden sollen, bei solch einem ungebührlichen Verhalten eines Sklaven. Doch er konnte es nicht, denn die Neugier war größer. Der junge Halbdrow zog ihn in seinen Bann und es schien etwas an ihm zu sein, dass er kannte. Aber er wusste nicht, was. Es war fast schon so, als würde er seinen Sohn vor sich sehen oder gar seinen Enkeln. Aber Kalanzar, der älteste Sohn des Hauses Myt’tarlyl, Waffenmeister des Hohepriesters, besaß lediglich zwei Töchter. Seine verstorbene Tochter Chalithra hatte zwar ein Kind, doch der Vater Handir war schon vor Jahren mit dem Säugling verschwunden, gleich nachdem er seine Frau ermordet hatte. Der Vaterpatron wusste bis zum heutigen Tag nicht einmal, ob sein Enkelkind weiblich oder männlich war und ob es denn überhaupt noch lebte. Die einzig verbliebene Tochter Iymril hatte keine Kinder.
„Oh mein Maskierter Fürst, was ist es, was ich tief in mir fühle? Ich sehe etwas und sehe es doch nicht!“, flehte Tarlyn stumm zu Vhaeraun, während er seinen Blick nicht von dem jungen Halbdrow lassen konnte. Die Antwort blieb allerdings aus.
„Kommt mein Vater zu mir, mein Herr?“, riss die Stimme von Shar den Hohepriester aus seinen Gedanken und erntete daraufhin einen noch unverständlicheren Gesichtsausdruck des fremden Dunkelelfen.
„Ich glaube kaum“, antwortete Tarlyn lapidar und war noch viel zu tief mit seinen Gedanken beschäftigt anstatt zu fragen, wer denn der Vater des Jungen sein sollte. Hätte er es getan, dann wäre die Überraschung über das eben Geschehene noch größer gewesen.
„Ihr tragt das gleiche Symbol wie Sorn, Herr“, meinte Shar auf einmal, als der andere nichts weiter sagte und wurde sich im gleichen Moment bewusst, dass er den Namen seines Liebsten niemand anderem, außer gegenüber Zaknafein erwähnen durfte. Erschrocken über seine unbedarften Worte biss er sich auf die Lippen und schlug sich sogleich mit den Händen darauf, damit er nichts mehr sagen konnte.
Dadurch wurde jedoch Tarlyn endgültig aus den eigenen Gedanken gerissen und er musterte den jungen Halbdrow vor sich. Was hatte er eben gehört, jemand namens Sorn trug ebenfalls das Heilige Symbol von Vhaeraun. Bei dieser Erkenntnis huschte ein freundliches Lächeln über die Gesichtszüge des Hohepriesters und es freute ihn, dass der fremde Junge einen Vhaeraunpriester kannte. Gleichzeitig amüsierte ihn der Junge, der so unverhofft in sein Leben getreten war. Vielleicht ein Zeichen des Maskierten Fürsten, sagte er zu sich selbst und kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende geführt, spürte er die Antwort in seinem Herzen. Doch er verstand sie nicht. Aber eines schien ihm sicher, dieser Halbdrow stellte keine Gefahr dar, sondern glich einem kleinen heranwachsenden Kind, das sich vermutlich verlaufen hatte. Er wollte mehr erfahren und vor allem wer der Herr dieses Sklaven war. So entschied sich Tarlyn dafür, dass er den Jungen mit in seine Privatgemächer nehmen wollte, wo auch er sich frei und ungezwungen geben konnte und vor allem ihn niemand störte.
„Diesen Sorn kenne ich nicht, aber er scheint ein Priester unseres Gottes zu sein“, gab Tarlyn zu verstehen und schmunzelte leicht.
Diese Antwort beruhigte Shar und in seiner Naivität überkam ihn das unbestreitbare Gefühl, dass er doch nichts verraten hatte, denn die Worte weckten eine gewisse Vertrautheit mit Sorn. Sogar die Ähnlichkeit der Worte und das ruhige Sprechen nahmen Shar die Angst und so antwortete er leise. „Er ist Priester und er hat meine Wunden verschwinden lassen und mir die Schmerzen genommen. Er betet auch viel, immer nachts und ich habe schon zugeschaut und auch gebetet.“
„Er scheint in der Gunst unseres Gottes, dem Maskierten Fürsten, wirklich hoch zu stehen, wenn er es vermag dich zu heilen“, lächelte Tarlyn, freute sich über diese positive Antwort und wartete ab, was der junge Halbdrow antworten würde. Er wollte versuchen den Jungen zu locken und wenn er dessen Vertrauen besaß, vielleicht erfuhr er dann sogar noch mehr über ihn, seine Herkunft, dessen Herrn und mit Glück mehr über diesen Sorn.
„Ja, ja, ja“, bestätigte Shar eifrig und wirkte erfreut, dass er mit seiner Vermutung richtig lag und dieser ganz wie Sorn zu sein schien. Die Furcht wich aus seinem Körper und nun war auch der Junge neugierig geworden. Vielleicht konnte er dann auch seinem Liebsten viel über dieses Gespräch berichten, wenn er zusammen mit Nhaundar wieder Zuhause war. „Aber ihr müsst wissen, dass Sorn ihn immer anders nennt. Sorn sagt immer zu ihm Vhaeraun, wenn er mir von ihm erzählt. Maskierter Fürst sagt er nie, aber dafür trägt er so ein hübsches Symbol wie ihr, Herr.“
Nach dieser Antwort konnte Tarlyn nicht anders und musste laut lachen. Der junge Halbdrow war so jung, so naiv und gleichzeitig ein spitzfindiges Kind dazu. Des Weiteren ein wirklich hübsches Kerlchen, wenn auch ein wenig zu schlank. Insgeheim war der Hohepriester auf den unbekannten Sorn neidisch, denn er spürte, dass die Seele des Jungen unschuldig, voller Wissensdrang und Glaube war. Einfach jemand, der es verdiente einen Vhaeraunpriester an seiner Seite zu wissen, der ihn leitet und unterstützt.
„Da stimme ich dir zu, mein Junge. Der Maskierte Fürst ist Vhaeraun. Er ist der Herr der Schatten und der Nacht. Aber wisse, dass man ihn so als auch so nennen kann. Doch ein anderes Anliegen ist mir jetzt wichtiger. Möchtest du dich mit mir weiter unterhalten und vielleicht hast du ja auch Hunger? Wir könnten in meine Privatgemächer gehen und uns lange und intensiv unterhalten. Du kannst etwas essen und mir alles erzählen was du möchtest. Auch über unseren Herrn, der über uns Gläubige wacht“, versuchte Tarlyn den jungen Halbdrow zu ködern und musste weiter lächeln. Seine Worte und seine Gesichtszüge waren sanft, entspannt und ehrlich.
Shar hörte die Worte und fühlte sich immer mehr an Sorn erinnert. Er nickte und die Aussicht auf Essen erfreute ihn mehr, als ein Gespräch mit dem fremden Drow, dessen Namen er noch nicht kannte. Während er den Dunkelelfen mit großen Augen anschaute, fragte er sich, ob er nach dessen Namen fragen konnte und biss sich nervös auf die Lippen.
Tarlyn sah dessen Verhalten. „Was hast du? Hast du keinen Hunger?“
„Doch … ich … ich würde … „ begann Shar zu stammeln und dann platzten ihm die Worte einfach so heraus ohne daran zu denken, dass seine Haltung nicht der eines Sklaven entsprach. „Ich kenne euren Namen aber nicht, mein Herr.“
Der Hohepriester war jedoch nicht wütend darüber, sondern lächelte weiterhin. Irgendwie fand er Gefallen an dem unbedarften und gutgläubigen Charakter des Jungen. Immerhin befand er sich in seinem eigenen Haus und vor ihm stand ein junger Halbdrow der nicht wusste, wo er eigentlich zu sein schien. Aber es sprach nichts dagegen, dass er nicht seinen Namen nennen sollte.
„Ich heiße Tarlyn, Tarlyn Myt’tarlyl und ich bin der Vaterpatron und Hohepriester des ersten Hauses Myt’tarlyl von Eryndlyn, mein Junge.“
Shar musste daraufhin schmunzeln und verstand lediglich eines, dass der Drow vor ihm Tarlyn hieß und dieser ein Priester und gläubiger Mann wie Sorn war. Alles andere interessierte ihn wenig.
Ohne weitere Ausführungen streckte nun Tarlyn dem Jungen seine Hand erneut entgegen und zeigte so an, dass dieser ihm begleiten und führen wollte. Dann ergriff der Dunkelelf die Hand des Halbdrow, wie ein Vater die Hand seines Sohnes. Keiner von beiden machte sich über ihre Stellung Gedanken und so schritten sie aus dem Tempel, durch viele Gänge und einige Treppen durch das Haus und kamen nur wenig später in Tarlyns Privatgemächern an.
Der Hohepriester rief eilig nach einem Bediensten, der sollte beiden ein großes Tablett mit Essen bringen und gab dem Diener gleichzeitig die Anweisung, er solle keinem Auskunft über seinen Gast weitergeben, falls sich jemand meldete, der reinzufällig einen jungen Halbdrowsklaven vermisste. Zuerst wollte Tarlyn seine eigene Neugier in aller Ruhe stillen.
Während beide auf das Essen warteten wies der Hohepriester den Jungen einen Platz an einem großen Tisch aus Mahagoniholz zu. Dieser war mit seltsamen Schnitzereien und kostbaren Verziehrungen aus Silber verfeinert, die den Tisch glänzen ließen. Einen kurzen Moment zögerte Shar. Doch die Ähnlichkeit die zwischen dem Fremden und Sorn bestand überzeugten den jungen Halbdrow letztendlich und er nahm auf einem weichen, mit rotem Samt überzogenen Stuhl Platz und fühlte sich wie ein König auf einem Thron. Ein Lächeln huschte über das junge Gesicht und er spürte, dass er hier nicht mehr so schnell wegwollte. Vergessen war Nhaundar und auch die Erinnerung an eine Strafe, wenn dieser herausfinden sollte, dass sein liebster Schatz einfach verschwunden war. Für Shar zählte in diesem Moment nur Tarlyn, der sich gleichzeitig in den Bann des Jungen gezogen fühlte. Nach wenigen Minuten kehrte der Diener mit einem vollen Tablett zurück. Dieser drapierte das Essen sorgfältig auf dem Tisch, an denen beide Platz genommen hatten und verschwand lautlos.
„Greif’ zu und iss, mein Junge“, meinte Tarlyn höflich und unterstrich die Einladung mit einer Handgeste.
Shar blickte mit großen, tiefblauen Augen auf und erkannte in dem Drow keine hinterlistigen Gedanken. Eilig hob er eine Hand und griff sich alles, was er fassen konnte. Gutes Essen war immerhin selten und meistens bekam der Junge auch nur etwas köstliches, wenn er von Sorn und Zaknafein etwas angeboten bekam. Er stopfte sich frisch gebackenes Brot, Fleisch und auch Pilze in den Mund und achtete überhaupt nicht mehr auf den Dunkelelfen.
Tarlyn schaute von der gegenüberliegenden Seite aus zu und amüsierte sich über die nicht vorhandenen Tischmanieren und über den guten Hunger, den der junge Halbdrow an den Tag legte. Er selbst nippte gelegentlich an einem Tropfen Elfenwein von der Oberfläche.
Der Junge scheint nicht oft so etwas gut zubereitetes zu bekommen, kam dem Hohepriester der Gedanke und beschloss erst einmal abzuwarten, bis der Sklave zu Ende gegessen hatte. Dabei beobachtete er ihn mit unverhohlenem Interesse.
Shar verschlang fast alles und verspeiste gerade den letzten Rest des Rothèfleisches, da fiel ihm ein rotes Etwas auf, das er auch schon des Öfteren bei seinem Herrn gesehen hatte. Es handelte sich um einen roten Apfel, der mit weiterem Obst in einer Schale lag, welches meistens nur die wohlbetuchten Drow im Unterreich sich leisteten.
Tarlyn erkannte den Blick des jungen Halbdrow und er empfand es lustig zu sehen, wie dieser mit unverkennbarer Neugier auf das Obst starrte. Dabei kam dem Vaterpatron ein weiterer Gedanke, einer, wo er das Gespräch weiter führen wollte. Denn der Junge schien nicht einmal zu wissen, was er da erspähte. Durch geschicktes Fragen und bei der jugendlichen Naivität müsste es einfach sein, ihm auf freundliche Weise alles Wissenswertes zu entlocken. Des Weiteren fragte sich Tarlyn immer mehr, wer denn der Herr des ihm zugelaufenen Halbelfen war und das dieser nicht viel von Ernährung verstand. Denn obwohl Shar sehr hübsch und äußerst attraktiv anzuschauen war, nicht zu vergessen die aufreizende Kleidung die er trug, war er sehr dünn. Er besaß äußerlich keine ausgeprägten Muskeln. Wenn er mehr zu Essen bekommen würde, dann wäre er wirklich einer der schönsten Jungen, die der Vaterpatron je zu Gesicht bekommen hatte. Dann bemerkte Tarlyn beim Mustern, dass der junge Halbdrow immer noch das Obst beäugte.
„Das ist Obst von der Oberfläche. Möchtest du das auch essen?“, fragte der Hohepriester freundlich und beobachtete das Verhalten des Jungen genau.
Shar nickte, schluckte den letzten Rest des Fleisches hinunter und sein Blick blieb starr auf dem roten Apfel haften.
„Das ist ein Apfel. Greif’ zu und lass’ es dir schmecken“, meinte Tarlyn und unterstützte die Erklärung, indem er den Apfel ergriff und ihn Shar in die Hand legte.
„Wie isst man den? Ich habe schon so etwas bei meinem Herrn gesehen, aber nicht, wenn er es isst“, fragte der Junge leise, weil er sich über seine Dummheit schämte.
Tarlyn Myt’tarlyl bemerkte es augenblicklich, musste darüber schmunzeln und gab die Anweisung, er solle einfach zubeißen und es sich schmecken lassen.
Dies ließ sich Shar nicht ein zweites Mal sagen und schon im nächsten Moment kostete er von dem aller ersten Apfel seines Lebens. Er schmeckte köstlich und süß und selbst das frische Brot von eben schien vergessen. Das hier war einfach das Beste.
„Wie mir scheint schmeckt es dir“, erklang die ruhige Stimme des Hohepriesters der daraufhin ein eifriges Kopfnicken seines Gegenübers erhielt.
Jetzt schien der geeignete Moment zu sein, um seine Befragung weiter zu führen. Der Junge war beruhigt und die Angst war auch völlig von ihm abgefallen. Wieder verspürte Tarlyn diese Vertrautheit und konnte sie sich nicht erklären.
„Wo kommst du denn eigentlich hier her? Wer ist denn dein Herr und wo wohnst du mit deinem Herrn?“, wollte der Vaterpatron des Hauses Myt’tarlyl wissen und sah Shar dabei direkt in die Augen.
„Menzoberranzan, mein Herr“, brachte der junge Halbdrow unter dem Kauen hervor und schluckte dann den letzten Bissen hinunter. „Mein Herr heißt Nhaundar, Nhaundar Xarann.“
Tarlyn runzelte die Stirn und fragte sich, wer dieser Drow denn sein sollte. Irgendwie kam ihm der Name bekannt vor oder auch nicht. Doch die Nennung des Heiligen Ortes der Spinnenhure Lolth ließ ihn verächtlich schnauben.
„Wieso bist du hier?“, wollte jetzt Tarlyn weiter wissen. „Menzoberranzan liegt viele hunderte Kilometer entfernt von hier.“
„Mein Herr …“, begann Shar zu erzählen, „… Nhaundar, hat mich auf seine Reise mitgenommen. Meine erste Reise in eine andere Stadt und wir haben in einem Gasthaus übernachtet und dann sind wir wieder gegangen und ….“ Dann stockte Shar einen Moment und überlegte, wie er weiter dem Fremden begreiflich machen sollte, wieso er überhaupt in diesem Haus war, was er ja selbst nicht richtig verstand.
Tarlyn dagegen war der Meinung, dass der Junge nichts mehr weiter sagen wollte, während er die Informationen zusammensetzte. Doch aufschlussreich waren sie nicht. Für den Vaterpatron wirkte die Situation so, als wäre der Junge weggelaufen. So unterbrach der Hohepriester den jungen Halbdrow mit einer weiteren Frage.
„Du warst auf der Suche nach deinem Vater und hast dich verlaufen und bist geradewegs im Tempel von Vhaeraun raus gekommen, stimmst? Dann hast du mich für deinen Vater gehalten“, meinte Tarlyn und wollte eigentlich damit nur behilflich sein.
Shar vergaß Nhaundar und erinnerte sich augenblicklich an die Erscheinung von Handir und wie dieser ihn zu dem freundlichen Drow, der ihm nun gegenübersaß und aufmerksam zuhörte, gebracht hatte und dann wieder verschwunden war. Die Worte entsprachen der Wahrheit und so nickte der Junge bejahend.
Im Verlauf des weiteren Gespräches erfuhr Tarlyn so manch einen Namen und dessen Tun und Handeln und selbst die geheimsten Geschäfte des Drow, der sich Nhaundar Xarann nannte. Doch mit diesen Informationen konnte Tarlyn nichts anfangen. Alle Personen, so entnahm er aus den Worten des jungen Halbdrow, waren in Menzoberranzan sesshaft und dies war nicht wirklich der Ort, den er besuchen wollte, schon gar nicht, um irgendwelche Machenschaften zu unterbinden oder sich selbst darin groß hervorzutun. Durchaus ein lukrativer Gedanke, denn die Quelle saß direkt vor ihm und erzählte und erklärte alles sehr eifrig, aber dennoch nichts für Tarlyn. Durch geschicktes Fragen wurde immer mehr offenbart und der Hohepriester fand es äußerst interessant. Bei dem Gedanken, dass dieser Nhaundar wohl niemals daran dachte, was für eine Gefahr dieser junge Sklave für ihn darstellte, eine recht amüsante Unterhaltung noch dazu. Wenn es den Hohepriester nun gelüstete, einen Aufstand oder andere etwaige Dinge anzuzetteln, dann würde er sich jetzt alles genau notieren und Pläne schmieden. Doch er begnügte sich vorerst einmal mit den Ausführungen von Shar. Alleine diese reichten ihm erst einmal aus, um sich einen Rundumblick zu verschaffen. Vielleicht fand er später für die Informationen Verwendung, denn die Berichte über zwei Waffenmeister weckten seine Neugier und aufmerksam hörte er zu.
So verstrich die Zeit wie im Flug und noch nicht einmal der junge Halbdrow bemerkte es. Dann führte die Unterhaltung zu Sorn, Shars Liebsten. Durch die ungewohnte Vertrautheit dem fremden Dunkelelfen gegenüber, dessen Verbindung zu Sorns Gott und gleichzeitig die Ähnlichkeit zwischen Sorn Dalael und Tarlyn Myt’tarlyl, erzählte nun Shar auch mehr von ihm. Er berichtete von den Heilungen, wie späterhin die beiden sich gut verstanden und raffinierte Spiele spielten und sich beide dann letzten Endes immer näher kamen. Was Shar jedoch nie erwähnte war Handir.
So, wie sich die Situation zwischen dem jungen Sklaven und dem jungen Priester sich für Tarlyn anhörten, schien der Kleriker mit allen Wassern gewaschen zu sein. Wenn der Vhaeraunpriester in Menzoberranzan überlebt und selbst einen Sklavenhändler so geschickt an der Nase herum führen kann, dann scheint er sehr viel Talent zu besitzen, dachte Tarlyn. Dabei huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Des Weiteren war der Hohepriester sehr an der Tatsache interessiert, dass es sich um Sorn und einem Drow namens Nalfein, es sich um Zwillingsbrüder handelte. Er erinnerte sich einst an seinen jüngeren Bruder, der vor über einem Jahrhundert durch einen hinterhältigen Verrat aus den eigenen Reihen seiner Familie das eigene Leben verlor und das ganze Haus ausgelöscht wurde. Er hatte einst auch Zwillinge gehabt.
Shar kam gerade zum letzten Teil seiner Ausführungen und meinte, „… und dann haben Sorn und ich manchmal viel Spaß.“ Der Junge griff zu seinem Becher Wasser um die Kehle zu befeuchten. So viel und so lange hatte er schon lange nicht mehr geredet und nahm bei seinen Erzählungen den gefüllten Becher des älteren Dunkelelfen gerne an. Gerade nahm er den letzten Schluck, während der Hohepriester auf die Worte hin die Stirn runzelte.
„Spaß? Welch’ ein Spaß habt ihr beiden denn?“, fragte der Vaterpatron des Hauses Myt’tarlyl verwirrt, denn darunter konnte man sich eine Menge bis gar nichts vorstellen.
Shar sah verdutzt aus. Er verstand nicht, wieso so ein Drow wie Tarlyn so etwas nicht wusste und wiederholte einfach seine Worte von eben.
Erneut schien der ältere Dunkelelf überrascht und wusste nicht, was der Junge damit meinte. Denn bis jetzt kannte er von Sorn nur, dass er dem Halbdrow behilflich zur Seite stand ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
„Freude, die auch mir gefällt“, ertönte Shars naive Antwort, der immer noch verdattert überlegte, wieso ein Drow nicht wusste, dass Mann und Mann im Bett auch viel Spaß haben konnte. Doch diese Worte sprach der Junge nicht aus, sondern er musterte Tarlyn lediglich mit seinen großen tiefblauen Augen.
Der Hohepriester nickte, meinte aber gleich darauf ganz unbedarft. „Shar, kannst du mir vielleicht zeigen was du meinst? Ich habe es nicht verstanden.“
Jetzt war es an Shar der mit dem Kopf nickte und keinerlei Berührungsängste gegenüber dem Dunkelelfen ihm gegenüber hegte. Der junge Halbdrow hüpfte von dem bequemen Sessel, tappte um den Tisch herum und blieb vor einem verwirrten Vaterpatron stehen.
Ehe sich Tarlyn versah war der Junge nach vorne gegangen, drückte dem Dunkelelfen einen Kuss mit geschlossenen Lippen auf den Mund, zog sich zurück und lächelte. Bevor er es noch vergaß nahm Shar darauf schnell einen Finger und tippte mit diesem auf den Bauch des Drow. „Das ist Spaß. Sorn sagt, dass wir uns lieben“, erklärte er noch hinter her und sein Schmunzeln wurde breiter.
Tarlyn schien im selben Moment mehr als überrascht, jedoch nicht böse. In keinem Fall wütend, sondern völlig überrumpelt. Er brauchte einige Sekunden um sich zu fassen, als er kurz darauf sogar den Finger fühlte, der ihn im Bauch kitzelte. Nun wusste er, was mit der Freude gemeint war und wenn er darüber nachdachte, wie naiv der junge Halbdrow war, kein Wunder über diese seltsame Erklärung. Gleichzeitig wurde sich Tarlyn bewusst, dass sexuelle Befriedigung für andere darzustellen nicht das Gleiche für Shar war, wie sich jemandem mit Glückseeligkeit und aus freien Stücken hinzugeben. Der Geschlechtsakt war das, was der Junge tagtäglich beschäftigte ohne jedwede Gefühle oder anderweitigen Empfindungen in Betracht zu ziehen, abgesehen von Schmerzen, wie er aus den Worten und Gesichtsmimik des jungen Halbdrow aus dessen Erzählungen entnahm.
Tarlyns eigene Liebschaften, ob Frau oder Mann, taten alles aus freien Stücken. Aber während er sich dessen bewusst wurde, spürte der Vaterpatron etwas, dass ihn erschrocken innehalten ließ. Er dachte einige Sekunden noch darüber nach und wusste, dass der junge Halbdrow schändlich missbraucht wurde. Innerlich verkrampfte er sich, während er äußerlich ein freundliches Lächeln aufsetzte.
Shar kicherte darüber und wusste nichts von den Gedanken des Hohepriesters. Er war überhaupt nicht verwirrt, sondern fragte daraufhin fröhlich. „Jetzt wisst ihr was Spaß ist, mein Herr?“
Tarlyn nickte lediglich als Antwort. Jetzt wollte er noch mehr wissen und dieser Junge sollte ihm alles freiwillig erzählen.
„Setzte dich doch wieder und erzähle mir mehr von deinem Zuhause, mein Junge“, fragte der Hohepriester freundlich und seine Neugier musste er nicht spielen, als seine Augen voller Wissbegier aufleuchteten.
Shar schien plötzlich ganz aufgekratzt zu sein. Er wusste nicht so recht wieso, aber ihm gefiel das Gespräch. „Wenn ihr es wissen möchtet, mein Herr“, meinte der Junge daraufhin gutgläubig und lächelte.
Shar setzte sich wieder auf seinen Stuhl und sprach mit seinem Gegenüber noch über eine Stunde lang. Dabei ließ er erneut die Tatsache aus, wer sein Vater war und dass dieser ihm schon oft von Eryndlyn Geschichten erzählte hatte.
Tarlyn Myt’tarlyl hörte aufmerksam zu und versank dabei in eigene Gedanken und Erinnerungen.
Er beobachtete dabei eingehend den jungen Halbdrow. Er, der immer so stolze Hohepriester des Hauses Myt’tarlyl, ein starker und gläubiger Anhänger Vhaerauns hatte plötzlich unverhofftes Interesse an dem Leben des fremden Sklaven. So etwas war ihm noch niemals zuvor passiert. Eilig versuchte er sich wieder zu konzentrieren und dem Jungen zu zuhören. Dabei machte er eine sehr merkwürdige Entdeckung. Tarlyn ertappte sich, als er an seine verstorbene Tochter Chalithra dachte und sagte sich, dass der junge Halbdrow ein wenig seiner Ältesten glich. Die Gesichtszüge ähnelten sich und dazu die tiefblauen Augen, die dem einstigen Ehemann seiner Tochter sehr ähnlich waren. Alles in allem wirkte es fast so, als hätte er seine Tochter vor sich.
Du könntest mein Enkelsohn sein, mein verlorenes Kind, kam Tarlyn in den Sinn. Anschließend übermannten ihn die Erinnerungen an den schmachvollen Tod von Chalithra. Wieso habe ich damals der Heirat zwischen Chalithra und Handir erst zugestimmt? Aus welchem Grund musste sie sterben und warum hat Handir die Flucht ergriffen? Darauf habe ich schon so viele Jahre keine Antwort und nicht einmal Vhaeraun selbst konnte mir meine Fragen beantworten. All dies ging dem Vaterpatron soeben durch den Kopf. Dabei stahl sich ein trauriges Lächeln über das Gesicht des Hohepriesters.
Seine Gedanken schweiften weiter ab und schon hörte er die Stimme von Shar nicht mehr.
Was wäre eigentlich, wenn ich dich für immer bei mir behalte und so tun würde, als wärst du mein Enkel? Tarlyn überlegte und fand diesen Gedanken im ersten Moment wirklich für vorstellbar. Doch dann wurde er sich bewusst, er gehörte bereits Jemandem. Dieser Jemand war niemand anderer wie Nhaundar Xarann, den der Junge Halbdrow als sein Herr bezeichnete. Wenn es jedoch nicht so wäre, was konnte er mit dem Jungen anstellen. In ihrem vorangegangen Gespräch wirkte der junge Halbdrow ganz so, als wäre er nicht er selbst. Nein, dass waren die falschen Worte. Er sprach offen und ehrlich, etwas dass unter Drow nicht auf der Tagesordnung stand und des Weiteren war er einfach ein Kind. Was war dem Sklaven nur passiert, dass er so leichtgläubig und zurückgeblieben zu sein schien. Etwas Schlimmes stellte sich Tarlyn vor, ein Ereignis, dass die Entwicklung ins Gegenteil verwandelte und vielleicht lag es ja mit dem Vater zusammen. Bei ihrem Treffen im Tempel fragte der Junge nach diesem. Womöglich ein Dunkelelf, wie es sehr oft der Fall war. Drow vergewaltigten Oberflächenelfen und fühlten sich als die Stärksten. Vielleicht hatte der junge Halbdrow einst eine starke Bindung an die Mutter gehabt und er musste mit ansehen wie diese auf grausame Art starb. So ein Erlebnis wäre für ein Kind ein Trauma und vielleicht wurde er so stark an den Vater gebunden, dass er nicht anders handeln konnte. Das könnte womöglich der Grund sein. Vielleicht war sogar dieser Nhaundar Xarann der Vater von Shar. Dann kehrten Tarlayns Gedanken erneut an den Punkt zurück, wo er sich fragte, ob er den Jungen bei sich im Haus aufnehmen könnte. Womöglich eine Überlegung wert, selbst einen überteuerten Preis könnte er zahlen, aber was dann mit ihm tun. Ihn zum Krieger ausbilden lassen? Nein, das schien nicht Richtig zu sein. Er wirkte so schwach. Dann eventuell eine Laufbahn als Magier? Auch diese Möglichkeit machte ihm nicht gerade Hoffnung. Zauberer begannen früh mit der Ausbildung, brachten ein helles Köpfchen und noch viel mehr Talent mit. All dies konnte er an Shar nicht entdeckten. Vielleicht als Kleriker? Die Grundzüge des Glaubens an Vhaeraun kannte der junge Halbdrow bereits. Aber auch diesen Gedanken verwarf er augenblicklich wieder. Wenn der fremde Junge doch nur sein Enkel wäre, seufzte Tarlyn. Es wäre wohl das Beste für alle, wenn jeder dort bliebe, wo sein Platz war. Der Junge kannte nichts anderes. Er war und blieb ein Leben lang ein Sklave. Shar hatte immerhin diesen fremden Priester, der sich Sorn nannte. Sollte dieser sich um das Kind kümmern und nichts würde verändert werden. Wenn der Junge Glück hatte, dann stirbt er eines Tages schnell und ohne große Schmerzen, sagte sich Tarlyn. Im Reich des Maskierten Fürsten konnte er vielleicht von neuem beginnen, wenn er bis dahin einen festen Glauben fand. Dieser Sorn würde höchstwahrscheinlich diese Aufgabe übernehmen. Nach diesen Gedanken konnte Tarlyn sich endlich wieder ungestört und voller Faszination den Worten von Shar lauschen. Alles würde beim Alten bleiben.
Ein plötzlicher Schrei riss den Hohepriester plötzlich aus der Konzentration und Tarlyn setzte sich erschrocken auf. Der junge Halbdrow zuckte vor ihm zusammen und blickte ängstlich zu dem Vaterpatron.
Eilig wand sich Tarlyn aus dem gepolsterten Stuhl, zog sich seine Robe zu Recht. Zum Schluss kam sein Heiliges Symbol, dass er instinktiv fest umklammerte.
„Bleib hier, mein Junge. Verhalte dich ruhig. Ich werde nachsehen was dieser Schrei zu bedeuten hat“, gab der Drow dem Jungen den Befehl und sah wehleidig hinüber. Viel zu gerne hätte er sich weiter an Shars Erzählungen ergötzt, doch mit der Ruhe schien es vorbei zu sein. Erneut erklang eine laute, aufgebrachte Stimme und der Hohepriester schritt zügig zu der Tür seiner Privatgemächer hinüber. Er schlüpfte hinaus und vor ihm stand sein Freund und Verbündeter Sabrar.
Sabrar war mit seinen 550 Jahren der treuste Diener und Berater, den sich Tarlyn vorstellen konnte. Sie kannten sich bereits aus frühster Jungend, als noch der Vaterpatron des Hohepriesters über das Haus Myt’tarlyl herrschte und Sabrar war auch dabei, als Tarlyn der neue Herr und Führer des damaligen zweiten Hauses der Stadt Eryndlyn wurde. Privat waren sie Freunde, wenn man bei Dunkelelfen von solch einer Verbindung sprechen kann und in der Öffentlichkeit gaben sich beide als das, was ihre Stellung ihnen vorschrieb, Berater und Herr. Sabrar trug eine schwarze Lederrüstung und darüber prangte eine rote, aus Samt bestehende Robe, die vorne offen stand. Darunter lugten ein Langschwert, wie auch ein Dolch an seinem Waffengürtel hervor. Er war ein guter Kämpfer, aber in aller erster Linie blieb er der Ratgeber von Tarlyn. Doch im Kampf hatte er sich schon immer bewährt. Sein Haar trug er offen, aber recht kurz geschnitten und so fielen ihm die Strähnen gerade mal bis über die Schulter. Mit rot glühenden Augen stand er nun vor Tarlyn und sprach hastig. „Du wirst gebraucht, Tarlyn. Ein Drow macht einen Aufstand. Er kam aus den Gemächern von Iymril und verlangt seinen Sklaven zurück. Dieser Drow schimpft wie ein Ork und bezichtigt das ganze Haus des Verrates.“
Tarlyn brachte auf diese Worte hin nur ein Lächeln zustande. „Wenn er der Meinung ist, dann soll es so sein. Aber ich besitze wohl des Rätsels Lösung, vermute ich. Dieser Dunkelelf heißt nicht zufällig Nhaundar Xarann?“
„Doch, woher weißt du das?“, fragte Sabrar verwirrt.
„Weil mir sein Sklave im Tempel an den Hals gesprungen ist“, lachte Tarlyn laut auf und erkannte dabei den verdutzten Blick seines Freundes.
„Deine Anwesenheit wird von Nöten sein, um diesen aufgebrachten Idioten zu besänftigen, Tarlyn. Falls es dich interessiert, er war den ganzen Tag über bei deiner Tochter Iymril.“
Diese Nachricht versetzte dem Hohepriester einen Schlag ins Gesicht. Diese Neuigkeit war erschreckend und verwirrend zugleich. Seine Tochter war in letzter Zeit sowieso seltsam und zurückgezogen und wenn er den Worten des jungen Shar glauben schenken sollte - und das tat er tatsächlich - was hatte Iymril mit einem Sklavenhändler aus Menzoberranzan zutun? Eilig machte er sich auf den Weg von seinen Privatgemächern, den Gang entlang zu dem aufgebrachten Nhaundar. Dicht gefolgt von Sabrar, in dessen Gesicht immer noch der Unglaube von Tarlyns Worte zu erkennen war.
Schatten
Tarlyn Myt’tarlyl, der Hohepriester aus dem gleichnamigen Haus erschrak und hielt in jenem Moment, als ihn jemand ansprang, den Atmen an. Sein Herz raste mit einem Mal wild in seiner Brust und wäre auch beinahe stehen geblieben, doch er konnte sich fassen. Aber der Schreck saß tief. Instinktiv schlangen seine Arme sich um den fremden Körper, der an seinem Hals hing und ihn innig festhielt. Tarlyn wollte die Person von sich stoßen und hielt für einige Sekunde inne, als er eine aufgeregte Stimme vernahm. Sie plapperte begeistert in der Sprache der Drow. „Vater, Vater! Hier bin ich!“
Unter dem schwarzen Schleier, den Tarlyn trug, erkannte er in jenem Moment nur, dass sich die Person auf ihn gestürzt hatte und spürte weiterhin die feste Umklammerung. Doch kaum hatte sich der erste Schock gelegt, merkte er, wie er durch die fremde Last langsam ins trudeln geriet. Der Hohepriester verlor plötzlich das Gleichgewicht und versuchte seinen Sturz abzufangen. Aufgeregt und wild ruderte er mit den Armen in der Luft und dann fiel er geradewegs nach hinten auf den harten Boden. Der Schmerz des Aufpralls jagte augenblicklich durch seinen ganzen Körper.
„Was ist nur passiert, mein Maskierter Fürst?“, rief er stumm zu Vhaeraun. Dann spürte er wieder die fremde Person, die mit ihm zusammen umgefallen war und dessen Hände und Arme ihn immer noch fest umklammerten. Eilig versuchte er den Griff des anderen zu lösen, was ihm mit Leichtigkeit gelang. Denn auch der Fremde schien durch den Fall kurzzeitig irritiert zu sein. Er stieß die Person zur Seite, die darauf unsanft auf dem Boden aufkam und raffte sich schnell auf. Nachdem Tarlyn stand ignorierte er die Schmerzen und wollte gerade nach seinem Dolch im Stiefel greifen, um sich dem unerwarteten Gegner Mann gegen Mann entgegen stellen. Da drang ein klirrendes Geräusch einer Eisenkette und wieder die Stimme an sein Ohr. Diesmal sagte sie lediglich weinerlich. „Aua.“
Der Hohepriester runzelte die Stirn während sich seine bernsteinfarbenen Augen zu schmalen Schlitzen verengten. „Wer seit ihr?“, fragte er und richtete seinen Blick auf den angeblichen Angreifer. Doch was er sah, ließ seine Wut über diesen Angriff verpuffen und selbst den Dolch zog er nicht mehr hervor. Er erkannte vor sich auf dem Boden einen Halbdrow sitzen. Dieser besaß sehr helle Haut und weiße lange Haare, die ihm ins Gesicht fielen. Dazu trug das Halbblut nicht viel am Leib, wie Tarlyn bemerkte. Eine Art Hose aus schwarzem Leder, die gerade mal das nötigste bedeckte, dazu schwarzer Seidenstoff an den Beinen. Die Füße waren nackt und am Oberkörper prangten überall goldene Ketten unter denen eine Schlangentätowierung an Brust und beiden Oberarmen hervor lugten. Dazu gesellte sich ein eisernes Halsband und obendrein eine passende Kette, die das klirrende Geräusch verursacht hatte.
„Wer bist du?“, fragte Tarlyn verwirrt und verzichtete diesmal auf die Höflichkeitsform, denn das Halsband verriet ihm augenblicklich, dass es sich um einen Sklaven handelte, doch keinen den er kannte. Es folgte jedoch keine Antwort, stattdessen hörte er etwas, dass einem Weinen gleichkam.
Wieder runzelte der Hohepriester die Stirn. Er fragte sich, was dies zu bedeuten hatte. Ärgerlich über diesen Zwischenfall, den er so schnell wie möglich erledigt wissen wollte, beugte er sich nach unten und strich dem Halbdrow eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht, um diesen besser sehen zu können. Denn Gefahr konnte er hier nicht erkennen. Dann stockte Tarlyn und die Wut wisch der völligen Verwirrung. Er musste feststellen, dass der Halbdrow noch jung war. Der Hohepriester schätze den Jungen auf nicht mehr als fünfzig Jahre, was er spontan nicht wirklich einzuschätzen wusste und lag damit nicht einmal falsch.
Shar wurde am heutigen Tag, dem 19. Eleint 1324 TZ, 49 Jahre alt.
Tränen rannen dem jungen Halbdrow über die Wangen und dann trafen sich plötzlich ihrer beider Blicke.
Tiefblauen Augen blickten hinauf und sahen dort bernsteinfarbene Augen hinter einem schwarzen Seidenschleier versteckt. Sie glühten, jedoch nicht unheilsvoll, sondern neugierig. Das war nicht Handir, wie Shar schmerzlich feststellte und bei dieser Erkenntnis liefen die Tränen ungehemmt weiter. Vor ihm stand ein Drow, allerdings ein wirklich sehr gut gekleideter und hübscher noch dazu. Dann kam dem Jungen die Erleuchtung, dass es sich um den Dunkelelfen im Gang handelte. Der Gleiche, der andächtig an ihm vorbei ging, genau dort, wo er nur kurz danach Handir gesehen hatte. Dieser Gedanke drohte Shar zu übermannen und er wusste, dass sein Vater nicht wie versprochen zu ihm zurückgekommen war.
„Hör’ auf zu weinen, es ist ja nichts passiert“, begann Tarlyn leise auf den wimmernden Jungen einzureden und hätte beinahe lachen müssen, als er sich über den Sinn seines Satzes klar wurde. Natürlich war etwas passiert, aber zum Glück für beide schien der überraschte Angriff und der darauf folgende Sturz keine Auswirkungen gehabt zu haben, zumindest nicht auf ihn, wenn er seinen augenblicklich schmerzenden Körper außer Acht ließ. Des Weiteren ging von dem jungen Halbdrow keine Gefahr aus. Aber die Neugier nagte nun an dem Vaterpatron und Hohepriester des Hauses Myt’tarlyl.
„Du musst nicht weinen. Stehe auf, ich helfe dir“, meinte Tarlyn freundlich und streckte sogar dem Jungen eine helfende Hand entgegen. Das „Wie“ und „Warum“ dieser unbedarften Geste konnte er sich selbst nicht erklären, er tat es einfach.
Shar musterte die Hand mit einer Mischung aus Angst und Verzweiflung, sowie aus Neugier und Dankbarkeit. So hielt er tatsächlich in seinem Weinen inne und hob leicht den Kopf. Vor sich erkannte er wieder das verschleierte Gesicht, das sich zu ihm vor beugte, doch dahinter verbarg sich kein fürchterliches Monster, wie all die Männer, die Nhaundar immer auf ihn hetzte. Der Dunkelelf schien seine Aufforderung ernst zu meinen und die Hilfe ähnelte dem freundlichen Wesen von Sorn und Zaknafein. Dann kam Shar in den Sinn, dass auch dieser Drow hier das gleiche Symbol wie sein Liebster trug. Und tatsächlich, auf der Brust baumelte immer noch die goldene Halbmaske und der Junge wusste, dass jeder, der so etwas um den Hals hängen hatte, ihm noch niemals etwas zu leide getan hatte. Er vertraute dem Fremden einfach, auch wenn es sich in jenem Moment nicht um Handir handelte. So griff er nach der helfenden Hand und Shar zog sich auf die Beine. Augenblicklich konnte er die aufkommende Neugier nicht mehr verbergen und blinzelte aus den Augenwinkeln den fremden Drow an.
„Wie heißt du?“, fragte Tarlyn, denn auch seine Wissbegier schien auf seltsame Art und Weise geweckt worden zu sein und vergessen schien sogar das Gebet, in dem er noch vor wenigen Momenten so vertieft gewesen war.
„Shar, mein Herr“, kam die leise Antwort.
Ein schöner Name, dachte der Hohepriester und überlegte, wie der Junge überhaupt erst in den Tempel und vor allem wie er in dieses Haus gekommen war. Ein Sklave vom Haus Myt’tarlyl war er nicht. Besonders nicht, weil es sich nach der Kleidung des jungen Halbdrow um einen Liebessklaven handeln könnte, das verriet Tarlyn dessen Aufmachung.
„Wie bist du in mein Haus gekommen?“, wollte Tarlyn weiter wissen und seine Stimme klang sehr interessiert.
Shar schluckte und wusste ja selbst keine richtige Antwort auf diese Frage. Dann verspürte er eine Vertrautheit, die er immer dann empfand, wenn er mit Sorn oder Zaknafein sprach. So hob er den Kopf, strich sich instinktiv die langen Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte mit seinen tiefblauen Augen zu dem Drow. Eine Hand wanderte plötzlich nach oben und er zog das schwarze Seidentuch von dem Kopf des Fremden. Darunter lugten die glänzenden bernsteinfarbenen Augen und ein überraschter Gesichtsausdruck hervor.
„Du bist nicht mein Vater“, wisperte Shar und wurde wieder traurig, da er insgeheim doch gehofft hatte, dass Handir hinter dem Schleier versteckt gewesen sein könnte, um ihm einen Streich zuspielen.
Tarlyn war so verwirrt, dass er sogar vergaß, dass er hätte wütend werden sollen, bei solch einem ungebührlichen Verhalten eines Sklaven. Doch er konnte es nicht, denn die Neugier war größer. Der junge Halbdrow zog ihn in seinen Bann und es schien etwas an ihm zu sein, dass er kannte. Aber er wusste nicht, was. Es war fast schon so, als würde er seinen Sohn vor sich sehen oder gar seinen Enkeln. Aber Kalanzar, der älteste Sohn des Hauses Myt’tarlyl, Waffenmeister des Hohepriesters, besaß lediglich zwei Töchter. Seine verstorbene Tochter Chalithra hatte zwar ein Kind, doch der Vater Handir war schon vor Jahren mit dem Säugling verschwunden, gleich nachdem er seine Frau ermordet hatte. Der Vaterpatron wusste bis zum heutigen Tag nicht einmal, ob sein Enkelkind weiblich oder männlich war und ob es denn überhaupt noch lebte. Die einzig verbliebene Tochter Iymril hatte keine Kinder.
„Oh mein Maskierter Fürst, was ist es, was ich tief in mir fühle? Ich sehe etwas und sehe es doch nicht!“, flehte Tarlyn stumm zu Vhaeraun, während er seinen Blick nicht von dem jungen Halbdrow lassen konnte. Die Antwort blieb allerdings aus.
„Kommt mein Vater zu mir, mein Herr?“, riss die Stimme von Shar den Hohepriester aus seinen Gedanken und erntete daraufhin einen noch unverständlicheren Gesichtsausdruck des fremden Dunkelelfen.
„Ich glaube kaum“, antwortete Tarlyn lapidar und war noch viel zu tief mit seinen Gedanken beschäftigt anstatt zu fragen, wer denn der Vater des Jungen sein sollte. Hätte er es getan, dann wäre die Überraschung über das eben Geschehene noch größer gewesen.
„Ihr tragt das gleiche Symbol wie Sorn, Herr“, meinte Shar auf einmal, als der andere nichts weiter sagte und wurde sich im gleichen Moment bewusst, dass er den Namen seines Liebsten niemand anderem, außer gegenüber Zaknafein erwähnen durfte. Erschrocken über seine unbedarften Worte biss er sich auf die Lippen und schlug sich sogleich mit den Händen darauf, damit er nichts mehr sagen konnte.
Dadurch wurde jedoch Tarlyn endgültig aus den eigenen Gedanken gerissen und er musterte den jungen Halbdrow vor sich. Was hatte er eben gehört, jemand namens Sorn trug ebenfalls das Heilige Symbol von Vhaeraun. Bei dieser Erkenntnis huschte ein freundliches Lächeln über die Gesichtszüge des Hohepriesters und es freute ihn, dass der fremde Junge einen Vhaeraunpriester kannte. Gleichzeitig amüsierte ihn der Junge, der so unverhofft in sein Leben getreten war. Vielleicht ein Zeichen des Maskierten Fürsten, sagte er zu sich selbst und kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende geführt, spürte er die Antwort in seinem Herzen. Doch er verstand sie nicht. Aber eines schien ihm sicher, dieser Halbdrow stellte keine Gefahr dar, sondern glich einem kleinen heranwachsenden Kind, das sich vermutlich verlaufen hatte. Er wollte mehr erfahren und vor allem wer der Herr dieses Sklaven war. So entschied sich Tarlyn dafür, dass er den Jungen mit in seine Privatgemächer nehmen wollte, wo auch er sich frei und ungezwungen geben konnte und vor allem ihn niemand störte.
„Diesen Sorn kenne ich nicht, aber er scheint ein Priester unseres Gottes zu sein“, gab Tarlyn zu verstehen und schmunzelte leicht.
Diese Antwort beruhigte Shar und in seiner Naivität überkam ihn das unbestreitbare Gefühl, dass er doch nichts verraten hatte, denn die Worte weckten eine gewisse Vertrautheit mit Sorn. Sogar die Ähnlichkeit der Worte und das ruhige Sprechen nahmen Shar die Angst und so antwortete er leise. „Er ist Priester und er hat meine Wunden verschwinden lassen und mir die Schmerzen genommen. Er betet auch viel, immer nachts und ich habe schon zugeschaut und auch gebetet.“
„Er scheint in der Gunst unseres Gottes, dem Maskierten Fürsten, wirklich hoch zu stehen, wenn er es vermag dich zu heilen“, lächelte Tarlyn, freute sich über diese positive Antwort und wartete ab, was der junge Halbdrow antworten würde. Er wollte versuchen den Jungen zu locken und wenn er dessen Vertrauen besaß, vielleicht erfuhr er dann sogar noch mehr über ihn, seine Herkunft, dessen Herrn und mit Glück mehr über diesen Sorn.
„Ja, ja, ja“, bestätigte Shar eifrig und wirkte erfreut, dass er mit seiner Vermutung richtig lag und dieser ganz wie Sorn zu sein schien. Die Furcht wich aus seinem Körper und nun war auch der Junge neugierig geworden. Vielleicht konnte er dann auch seinem Liebsten viel über dieses Gespräch berichten, wenn er zusammen mit Nhaundar wieder Zuhause war. „Aber ihr müsst wissen, dass Sorn ihn immer anders nennt. Sorn sagt immer zu ihm Vhaeraun, wenn er mir von ihm erzählt. Maskierter Fürst sagt er nie, aber dafür trägt er so ein hübsches Symbol wie ihr, Herr.“
Nach dieser Antwort konnte Tarlyn nicht anders und musste laut lachen. Der junge Halbdrow war so jung, so naiv und gleichzeitig ein spitzfindiges Kind dazu. Des Weiteren ein wirklich hübsches Kerlchen, wenn auch ein wenig zu schlank. Insgeheim war der Hohepriester auf den unbekannten Sorn neidisch, denn er spürte, dass die Seele des Jungen unschuldig, voller Wissensdrang und Glaube war. Einfach jemand, der es verdiente einen Vhaeraunpriester an seiner Seite zu wissen, der ihn leitet und unterstützt.
„Da stimme ich dir zu, mein Junge. Der Maskierte Fürst ist Vhaeraun. Er ist der Herr der Schatten und der Nacht. Aber wisse, dass man ihn so als auch so nennen kann. Doch ein anderes Anliegen ist mir jetzt wichtiger. Möchtest du dich mit mir weiter unterhalten und vielleicht hast du ja auch Hunger? Wir könnten in meine Privatgemächer gehen und uns lange und intensiv unterhalten. Du kannst etwas essen und mir alles erzählen was du möchtest. Auch über unseren Herrn, der über uns Gläubige wacht“, versuchte Tarlyn den jungen Halbdrow zu ködern und musste weiter lächeln. Seine Worte und seine Gesichtszüge waren sanft, entspannt und ehrlich.
Shar hörte die Worte und fühlte sich immer mehr an Sorn erinnert. Er nickte und die Aussicht auf Essen erfreute ihn mehr, als ein Gespräch mit dem fremden Drow, dessen Namen er noch nicht kannte. Während er den Dunkelelfen mit großen Augen anschaute, fragte er sich, ob er nach dessen Namen fragen konnte und biss sich nervös auf die Lippen.
Tarlyn sah dessen Verhalten. „Was hast du? Hast du keinen Hunger?“
„Doch … ich … ich würde … „ begann Shar zu stammeln und dann platzten ihm die Worte einfach so heraus ohne daran zu denken, dass seine Haltung nicht der eines Sklaven entsprach. „Ich kenne euren Namen aber nicht, mein Herr.“
Der Hohepriester war jedoch nicht wütend darüber, sondern lächelte weiterhin. Irgendwie fand er Gefallen an dem unbedarften und gutgläubigen Charakter des Jungen. Immerhin befand er sich in seinem eigenen Haus und vor ihm stand ein junger Halbdrow der nicht wusste, wo er eigentlich zu sein schien. Aber es sprach nichts dagegen, dass er nicht seinen Namen nennen sollte.
„Ich heiße Tarlyn, Tarlyn Myt’tarlyl und ich bin der Vaterpatron und Hohepriester des ersten Hauses Myt’tarlyl von Eryndlyn, mein Junge.“
Shar musste daraufhin schmunzeln und verstand lediglich eines, dass der Drow vor ihm Tarlyn hieß und dieser ein Priester und gläubiger Mann wie Sorn war. Alles andere interessierte ihn wenig.
Ohne weitere Ausführungen streckte nun Tarlyn dem Jungen seine Hand erneut entgegen und zeigte so an, dass dieser ihm begleiten und führen wollte. Dann ergriff der Dunkelelf die Hand des Halbdrow, wie ein Vater die Hand seines Sohnes. Keiner von beiden machte sich über ihre Stellung Gedanken und so schritten sie aus dem Tempel, durch viele Gänge und einige Treppen durch das Haus und kamen nur wenig später in Tarlyns Privatgemächern an.
Der Hohepriester rief eilig nach einem Bediensten, der sollte beiden ein großes Tablett mit Essen bringen und gab dem Diener gleichzeitig die Anweisung, er solle keinem Auskunft über seinen Gast weitergeben, falls sich jemand meldete, der reinzufällig einen jungen Halbdrowsklaven vermisste. Zuerst wollte Tarlyn seine eigene Neugier in aller Ruhe stillen.
Während beide auf das Essen warteten wies der Hohepriester den Jungen einen Platz an einem großen Tisch aus Mahagoniholz zu. Dieser war mit seltsamen Schnitzereien und kostbaren Verziehrungen aus Silber verfeinert, die den Tisch glänzen ließen. Einen kurzen Moment zögerte Shar. Doch die Ähnlichkeit die zwischen dem Fremden und Sorn bestand überzeugten den jungen Halbdrow letztendlich und er nahm auf einem weichen, mit rotem Samt überzogenen Stuhl Platz und fühlte sich wie ein König auf einem Thron. Ein Lächeln huschte über das junge Gesicht und er spürte, dass er hier nicht mehr so schnell wegwollte. Vergessen war Nhaundar und auch die Erinnerung an eine Strafe, wenn dieser herausfinden sollte, dass sein liebster Schatz einfach verschwunden war. Für Shar zählte in diesem Moment nur Tarlyn, der sich gleichzeitig in den Bann des Jungen gezogen fühlte. Nach wenigen Minuten kehrte der Diener mit einem vollen Tablett zurück. Dieser drapierte das Essen sorgfältig auf dem Tisch, an denen beide Platz genommen hatten und verschwand lautlos.
„Greif’ zu und iss, mein Junge“, meinte Tarlyn höflich und unterstrich die Einladung mit einer Handgeste.
Shar blickte mit großen, tiefblauen Augen auf und erkannte in dem Drow keine hinterlistigen Gedanken. Eilig hob er eine Hand und griff sich alles, was er fassen konnte. Gutes Essen war immerhin selten und meistens bekam der Junge auch nur etwas köstliches, wenn er von Sorn und Zaknafein etwas angeboten bekam. Er stopfte sich frisch gebackenes Brot, Fleisch und auch Pilze in den Mund und achtete überhaupt nicht mehr auf den Dunkelelfen.
Tarlyn schaute von der gegenüberliegenden Seite aus zu und amüsierte sich über die nicht vorhandenen Tischmanieren und über den guten Hunger, den der junge Halbdrow an den Tag legte. Er selbst nippte gelegentlich an einem Tropfen Elfenwein von der Oberfläche.
Der Junge scheint nicht oft so etwas gut zubereitetes zu bekommen, kam dem Hohepriester der Gedanke und beschloss erst einmal abzuwarten, bis der Sklave zu Ende gegessen hatte. Dabei beobachtete er ihn mit unverhohlenem Interesse.
Shar verschlang fast alles und verspeiste gerade den letzten Rest des Rothèfleisches, da fiel ihm ein rotes Etwas auf, das er auch schon des Öfteren bei seinem Herrn gesehen hatte. Es handelte sich um einen roten Apfel, der mit weiterem Obst in einer Schale lag, welches meistens nur die wohlbetuchten Drow im Unterreich sich leisteten.
Tarlyn erkannte den Blick des jungen Halbdrow und er empfand es lustig zu sehen, wie dieser mit unverkennbarer Neugier auf das Obst starrte. Dabei kam dem Vaterpatron ein weiterer Gedanke, einer, wo er das Gespräch weiter führen wollte. Denn der Junge schien nicht einmal zu wissen, was er da erspähte. Durch geschicktes Fragen und bei der jugendlichen Naivität müsste es einfach sein, ihm auf freundliche Weise alles Wissenswertes zu entlocken. Des Weiteren fragte sich Tarlyn immer mehr, wer denn der Herr des ihm zugelaufenen Halbelfen war und das dieser nicht viel von Ernährung verstand. Denn obwohl Shar sehr hübsch und äußerst attraktiv anzuschauen war, nicht zu vergessen die aufreizende Kleidung die er trug, war er sehr dünn. Er besaß äußerlich keine ausgeprägten Muskeln. Wenn er mehr zu Essen bekommen würde, dann wäre er wirklich einer der schönsten Jungen, die der Vaterpatron je zu Gesicht bekommen hatte. Dann bemerkte Tarlyn beim Mustern, dass der junge Halbdrow immer noch das Obst beäugte.
„Das ist Obst von der Oberfläche. Möchtest du das auch essen?“, fragte der Hohepriester freundlich und beobachtete das Verhalten des Jungen genau.
Shar nickte, schluckte den letzten Rest des Fleisches hinunter und sein Blick blieb starr auf dem roten Apfel haften.
„Das ist ein Apfel. Greif’ zu und lass’ es dir schmecken“, meinte Tarlyn und unterstützte die Erklärung, indem er den Apfel ergriff und ihn Shar in die Hand legte.
„Wie isst man den? Ich habe schon so etwas bei meinem Herrn gesehen, aber nicht, wenn er es isst“, fragte der Junge leise, weil er sich über seine Dummheit schämte.
Tarlyn Myt’tarlyl bemerkte es augenblicklich, musste darüber schmunzeln und gab die Anweisung, er solle einfach zubeißen und es sich schmecken lassen.
Dies ließ sich Shar nicht ein zweites Mal sagen und schon im nächsten Moment kostete er von dem aller ersten Apfel seines Lebens. Er schmeckte köstlich und süß und selbst das frische Brot von eben schien vergessen. Das hier war einfach das Beste.
„Wie mir scheint schmeckt es dir“, erklang die ruhige Stimme des Hohepriesters der daraufhin ein eifriges Kopfnicken seines Gegenübers erhielt.
Jetzt schien der geeignete Moment zu sein, um seine Befragung weiter zu führen. Der Junge war beruhigt und die Angst war auch völlig von ihm abgefallen. Wieder verspürte Tarlyn diese Vertrautheit und konnte sie sich nicht erklären.
„Wo kommst du denn eigentlich hier her? Wer ist denn dein Herr und wo wohnst du mit deinem Herrn?“, wollte der Vaterpatron des Hauses Myt’tarlyl wissen und sah Shar dabei direkt in die Augen.
„Menzoberranzan, mein Herr“, brachte der junge Halbdrow unter dem Kauen hervor und schluckte dann den letzten Bissen hinunter. „Mein Herr heißt Nhaundar, Nhaundar Xarann.“
Tarlyn runzelte die Stirn und fragte sich, wer dieser Drow denn sein sollte. Irgendwie kam ihm der Name bekannt vor oder auch nicht. Doch die Nennung des Heiligen Ortes der Spinnenhure Lolth ließ ihn verächtlich schnauben.
„Wieso bist du hier?“, wollte jetzt Tarlyn weiter wissen. „Menzoberranzan liegt viele hunderte Kilometer entfernt von hier.“
„Mein Herr …“, begann Shar zu erzählen, „… Nhaundar, hat mich auf seine Reise mitgenommen. Meine erste Reise in eine andere Stadt und wir haben in einem Gasthaus übernachtet und dann sind wir wieder gegangen und ….“ Dann stockte Shar einen Moment und überlegte, wie er weiter dem Fremden begreiflich machen sollte, wieso er überhaupt in diesem Haus war, was er ja selbst nicht richtig verstand.
Tarlyn dagegen war der Meinung, dass der Junge nichts mehr weiter sagen wollte, während er die Informationen zusammensetzte. Doch aufschlussreich waren sie nicht. Für den Vaterpatron wirkte die Situation so, als wäre der Junge weggelaufen. So unterbrach der Hohepriester den jungen Halbdrow mit einer weiteren Frage.
„Du warst auf der Suche nach deinem Vater und hast dich verlaufen und bist geradewegs im Tempel von Vhaeraun raus gekommen, stimmst? Dann hast du mich für deinen Vater gehalten“, meinte Tarlyn und wollte eigentlich damit nur behilflich sein.
Shar vergaß Nhaundar und erinnerte sich augenblicklich an die Erscheinung von Handir und wie dieser ihn zu dem freundlichen Drow, der ihm nun gegenübersaß und aufmerksam zuhörte, gebracht hatte und dann wieder verschwunden war. Die Worte entsprachen der Wahrheit und so nickte der Junge bejahend.
Im Verlauf des weiteren Gespräches erfuhr Tarlyn so manch einen Namen und dessen Tun und Handeln und selbst die geheimsten Geschäfte des Drow, der sich Nhaundar Xarann nannte. Doch mit diesen Informationen konnte Tarlyn nichts anfangen. Alle Personen, so entnahm er aus den Worten des jungen Halbdrow, waren in Menzoberranzan sesshaft und dies war nicht wirklich der Ort, den er besuchen wollte, schon gar nicht, um irgendwelche Machenschaften zu unterbinden oder sich selbst darin groß hervorzutun. Durchaus ein lukrativer Gedanke, denn die Quelle saß direkt vor ihm und erzählte und erklärte alles sehr eifrig, aber dennoch nichts für Tarlyn. Durch geschicktes Fragen wurde immer mehr offenbart und der Hohepriester fand es äußerst interessant. Bei dem Gedanken, dass dieser Nhaundar wohl niemals daran dachte, was für eine Gefahr dieser junge Sklave für ihn darstellte, eine recht amüsante Unterhaltung noch dazu. Wenn es den Hohepriester nun gelüstete, einen Aufstand oder andere etwaige Dinge anzuzetteln, dann würde er sich jetzt alles genau notieren und Pläne schmieden. Doch er begnügte sich vorerst einmal mit den Ausführungen von Shar. Alleine diese reichten ihm erst einmal aus, um sich einen Rundumblick zu verschaffen. Vielleicht fand er später für die Informationen Verwendung, denn die Berichte über zwei Waffenmeister weckten seine Neugier und aufmerksam hörte er zu.
So verstrich die Zeit wie im Flug und noch nicht einmal der junge Halbdrow bemerkte es. Dann führte die Unterhaltung zu Sorn, Shars Liebsten. Durch die ungewohnte Vertrautheit dem fremden Dunkelelfen gegenüber, dessen Verbindung zu Sorns Gott und gleichzeitig die Ähnlichkeit zwischen Sorn Dalael und Tarlyn Myt’tarlyl, erzählte nun Shar auch mehr von ihm. Er berichtete von den Heilungen, wie späterhin die beiden sich gut verstanden und raffinierte Spiele spielten und sich beide dann letzten Endes immer näher kamen. Was Shar jedoch nie erwähnte war Handir.
So, wie sich die Situation zwischen dem jungen Sklaven und dem jungen Priester sich für Tarlyn anhörten, schien der Kleriker mit allen Wassern gewaschen zu sein. Wenn der Vhaeraunpriester in Menzoberranzan überlebt und selbst einen Sklavenhändler so geschickt an der Nase herum führen kann, dann scheint er sehr viel Talent zu besitzen, dachte Tarlyn. Dabei huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Des Weiteren war der Hohepriester sehr an der Tatsache interessiert, dass es sich um Sorn und einem Drow namens Nalfein, es sich um Zwillingsbrüder handelte. Er erinnerte sich einst an seinen jüngeren Bruder, der vor über einem Jahrhundert durch einen hinterhältigen Verrat aus den eigenen Reihen seiner Familie das eigene Leben verlor und das ganze Haus ausgelöscht wurde. Er hatte einst auch Zwillinge gehabt.
Shar kam gerade zum letzten Teil seiner Ausführungen und meinte, „… und dann haben Sorn und ich manchmal viel Spaß.“ Der Junge griff zu seinem Becher Wasser um die Kehle zu befeuchten. So viel und so lange hatte er schon lange nicht mehr geredet und nahm bei seinen Erzählungen den gefüllten Becher des älteren Dunkelelfen gerne an. Gerade nahm er den letzten Schluck, während der Hohepriester auf die Worte hin die Stirn runzelte.
„Spaß? Welch’ ein Spaß habt ihr beiden denn?“, fragte der Vaterpatron des Hauses Myt’tarlyl verwirrt, denn darunter konnte man sich eine Menge bis gar nichts vorstellen.
Shar sah verdutzt aus. Er verstand nicht, wieso so ein Drow wie Tarlyn so etwas nicht wusste und wiederholte einfach seine Worte von eben.
Erneut schien der ältere Dunkelelf überrascht und wusste nicht, was der Junge damit meinte. Denn bis jetzt kannte er von Sorn nur, dass er dem Halbdrow behilflich zur Seite stand ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
„Freude, die auch mir gefällt“, ertönte Shars naive Antwort, der immer noch verdattert überlegte, wieso ein Drow nicht wusste, dass Mann und Mann im Bett auch viel Spaß haben konnte. Doch diese Worte sprach der Junge nicht aus, sondern er musterte Tarlyn lediglich mit seinen großen tiefblauen Augen.
Der Hohepriester nickte, meinte aber gleich darauf ganz unbedarft. „Shar, kannst du mir vielleicht zeigen was du meinst? Ich habe es nicht verstanden.“
Jetzt war es an Shar der mit dem Kopf nickte und keinerlei Berührungsängste gegenüber dem Dunkelelfen ihm gegenüber hegte. Der junge Halbdrow hüpfte von dem bequemen Sessel, tappte um den Tisch herum und blieb vor einem verwirrten Vaterpatron stehen.
Ehe sich Tarlyn versah war der Junge nach vorne gegangen, drückte dem Dunkelelfen einen Kuss mit geschlossenen Lippen auf den Mund, zog sich zurück und lächelte. Bevor er es noch vergaß nahm Shar darauf schnell einen Finger und tippte mit diesem auf den Bauch des Drow. „Das ist Spaß. Sorn sagt, dass wir uns lieben“, erklärte er noch hinter her und sein Schmunzeln wurde breiter.
Tarlyn schien im selben Moment mehr als überrascht, jedoch nicht böse. In keinem Fall wütend, sondern völlig überrumpelt. Er brauchte einige Sekunden um sich zu fassen, als er kurz darauf sogar den Finger fühlte, der ihn im Bauch kitzelte. Nun wusste er, was mit der Freude gemeint war und wenn er darüber nachdachte, wie naiv der junge Halbdrow war, kein Wunder über diese seltsame Erklärung. Gleichzeitig wurde sich Tarlyn bewusst, dass sexuelle Befriedigung für andere darzustellen nicht das Gleiche für Shar war, wie sich jemandem mit Glückseeligkeit und aus freien Stücken hinzugeben. Der Geschlechtsakt war das, was der Junge tagtäglich beschäftigte ohne jedwede Gefühle oder anderweitigen Empfindungen in Betracht zu ziehen, abgesehen von Schmerzen, wie er aus den Worten und Gesichtsmimik des jungen Halbdrow aus dessen Erzählungen entnahm.
Tarlyns eigene Liebschaften, ob Frau oder Mann, taten alles aus freien Stücken. Aber während er sich dessen bewusst wurde, spürte der Vaterpatron etwas, dass ihn erschrocken innehalten ließ. Er dachte einige Sekunden noch darüber nach und wusste, dass der junge Halbdrow schändlich missbraucht wurde. Innerlich verkrampfte er sich, während er äußerlich ein freundliches Lächeln aufsetzte.
Shar kicherte darüber und wusste nichts von den Gedanken des Hohepriesters. Er war überhaupt nicht verwirrt, sondern fragte daraufhin fröhlich. „Jetzt wisst ihr was Spaß ist, mein Herr?“
Tarlyn nickte lediglich als Antwort. Jetzt wollte er noch mehr wissen und dieser Junge sollte ihm alles freiwillig erzählen.
„Setzte dich doch wieder und erzähle mir mehr von deinem Zuhause, mein Junge“, fragte der Hohepriester freundlich und seine Neugier musste er nicht spielen, als seine Augen voller Wissbegier aufleuchteten.
Shar schien plötzlich ganz aufgekratzt zu sein. Er wusste nicht so recht wieso, aber ihm gefiel das Gespräch. „Wenn ihr es wissen möchtet, mein Herr“, meinte der Junge daraufhin gutgläubig und lächelte.
Shar setzte sich wieder auf seinen Stuhl und sprach mit seinem Gegenüber noch über eine Stunde lang. Dabei ließ er erneut die Tatsache aus, wer sein Vater war und dass dieser ihm schon oft von Eryndlyn Geschichten erzählte hatte.
Tarlyn Myt’tarlyl hörte aufmerksam zu und versank dabei in eigene Gedanken und Erinnerungen.
Er beobachtete dabei eingehend den jungen Halbdrow. Er, der immer so stolze Hohepriester des Hauses Myt’tarlyl, ein starker und gläubiger Anhänger Vhaerauns hatte plötzlich unverhofftes Interesse an dem Leben des fremden Sklaven. So etwas war ihm noch niemals zuvor passiert. Eilig versuchte er sich wieder zu konzentrieren und dem Jungen zu zuhören. Dabei machte er eine sehr merkwürdige Entdeckung. Tarlyn ertappte sich, als er an seine verstorbene Tochter Chalithra dachte und sagte sich, dass der junge Halbdrow ein wenig seiner Ältesten glich. Die Gesichtszüge ähnelten sich und dazu die tiefblauen Augen, die dem einstigen Ehemann seiner Tochter sehr ähnlich waren. Alles in allem wirkte es fast so, als hätte er seine Tochter vor sich.
Du könntest mein Enkelsohn sein, mein verlorenes Kind, kam Tarlyn in den Sinn. Anschließend übermannten ihn die Erinnerungen an den schmachvollen Tod von Chalithra. Wieso habe ich damals der Heirat zwischen Chalithra und Handir erst zugestimmt? Aus welchem Grund musste sie sterben und warum hat Handir die Flucht ergriffen? Darauf habe ich schon so viele Jahre keine Antwort und nicht einmal Vhaeraun selbst konnte mir meine Fragen beantworten. All dies ging dem Vaterpatron soeben durch den Kopf. Dabei stahl sich ein trauriges Lächeln über das Gesicht des Hohepriesters.
Seine Gedanken schweiften weiter ab und schon hörte er die Stimme von Shar nicht mehr.
Was wäre eigentlich, wenn ich dich für immer bei mir behalte und so tun würde, als wärst du mein Enkel? Tarlyn überlegte und fand diesen Gedanken im ersten Moment wirklich für vorstellbar. Doch dann wurde er sich bewusst, er gehörte bereits Jemandem. Dieser Jemand war niemand anderer wie Nhaundar Xarann, den der Junge Halbdrow als sein Herr bezeichnete. Wenn es jedoch nicht so wäre, was konnte er mit dem Jungen anstellen. In ihrem vorangegangen Gespräch wirkte der junge Halbdrow ganz so, als wäre er nicht er selbst. Nein, dass waren die falschen Worte. Er sprach offen und ehrlich, etwas dass unter Drow nicht auf der Tagesordnung stand und des Weiteren war er einfach ein Kind. Was war dem Sklaven nur passiert, dass er so leichtgläubig und zurückgeblieben zu sein schien. Etwas Schlimmes stellte sich Tarlyn vor, ein Ereignis, dass die Entwicklung ins Gegenteil verwandelte und vielleicht lag es ja mit dem Vater zusammen. Bei ihrem Treffen im Tempel fragte der Junge nach diesem. Womöglich ein Dunkelelf, wie es sehr oft der Fall war. Drow vergewaltigten Oberflächenelfen und fühlten sich als die Stärksten. Vielleicht hatte der junge Halbdrow einst eine starke Bindung an die Mutter gehabt und er musste mit ansehen wie diese auf grausame Art starb. So ein Erlebnis wäre für ein Kind ein Trauma und vielleicht wurde er so stark an den Vater gebunden, dass er nicht anders handeln konnte. Das könnte womöglich der Grund sein. Vielleicht war sogar dieser Nhaundar Xarann der Vater von Shar. Dann kehrten Tarlayns Gedanken erneut an den Punkt zurück, wo er sich fragte, ob er den Jungen bei sich im Haus aufnehmen könnte. Womöglich eine Überlegung wert, selbst einen überteuerten Preis könnte er zahlen, aber was dann mit ihm tun. Ihn zum Krieger ausbilden lassen? Nein, das schien nicht Richtig zu sein. Er wirkte so schwach. Dann eventuell eine Laufbahn als Magier? Auch diese Möglichkeit machte ihm nicht gerade Hoffnung. Zauberer begannen früh mit der Ausbildung, brachten ein helles Köpfchen und noch viel mehr Talent mit. All dies konnte er an Shar nicht entdeckten. Vielleicht als Kleriker? Die Grundzüge des Glaubens an Vhaeraun kannte der junge Halbdrow bereits. Aber auch diesen Gedanken verwarf er augenblicklich wieder. Wenn der fremde Junge doch nur sein Enkel wäre, seufzte Tarlyn. Es wäre wohl das Beste für alle, wenn jeder dort bliebe, wo sein Platz war. Der Junge kannte nichts anderes. Er war und blieb ein Leben lang ein Sklave. Shar hatte immerhin diesen fremden Priester, der sich Sorn nannte. Sollte dieser sich um das Kind kümmern und nichts würde verändert werden. Wenn der Junge Glück hatte, dann stirbt er eines Tages schnell und ohne große Schmerzen, sagte sich Tarlyn. Im Reich des Maskierten Fürsten konnte er vielleicht von neuem beginnen, wenn er bis dahin einen festen Glauben fand. Dieser Sorn würde höchstwahrscheinlich diese Aufgabe übernehmen. Nach diesen Gedanken konnte Tarlyn sich endlich wieder ungestört und voller Faszination den Worten von Shar lauschen. Alles würde beim Alten bleiben.
Ein plötzlicher Schrei riss den Hohepriester plötzlich aus der Konzentration und Tarlyn setzte sich erschrocken auf. Der junge Halbdrow zuckte vor ihm zusammen und blickte ängstlich zu dem Vaterpatron.
Eilig wand sich Tarlyn aus dem gepolsterten Stuhl, zog sich seine Robe zu Recht. Zum Schluss kam sein Heiliges Symbol, dass er instinktiv fest umklammerte.
„Bleib hier, mein Junge. Verhalte dich ruhig. Ich werde nachsehen was dieser Schrei zu bedeuten hat“, gab der Drow dem Jungen den Befehl und sah wehleidig hinüber. Viel zu gerne hätte er sich weiter an Shars Erzählungen ergötzt, doch mit der Ruhe schien es vorbei zu sein. Erneut erklang eine laute, aufgebrachte Stimme und der Hohepriester schritt zügig zu der Tür seiner Privatgemächer hinüber. Er schlüpfte hinaus und vor ihm stand sein Freund und Verbündeter Sabrar.
Sabrar war mit seinen 550 Jahren der treuste Diener und Berater, den sich Tarlyn vorstellen konnte. Sie kannten sich bereits aus frühster Jungend, als noch der Vaterpatron des Hohepriesters über das Haus Myt’tarlyl herrschte und Sabrar war auch dabei, als Tarlyn der neue Herr und Führer des damaligen zweiten Hauses der Stadt Eryndlyn wurde. Privat waren sie Freunde, wenn man bei Dunkelelfen von solch einer Verbindung sprechen kann und in der Öffentlichkeit gaben sich beide als das, was ihre Stellung ihnen vorschrieb, Berater und Herr. Sabrar trug eine schwarze Lederrüstung und darüber prangte eine rote, aus Samt bestehende Robe, die vorne offen stand. Darunter lugten ein Langschwert, wie auch ein Dolch an seinem Waffengürtel hervor. Er war ein guter Kämpfer, aber in aller erster Linie blieb er der Ratgeber von Tarlyn. Doch im Kampf hatte er sich schon immer bewährt. Sein Haar trug er offen, aber recht kurz geschnitten und so fielen ihm die Strähnen gerade mal bis über die Schulter. Mit rot glühenden Augen stand er nun vor Tarlyn und sprach hastig. „Du wirst gebraucht, Tarlyn. Ein Drow macht einen Aufstand. Er kam aus den Gemächern von Iymril und verlangt seinen Sklaven zurück. Dieser Drow schimpft wie ein Ork und bezichtigt das ganze Haus des Verrates.“
Tarlyn brachte auf diese Worte hin nur ein Lächeln zustande. „Wenn er der Meinung ist, dann soll es so sein. Aber ich besitze wohl des Rätsels Lösung, vermute ich. Dieser Dunkelelf heißt nicht zufällig Nhaundar Xarann?“
„Doch, woher weißt du das?“, fragte Sabrar verwirrt.
„Weil mir sein Sklave im Tempel an den Hals gesprungen ist“, lachte Tarlyn laut auf und erkannte dabei den verdutzten Blick seines Freundes.
„Deine Anwesenheit wird von Nöten sein, um diesen aufgebrachten Idioten zu besänftigen, Tarlyn. Falls es dich interessiert, er war den ganzen Tag über bei deiner Tochter Iymril.“
Diese Nachricht versetzte dem Hohepriester einen Schlag ins Gesicht. Diese Neuigkeit war erschreckend und verwirrend zugleich. Seine Tochter war in letzter Zeit sowieso seltsam und zurückgezogen und wenn er den Worten des jungen Shar glauben schenken sollte - und das tat er tatsächlich - was hatte Iymril mit einem Sklavenhändler aus Menzoberranzan zutun? Eilig machte er sich auf den Weg von seinen Privatgemächern, den Gang entlang zu dem aufgebrachten Nhaundar. Dicht gefolgt von Sabrar, in dessen Gesicht immer noch der Unglaube von Tarlyns Worte zu erkennen war.