Dem Wahnsinn so nah
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German › Books
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Disclaimer:
I do not own the Forgotten Realms books. I do not make any money from the writing of this story.
34. Kap. Schlag auf Schlag
34. Kapitel
Schlag auf Schlag
Zaknafein Do’Urden stand vor der Tür zum Gasthaus „Zur Henkersmahlzeit“. Hier warteten die beiden Zwillinge wohl schon mehr als ruhelos auf seine Rückkehr und erst Recht auf die Ankunft des jungen Halbdrow. Selbstverständlich galt ihre Hoffnung in erster Linie dem Eintreffen von Shar. Einstweilen hatte sich der Waffenmeister einigermaßen wieder im Griff und wollte nicht alles und jeden zu Kleinholz verarbeiten, was den Jungen letztendlich auch nicht zurück brachte. Seine Augen jedoch waren immer noch feucht und seine Seele litt vor Schmerz und Trauer. Stattdessen musste er versuchen einen klaren Kopf zu behalten, um die grauenhafte Nachricht dem jungen Vhaeraunpriester zu offenbaren. Dies allerdings stellte zurzeit das größte Rätsel dar, denn er wusste nicht wie. Genauso konnte er sich durchaus vorstellen, dass Sorn anschließend nicht mehr Herr seiner Sinne sein und vielleicht durchdrehen würde.
Zaknafein seufzte tief bei diesem Gedanken, schluckte merklich, bis er die Kraft fand, das Unmögliche seinen jungen Freunden erklären zu können. Einen Moment später berührte er den Türknauf. Er öffnete und trat ein.
Nalfein Dalael saß am selben Tisch, wie bei Zaknafeins Verschwinden und nippte soeben an einem Becher. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, als er den Waffenmeister erkannte, allerdings ohne Begleitung von Shar. Der ältere Krieger las augenblicklich die Verwirrung in der Miene des jungen Kämpfers ab und er war gerade sehr froh, dass der Kleriker tatsächlich seinem Befehl nachgekommen und nirgendwo zu entdecken war. Vermutlich lag er oben in seinem Bett und das schien nicht das Schlechteste zu sein.
Zak ging nicht sofort zu Nalfein hinüber, sondern sein Weg führte ihn zuerst an den Schanktisch. Der Wirt namens Relonor eilte schnell herbei - der von dem Zwilling im Schankraum kurz zuvor erfahren hatte, dass bald wieder der Waffenmeister zu ihnen stoßen und er diesen zuvorkommend behandeln sollte. Der Krieger bestellte zwei Becher und dazu den besten Zwergenschnaps, den der Gastwirt besaß. Relonor nickte bestätigend, holte die Bestellung aus seinem Lager, während Zaknafein nach einer Silbermünze kramte und diese dann auf die Theke knallen ließ. Der Wirt schob sie jedoch weg ohne das Geld anzunehmen, nickte Nalfein zu und verschwand einfach wieder. Da der Waffenmeister mit ganz anderen Gedanken beschäftigt war, zuckte er daraufhin nur mit den Achseln, steckte die Münze ein und schritt langsam hinüber zu Nalfein, zusammen mit dem Schnaps und den Bechern.
Ohne ein Wort nahm Zak gegenüber des Dunkelelfen Platz und schenkte sich und dem Kämpfer jeweils voll ein. Dann schob er den Becher mit Schnaps dem älteren Zwilling hinüber und leerte seinen in einem Zug. Seine Augen wurden augenblicklich wieder feucht und sein Rachen fühlte sich an, als hätte ein Wyrm ein Inferno entzündet. Er benötigte allerdings die feurige Wirkung, um sich zu beruhigen und sich zu sammeln. Daraufhin holte er erneut tief Luft und schaute Nalfein an, der ihn bereits mit ruhelosem Gesichtsausdruck musterte ohne aber selbst von dem Zwergenschnaps zu trinken.
„Ich …“, begann Zaknafein und merkte augenblicklich, wie ihm die Stimme versagte. Wiederholt griff er nach dem Schnaps und leerte einen weiteren Becher, um sich für die bevorstehende Aufgabe zu wappnen.
„Ich denke, du musst mir nichts sagen“, erwiderte ein plötzlich ziemlich bedrückter Nalfein. „Nicke einfach, wenn Sorn mit seinem Gefühl richtig lag“, nahm der junge Krieger dem Waffenmeister ein wenig von der unbeschreiblichen Last ab.
Mit einem leichten Nicken und einem Seufzen aus tiefsten Herzen dankte Zak ihm. Dennoch konnte er sich selbst erst wohl fühlen, wenn er wenigstens einmal in seinem Leben die schreckliche Nachricht aussprach und so versuchte Zaknafein es gleich noch einmal. Seine Stimme klang brüchig, aber gefasster als zuvor. „Shar …“, meinte der Waffenmeister des Hauses Do’Urden und schluckte kurz, wobei er eine besänftigende Hand auf seiner Schulter spürte. Er musterte Nalfein anerkennend, denn die Berührung sprach mehr aus, als es tausend Worte hätten tun können. Eine kurze Pause trat ein und die beiden schauten sich wissend in die Augen. Anschließend räusperte sich der ältere Dunkelelf. „Der Junge … Shar ist … der Kleine ist … tot.“
Nach diesen Worten brach die Stimme des Waffenmeisters erneut und ihm stiegen ungehemmt die Tränen in die Augen.
Nalfein, der bereits diese fürchterliche Botschaft erahnte, schnappte laut nach Luft und ließ den Kopf sinken. Er schloss seine bernsteinfarbenen Augen und vor sich sah er den jungen Halbdrow, wie er mit ihm zusammen am Spieltisch saß und sich ein kleines Stückchen Kuchen nach dem anderen hinein stopfte und dabei so fröhlich und lebhafte wirkte, wie eh und je. Auch wenn Nalfein wusste, dass der Junge auf seltsame Art und Weise ein wenig verrückt war, so war Shar aber auch die große Liebe seines Bruders. Seine eigene Bruderliebe ließ ihn die Gefühle von Sorn und Shar spüren und ein ungeahnter Schmerz drohte ihn zu übermannen. Nalfein lag das Glück von Sorn sehr auf dem Herzen, ein Glück, dass mit diesen Worten verschwinden und vermutlich nie wieder so sein würde, wie in den letzten Jahren. Bei alledem konnte er nicht leugnen, dass er Shar als Freund in sein Herz geschlossen hatte. Er war eine kleine Bereicherung in der eh schon kleinen Familie, die die Zwillinge bildeten. Nalfein schüttelte den Kopf und wollte es für sich selbst nicht wahrhaben. Wie konnte Nhaundar soweit gehen? Dann öffnete Sorns Bruder die Augen und tat es Zaknafein nach. Er griff nach dem Becher Zwergenschnaps und leerte diesen mit einem Zug. Anschließend schaute er den Waffenmeister an und erkannte die Trauer, die sich unverschleiert auf dessen Gesicht abzeichnete. Ein weiterer Gedanke ließ ihn plötzlich erschauern. Wie sollte sie beide Sorn die Nachricht vom Tod seines Liebsten erzählen und wie würde der jüngere Bruder reagieren? Hilfe suchend jagte ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken.
„Wir zwei werden es Sorn zusammen sagen. Ich lasse doch so einen guten Krieger nicht alleine in die Schlacht ziehen“, meinte der Waffenmeister besänftigend, der die unausgesprochene Frage erraten hatte und brachte ein warmes Lächeln zustande. Tief in seinem Innern war jedoch Zakanfein froh, dass Nalfein bei ihm saß.
Nur wenige Minuten und einem klärenden Gespräch später hatten die zwei Kämpfer sich selbst soweit im Griff, dass sie sich einer schwerwiegenderen Aufgabe widmen konnten. Nalfein erfuhr alles, was Zaknafein von Nhaundar wusste und ihr gemeinsamer Hass auf den Sklavenhändler, Dantrag Baenre und all die anderen Drow, veranlasste sie, sich endlich vom Tisch zu erheben. Zusammen wollten sie Sorn die Nachricht so schonend wie möglich mitteilen. Vorsichtshalber hatten sich beide ein Seil von Relonor geliehen. Nur für den Fall, dass der junge Priester durchdrehte und auf dumme Ideen käme. Mit dem Seil konnten sie ihn wenigstens fesseln und auf ihn aufpassen. Zaknafein ging sogar noch einen Schritt weiter und hielt einen Knebel hinter dem Rücken versteckt. Danach stiegen sie die Treppe hinauf und machten erst vor dem Zimmer der Zwillinge Halt. Nalfein tauschte mit dem Waffenmeister einen letzten wissenden Blick aus und der ältere Bruder betrat als erster den Raum.
Sorn lag auf dem Rücken in seinem Bett, trug noch die Kleidung von letzter Nacht und starrte an die Decke, als würde sie alle Probleme lösen können. Als er Schritte vor der Tür vernahm und diese sogleich eintraten, erhob er sich eilig und saß kerzengerade auf der Bettdecke. Mittlerweile lag auch sein Heiliges Symbol auf der Brust, das ihm ein wenig Trost in der langen Zeit des Wartens spendete. Die bernsteinfarbenen Augen weiteten sich in der Vorfreude seinen Liebsten gleich zu umarmen. Doch er erkannte nur Nalfein und Zaknafein. Sorn vermutete, dass Shar sich wahrscheinlich hinter den beiden versteckt hatte, wahrscheinlich um ihn zu erschrecken und er lächelte bei diesem Gedanken. Doch die Tür fiel ins Schloss und keine weitere Person, außer den dreien, war in diesem Zimmer. Der junge Vhaeraunpriester ließ sich dadurch aber nicht aus der Fassung bringen und wollte stark bleiben. Sein erster Gedanke galt einzig und allein seinem Liebsten und vielleicht wartete er ja auch vor der Tür oder noch einfacherer, unten im Schankraum, wo ihm Nalfein, wie schon sooft mit Süßigkeiten voll stopfte. Sorn zauberte ein weiteres Lächeln auf sein Gesicht und dann sprach er leise, aber recht zuversichtlich und sogar mit einer Spur Zorn in der Stimme. „Shar wartet unten, stimmt’s? Relonor hat ihm wohl wieder Kuchen gegeben. Dann isst er doch später nichts mehr, dass wisst ihr beide doch genau.“
Damit hatte Sorn nicht einmal Unrecht - das kam in den vergangenen Jahren, wo er und Shar zusammen waren, öfters vor. Relonor, der Wirt des Gasthauses, war wie ein Freund zu den Zwillingen und gewehrte ihnen gerne ein Unterschlupf. Natürlich gegen Geld und durch das gegenseitige Geben und Nehmen von Informationen. Aber er würde wie ein Grab schweigen, wenn jemand nach Sorn und Nalfein fragen sollte. Gleichzeitig kannte er ihr kleines Geheimnis und sah die beiden Brüder fast wie sein eigenes Fleisch und Blut an und selbst den jungen Halbdrow hatte Relonor in sein Herz geschlossen. Außerdem, was niemand anderer wusste, er stammte einstmals aus Eryndlyn und war ein stolzer Anhänger Vhaerauns.
Die Miene von Nalfein verfinsterte sich leicht und er wirkte auf einmal traurig und wütend zugleich. Zum Glück für ihn, dass er diese Aufgabe nicht alleine bewerkstelligen musste, denn Zaknafein stand neben ihm. Wie auf Kommando seufzten beide tief und voller Sorge auf.
„Was ist denn jetzt?“, wollte Sorn wissen und schien plötzlich ärgerlich zu werden. Dabei wanderte eine Hand automatisch an das Heilige Symbol Vhaerauns und er schaute die Krieger mit unverhohlener Neugier an. Denn der Kleriker ahnte, dass er die eben gesprochenen Worte sich einzureden versuchte, und zugleich wurde ihm bewusst, dass seinen Befürchtungen sich höchstwahrscheinlich bewahrheitet hatte – etwas Schreckliches war geschehen.
„Ich … ich …“, begann Nalfein, brach jedoch ab und musste einen Moment innehalten.
„Sorn, dein Bruder möchte dir etwas sagen“, versuchte Zaknafein beide zu beruhigen, während Sorns Finger nervös mit der Halbmaske an seiner Kette spielten.
Die beiden Krieger tauschten erneut einen wissenden Blick aus, nickten sich zu und schritten langsam hinüber zu dem Bett, auf dem der Priester still verharrte und mit den Augen nach Antworten suchte.
„Spannt mich doch nicht so auf die Folter. Wo ist Shar?“, fragte Sorn, doch dabei spürte er, wie seine Stimme immer klangloser wurde. Eine schlimme Vorahnung begann an ihm zu nagen und er schaute mit feuchtem Blick zuerst Nalfein und dann Zaknafein an.
„Shar … Shar?“, rief Sorn mit einem Mal laut in den Raum, aber keine Antwort erfolgte. „Shar? Kommst du jetzt oder soll ich wirklich wütend werden?“, lockte Sorn ein zweites Mal, aber diesmal wusste er, dass der junge Halbdrow nicht antworten würde. Im gleichen Atemzug überbrückten der Waffenmeister und der ältere Bruder die letzten zwei Meter zum Bett des Klerikers und machten sich auf einen Nervenzusammenbruch des Zwillings gefasst. Nalfein setzte sich zu seinem Bruder auf den Bettrand, während Zak ruhig daneben stand und beobachtete.
„Sorn, ich möchte … nein ich muss dir etwas sagen. Shar … Shar ist tot“, flüsterte der junge Krieger und schaute dabei direkt in das Gesicht von Sorn.
„Ha, ha, ha, das ist ein guter Streich. Shar, kommt doch gleich zu mir, dass weißt du doch“, lachte der junge Priester plötzlich, wobei ihm die Tränen in die bernsteinfarbenen Augen traten und er damit seinen Worten Lügen strafte.
Zaknafein schloss die Augen und wünschte sich nichts sehnlicher, dass es sich hier tatsächlich nur um einen schlechten Scherz handelte. Doch sein Herz verspürte die Trauer und Hoffnungslosigkeit wieder und wieder. Er holte tief Luft und danach versuchte er sich auf alles, was nun kommen sollte, gefasst zu machen.
„Sorn, mein Brüderchen. Ich …“, begann Nalfein, wurde jedoch im gleichen Augenblick von seinem jungen Bruder unterbrochen.
„SHAR! SHAR!“, schrie Sorn gellend auf. Mit einem heftigen Ruck wollte der Kleriker vom Bett aufspringen, landete aber unvermittelt in den Armen von Nalfein und dieser ließ ihn nicht los.
„Shar, wo bist du?“, ertönte erneut die laute Stimme des Priesters und dabei klammerte er sich an die muskulösen Schultern seines Bruders.
Sorn schloss die Augen und tief in seinem Herzen zerbrach plötzlich die ganze Welt in Millionen Scherben. Ein schwarzer Abgrund öffnete sich gähnend vor ihm und er fühlte, dass alles falsch und leer war. Noch bevor er weiter nachdenken konnte, versuchte er sich von Nalfein zu lösen und wollte aufstehen. Doch dieser ließ es nicht zu und hielt seinen Bruder fester. Sorn hob seine Hände und schlug mit ungewohnter Kraft gegen die Brust seines Bruders, so dass dieser kurz nach Atem ringen musste. Dabei rief der Kleriker: „Shar, komm zu mir! Wo bist du? Das ist nicht lustig!“
Zum Glück, dass die beiden Krieger nun rechtzeitig reagierten und sich auf den Körper des Vhaeraunpriesters stürzten. Nalfein, der für einen Sekundenbruchteil überrascht über die plötzlich auftretende Muskelkraft seines Bruders war, fischte das geliehene Seil hinter seinem Rücken hervor und band, so schnell es ihm gelang, Sorns Hände auf dem Rücken. Zaknafein angelte währenddessen den Knebel hervor und musste aufpassen, dass der junge Drow beim Anlegen ihn nicht biss.
Kaum war der Kleriker gefesselt und geknebelt und vorsichtig auf den Rücken ins Bett gelegt worden, wälzte er sich aufgebracht und mit tränennassen Augen hin und her und versuchte sich befreien. Der Waffenmeister und Nalfein setzten sich, jeweils auf eine Seite des Bettes und beide probierten mit beruhigendem, aber kräftigen Händedruck, Sorns Köper auf dem Bett zu fixieren. Überraschender Weise mussten sich die Kämpfer gleich darauf mehr anstrengen, als gedacht. Der immer so zaghafte und nicht so muskulöse Körper des Vhaeraunpriesters, entwickelte eine ungeahnte Stärke und stemmte sich mit voller Kraft gegen die beiden, während sie versuchten, Sorn im Zaum zu halten. Letztendlich begann der Kleriker sich aus der Not heraus mit den Füßen zu wehren und trat aus. Dabei traf er Nalfein am Kinn und als Zaknafein einschreiten wollte, wurde er von dem Stiefelabsatz am Auge getroffen. Ein kurzer Moment der Verwirrtheit zeichnete sich auf den Gesichtern der Krieger ab und schon folgte die Lösung. Der Waffenmeister setzte sich ohne Rücksicht auf Verluste einfach auf die Beine von Sorn. Dieser währte sich weiterhin, doch das Gewicht von Zak machte die plötzlich auftretende Stärke des Priesters wett und er konnte nur noch den Kopf und Oberkörper von einer Seite auf die andere werfen. Dazu gesellten sich Rufe des Klerikers, die durch den Knebel im Mund nur dumpf durch den Raum hallten.
Nach wenigen Minuten schien die Kraft von Sorn nachzulassen und er lag mit zusammen gebundenen Händen auf dem Rücken, dem Knebel im Mund und unter der eisernen Zange des Waffenmeisters auf dem Bett und weinte hemmungslos. Ihm wurde heiß und kalt zu gleich und sein Gesicht glühte wie von Fieber. Aber er war ruhiger geworden.
„Dein Bruder hat Mut“, entgegnete Zaknafein, der sich die getroffene Stelle an der Augenbraue rieb und bedachte Nalfein mit einem warmen Lächeln.
Der jüngere Kämpfer schaute zu dem Waffenmeister hinüber und antwortete leise. „Mich hat er direkt am Kinn getroffen. Ich werde in Zukunft wohl aufpassen müssen und darf ihn nicht unterschätzen.“
„Ich werde noch ein wenig warten“, meinte Zak etwas aufmunternd, „Doch leider muss ich euch beide bald verlassen. Meine Abwesenheit wird nicht lange unentdeckt bleiben. Du wirst sehen, er beruhigt sich irgendwann wieder und wenn wir Glück haben ist er bald so erschöpft, dass er einschläft.“ Leider brachte er diesmal kein Lächeln mehr zustande und alle Anwesenden fielen in trauerndes Schweigen.
Sorn bekam von all dem Gesprochenen nicht viel mit. Er lag einfach hilflos im Bett und gab hin und wieder ein tiefes Grollen von sich ohne es zu merken. Er war wütend auf Nalfein und Zaknafein, aber dennoch froh, dass beide bei ihm waren. Nachdem die erste Welle des Schocks allmählich nachließ, schloss Sorn seine Augen und gab sich ganz den Erinnerungen und Trauer hin.
Vor sich sah er Shar, seinen Liebsten, wie er ihn anstrahlte und sich lächelnd an die Brust des Klerikers schmiegte. Die dünnen Ärmchen des Jungen legten sich um Sorn und er konnte die Berührung förmlich spüren. Er glaubte daran, dass er nicht träumte. Er erkannte die sanften Gesichtszüge von Shar und seine tiefblauen Augen, die ihn mit solch einer Intensität fesselten, dass er sich darin gefangen sah. Sorn drückte den jungen Halbdrow fest an sich und wollte ihn nie wieder los lassen. Er hörte sich sagen, dass nun alles in Ordnung sei und Shar niemals wieder in seinem Leben Angst haben musste, denn jetzt wäre der Junge in Freiheit. Nhaundar und kein anderer Dunkelelf würde dem jungen Halbdrow jemals mehr ein Leid antun können. Dabei stiegen dem Kleriker weitere Tränen in die Augen und er fühlte einen tiefen Stich im Herzen. Sein Innerstes drohte zu zerspringen und nichts konnte es aufhalten.
Dann sah Sorn Shar erneut, wie er ihn anlachte. Denn der Gedanke an ihre erste wirkliche Annäherung kehrte zurück in die Seele des jungen Priesters. Er erkannte den Halbdrow in seinem Bett liegen und ihn neugierig mustern. Sorn hob die Hand und mit einem Finger streichelte er sanft und behutsam den Bauch von Shar.
„Hier spüre ich dich, immer und überall. Du bist ein Teil meiner Selbst und ich habe dich viel zu gern, um dich gehen zu lassen.“
Der Junge strahlte über das ganze Gesicht und ein Finger drückte sich zaghaft in den Bauch von Sorn und beide fühlten sich mit einmal ungezwungen und absolut frei.
Wie sehr er Shar liebte und wie sehr er sich wünschte, seinem Liebsten ein besseres Leben schenken zu können. Ihm die Oberfläche zu zeigen, Lesen und Schreiben beizubringen und zusammen mit Nalfein auf Abenteuer zu gehen. Alle drei wollten sie die Welt auf den Kopf stellen, so, damit sich ein jeder an sie erinnern sollte.
Doch kaum hatte Sorn den Gedanken beendet, spürte er, wie eine neue Welle des unbeschreiblichen Kummers ihn zu übermannen drohte. Er öffnete die Augen und ein erstickter Schrei wurde unter dem Knebel hörbar. Erneut versuchte er sich unter den Griffen seines Bruders und Zaknafein zu wehren, doch beide ließen ihn nicht los. Der junge Priester drehte und wendete sich, aber er gestand sich ein, dass keine Möglichkeit bestand, aus dem gnadenlosen Bewachen der Krieger zu entkommen. Sie gaben keinen Zentimeter nach. Stattdessen fühlte Sorn nun die Hände von Nalfein, die sich tröstlich auf die Schultern des jüngeren Bruders legten und ihn so auf den weichen Kissen hielten. Zaknafein blieb auch nicht untätig und legte eine Hand besänftigend auf die Brust des Priesters. Dabei erlebte er, wie der Körper unter ihm leicht zitterte und bebte, als würde es keinen weiteren Morgen mehr geben.
Sorn wusste, er war nicht alleine. Doch leider konnte ihm niemand den unsäglichen Schmerz nehmen, der sich immer weiter durch seine Adern rauschte und jede Faser seines Seins berührte. Das Herz klopfte laut und immer heftiger. Der Puls hämmerte wild und letztendlich drehte der Kleriker den Kopf von einer Seite auf die andere.
Alles nur ein Alptraum, ein schlimmer Traum aus einer fernen Welt. Gleich würde er aufwachen und nichts von alldem wäre jemals passiert, sagte sich Sorn. Doch schon redete er sich dies ein, da traten ihm neue Tränen in die Augen.
NEIN, schrie er innerlich und sah Shar erneut vor sich. Gestern Abend hielt er ihn in einer sanften Umarmung fest und dann hatte er den Jungen einfach zurück gelassen. Wieso war er nur so ein Feigling? Wenn er auf Nhaundars Spiel eingegangen wäre, dann würde Shar noch Leben. Er war Schuld und niemand anderer. Er hatte Shar einer aufgestachelten Horde eigenhändig in die Arme gespielt und sich nicht weiter um ihn gekümmert, schimpfte sich Sorn. Wie konnte er nur? Er war selbstsüchtig, wollte kein Risiko eingehen und alleine wegen seiner Angst war Shar für immer von ihm gegangen. Was hatte er nur getan, brüllte der junge Priester sich gedanklich an und dann fühlte er, wie er allmählich zusammenbrach. Mit heftigem Atmen wand er sich noch einige Male in den starken Griffen der beiden Krieger und wurde schwächer. Er ließ sich in das Bett drücken und blieb letzten Endes ruhig liegen. Mit einem Schluchzen liefen Sorn nochmals die Tränen über die Wangen. Seine Haut glühte vor Qual und Anstrengung und er sank alsdann kraftlos in einen leichten Schlaf. Die Trauer und Erschöpfung hatte sich ganz seiner bemächtigt. Der Körper erschlaffte und der Kopf legte sich zur Seite.
Zaknafein und Nalfein beobachteten den jungen Kleriker ganz genau und als sie sich sicher sein konnten, dass Sorn vor Entkräftung und Kummer eingeschlafen war, rührten sie sich wieder. Der Waffenmeister stand auf und ließ dabei den Blick auf dem ruhenden jungen Drow liegen. Nun tat es Nalfein dem älteren Kämpfer gleich und erhob sich nun ebenfalls von dem Bett seines Bruders. Er seufzte laut und schaute anschließend zu Zak hinüber.
„Ich danke dir“, flüstere der ältere Zwilling und bedankte sich freundschaftlich.
Der Waffenmeister erwiderte die Geste und sprach im gleichen Tonfall, leise und bescheiden. „Ich habe euch zu danken. Tut ihr mir einen Gefallen? Aber erst, wenn es Sorn besser geht?“
Nalfeins Augen weiteten sich einen Moment, doch dann hatte er sich wieder im Griff und schenkte dem stolzen Krieger seine ganze Aufmerksamkeit.
„Ihr solltet aus der Stadt verschwinden. Kehrt erst zurück, wenn es deinem Bruder besser geht. Erst dann, wenn er über den Verlust des Herzens hinweg gekommen ist. Wir sind Drow, doch im Gegensatz zu manch anderen unserer mörderischen Rasse haben wir Gefühle und sind nicht so herzlos wie sie. Wir verstecken sie nicht, aber wir verstecken uns. Genau das solltet ihr tun, euch einen guten Unterschlupf suchen und abwarten und die Wunden heilen lassen. Ich fürchte, dass Nhaundar nach euch suchen lässt. Doch der widerlichen Wanze begegnet ihr besser nie wieder. Geht und versucht in die Zukunft zu schauen.“ Dann stoppte Zaknafein einen kurzen Augenblick, wagte einen Blick auf den schlafenden Priester und wendete sich erneut Nalfein zu. „Natürlich will ich euch keine Vorschriften machen, aber es ist eine Möglichkeit von vielen. Wenn ihr nach Rache sinnt, dann erst, wenn eine Menge Zeit vergangen ist. Vergesst dabei aber nicht, der Junge hat endlich seinen Frieden gefunden und vielleicht ist es auch das Richtige.“ Der Waffenmeister schluckte und noch während er redete, hatte er selbst mit den Tränen zu kämpfen.
Nalfein hörte sehr interessiert zu und erkannte die Wahrheit in den Worten. Denn auch er verspürte die kurzzeitige Leere, die Sorn fühlte. Genauso wusste er, dass sie beide nur mit offenen Augen in eine neue Zukunft gehen konnten. Gemeinsam könnten sie irgendwann wieder durch Dick und Dünn gehen und die Zeit sollte angeblich alle Wunden heilen. So ging Nalfein einmal um das Bett herum und umarmte den Waffenmeister herzlich. Zaknafein erwiderte nur zu gerne die Geste und wusste, er war nicht alleine und hatte wohl gut gesprochen. Wenn er auch nur die Zwillinge in Gefahr sehen würde, dann hätte er selbst auch kein ruhiges Leben mehr. Wie sollte er am Ende dann den eigenen Sohn schützen?
Einige Minuten brauchten beide und erst dann ließen sie von einander ab.
„Ich wünsche euch beiden alles Gute. Wenn ihr wieder in der Stadt seid, dann wisst ihr ja, wie man mich erreichen kann“, versuchte der stolze Krieger sich mit einem Lächeln zu verabschiedenden.
Nalfein nickte anerkennend und wohlwissentlich und hatte das ungute Gefühl, dass dies hier womöglich ihr letztes Treffen gewesen war. Doch er ließ sich nichts anmerken und setzte sich nun auf sein eigenes Bett.
Zaknafein Do’Urden verabschiedete sich still und leise von dem Vhaeraunpriester und prägte sich das junge Gesicht ein. Er legte sich eine Hand aufs Herz und diese anschließend auf das des Klerikers. Um nicht mit einem weiteren Gefühlsausbruch, den schlafenden Kleriker zu wecken, drehte er sich langsam um, blickte ein letztes Mal zu dem Kämpfer hinüber und verschwand ohne ein weiteres Wort zu sagen durch die Tür. Die Zwillinge blieben alleine zurück.
Viele Stunden später. Die Nacht war bereits in der Stadt der Spinnenkönigin herein gebrochen und das Licht von Narbondel neigte sich allmählich seinem niedrigsten Stand. Nalfein Dalael lag auf seinem Bett und hatte die Augen geschlossen. Seit Zaknafeins Verschwinden versuchte er über seinen jüngeren Bruder zu wachen, so gut es ihm möglich war. Seit Sorn eingeschlafen war, war er jedoch nicht mehr erwacht und das konnte nur gut sein. Allerdings forderten nun die eigene Erschöpfung und die schlechten Nachrichten des Tages ihren Tribut. Nalfein glitt langsam in einen tiefen Schlaf, doch zuvor betete er stumm für sich, seinen Bruder und selbst für Shar.
„Vhaeraun. Mein Maskierter Fürst. Ich war dir nie ein so treuer Diener wie mein Bruder gewesen. Doch erhöre mich und helfe ihm. Gewähre Sorn die innere Ruhe und stütze ihn in seinem Verlust. Nimm’ dich der Seele des Jungen an …“, dann übermannte ihn plötzlich die Müdigkeit und mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er augenblicklich ein.
Sorn Dalael, der junge Priester erwachte im selben Moment aus seinem Schlaf. Es fühlte sich so an, als ob ihn blitzartig eine höhere Macht gewaltsam aus dem Abgrund gezogen hätte. Als er die Augen öffnete war alles um ihn herum dunkel und ohne Leben. Lediglich das leise Ein- und Ausatmen von Nalfein kündigte davon, dass der Kleriker sich nicht alleine in ihrem Zimmer befand. Schleppend wand sich Sorn einige Male auf der Matratze hin und her und spürte, wie all seine Glieder durch die Fesseln und dem Liegen taub waren. Der Knebel saß noch an der Stelle, wo ihn der Waffenmeister gut festgezurrt hatte. Was auch der junge Drow anstellte, er konnte ihn sich nicht abstreifen. Er drehte den Kopf mehrmals hin und her und rutschte auf und ab. Doch Zaknafein schien wirklich vortreffliche Arbeit geleistet zu haben. So verhielt es sich auch mit den Fesseln an seinen Handgelenken, die ihm Nalfein verpasste. Etwas entmutigend seufzte Sorn leise vor sich hin und fühlte die Leere in seinem Herzen wiederkehren. Erneut sah er einen schmunzelnden Shar vor sich, der ihn einfach ohne jedweden Groll mit den tiefblauen Augen anschaute. Doch mit einmal empfand der Vhaeraunpriester etwas, dass ihm vertraut vorkam. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er nicht ohne Grund aus dem Schlaf zurück geholte wurde. Noch bevor er sich seinen Instinkten stellen konnte, glimmte mit einem Mal eine Kerze auf dem Tisch in dem kleinen Zimmer der Zwillinge auf. Erschrocken sog Sorn die Luft durch die Nase ein und blieb wie erstarrt auf der Seite liegen. Mit den Augen verfolgte er aufmerksam den Rauch, der sich langsam und gemächlich in die Lüfte erhob. Dann weiteten sich seine bernsteinfarbenen Augen und er erkannte einen Schatten in der Ecke, der immer mehr an Masse gewann.
„Es freut mich, dass du erwacht bist“, hallte plötzlich eine bekannte Stimme in Sorns Kopf und es fühlte sich an, als würden tausend Stimmen gleichzeitig zum Sprechen ansetzen.
Der geschwächte Körper des Priesters zuckte zusammen und nun spürte er jäh eine göttliche Macht, die sich in diesem Zimmer befand. Sie ergriff von ihm Besitz und die Tränen der Erhabenheit traten ihm in die Augen. Daraufhin versuchte er den Schatten in der Ecke, den er zuerst als Einbildung abtun wollte, besser erkennen zu können. Doch was sich vor ihm auftat, brachte sein Herz erneut zum rasen.
Ein attraktiver Dunkelelf schritt soeben von der Finsternis in den Schein der Kerze. Er trug eine schwarze Lederrüstung, während ein Waffengürtel mit Kurzschwert und Dolch an der Hüfte prangten. Weiße Haare fielen ihm spielerisch über die Schultern und auf dessen maskiertem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab.
„Vhaeraun, mein Maskierter Fürst“, dachte Sorn bei diesem Anblick und er spürte, wie sein ganzer Körper vor der Größe seines Gottes zu zittern begann.
„Sei mir gegrüßt, mein treuer Diener“, lächelte Vhaeraun verschmitzt und bedachte den gefesselten Kleriker mit einer Mischung aus Amüsement und ehrlichem Respekt. „Die beiden scheinen gute Arbeit geleistet zu haben“, hallte die göttliche Stimme durchs Sorns Kopf und schritt dabei weiter auf das Bett des Priesters zu.
„Was er nicht sagt“, dachte sich der junge Drow und musste augenblicklich wieder seufzen. „Mir würde es wohl eindeutig besser gehen, wenn ich nicht wie eine kostbare Ware sicher verschnürt wäre.“
„Eine kostbare Fracht, die man hüten und beschützen sollte“, lachte die Stimme Vhaerauns in Sorns Kopf, während der Avatar unmittelbar vor dem Bett des jungen Dunkelelfen zum Stehen kam.
Der Kleriker riss erschrocken beide Augen auf und wurde sich im gleichen Moment bewusst, dass er seinem Herrn nichts verheimlichen konnte, nicht einmal seine Gedanken.
„Verzeiht“, flüsterte der Vhaeraunpriester und wieder flossen die Tränen über seine Wangen. „Aber sagt mir, dass ist doch nur ein Traum. Ein Trugbild, das mir schon einmal zum Verhängnis wurde. Mein Maskierter Fürst, seit ihr das wirklich?“ Sorn spürte die Antwort, bevor er die Frage überhaupt beendet hatte. Dennoch gab es immer noch die Möglichkeit, dass ihm sein Verstand auf Grund der Trauer einen Streich spielen wollte.
„Ein Hirngespinst deiner Seele?“, fragte der attraktive Dunkelelf und ließ ein weiteres Lächeln auf seinen Gesichtszügen erscheinen. Dann erschallte lautes Gelächter und erschütterte dabei den Kleriker in Mark und Bein. Als der Avatar sich langsam wieder beruhigte, blickte er mit rot funkelnden Augen zu dem gefesselten jungen Drow hinunter und setzte sich ohne Umschweife auf die Bettkante. „Sorn Dalael, du bist mir ein treuer Diener, aber lass’ dir eines gesagt sein, ich bin dein Gott, so wahr wie du mich sehen willst.“
Was Sorn allerdings in diesem Blick erkannte schien in jenem Moment mehr zu sein, was ein Gläubiger sich jemals vorzustellen vermag. Die roten Augen ähnelten einem Ozean aus Millionen und Abermillionen von Himmelskörpern. Wellen aus Sternenlicht wogten nach oben und nach unten und dahinter erstreckte sich ein unendliches Universum aus Allem und Nichts. Eine schwarze Leere aus Finsternis brach sich an der aufsteigenden Sonne und überflutete sein Herz mit Wärme und Geborgenheit. Sorn spürte, wie er in ein Nebel aus Erregung eintauchte und dass er wahrhaft seinen Gott vor sich sah. Wieder und wieder befeuchteten sich seine Augen und sein Puls raste vor Aufregung und Angst.
„Du erkennst die Wahrheit, mein Diener. So wie einst dein Vater und dein Onkel vor dir“, antwortete Vhaeraun verschmitzt und hob dabei eine Hand und legte sie auf den Kopf des Priesters.
Erschrocken über die Erkenntnis und der absoluten Erhabenheit, die sich seiner bemächtigte, beobachtete er aufmerksam die Hand des Gottes und bei der Berührung begann er erneut zu zittern.
„Mein Maskierter Fürst, was wünscht ihr von mir?“, dachte sich Sorn und fuhr zusammen, als plötzlich der Knebel in seinem Mund verschwunden war. Eilig holte er tief Luft und seufzte, schloss dann seine Augen und verstand nicht, ob er vielleicht nicht doch schlief und träumte oder wach war und sich alles nur einbildete.
„Nun kannst du von Angesicht zu Angesicht mit mir sprechen“, meinte Vhaeraun amüsiert und kannte die Gedanken des jungen Drow nur zu gut.
„Aber … aber … mein Bruder“, stammelte Sorn leise und schaute nervös zu Nalfein hinüber, der jedoch friedlich zu schlafen schien.
Der Avatar Vhaerauns folgte dem Blick und kicherte.
Der junge Priester wand erschrocken seine volle Aufmerksamkeit wieder dem göttlichen Besucher zu und sagte sich stumm: „Er wird noch wach.“
„Mach dich nicht lächerlich, Sorn Dalael“, entgegnete der Maskierte Fürst und wusste, dass er wirklich klug gewählt hatte. Sorn lebt sein Leben für seinen Glauben und das alles mit Witz und Humor. „Dein Bruder wird so lange schlafen, wie ich es für wünschenswert halte. Nalfein wählt sich gerade die schönsten Frauen von Toril in seinen Träumen aus.“
Sorn wurde bei diesen Worten rot und war in diesem Moment froh, dass man es ihm bei der Dunkelheit, sowie aufgrund der ebenholzfarbenen Haut, nicht ansehen konnte. Doch leicht irritiert weiteten sich seine bernsteinfarbenen Augen und er schämte sich.
„Wer wird denn … wer wird denn …“, mahnte der Avatar Vhaerauns ruhig und konnte sich eines Lächelns nicht erwähren. „Ihr beiden seid mutig und trotz vielen Gefahren, dann darf der Geist sich auch erholen.“
Doch diese Worte bewirkten bei Sorn statt Aufmunterung eher Betrübnis. Er war nicht mutig, denn er war ein Feigling. Augenblicklich kamen die Erinnerungen und all die trauernden Gefühle um Shar in ihm hoch. Er sah den Jungen vor sich, wie er weinte und von neuem schien ihn der Verlust übermannen zu wollen.
Nun schwieg auch Vhaeraun, denn er teilte mit Sorn in diesem Moment alles. Die Gedanken und selbst die maternden Gefühle. Doch er kannte ein Geheimnis, dass der junge Diener nicht einmal erahnte.
„Die Dunkelelfen in dieser Stadt sind Feiglinge! Sie bekämpfen sich, anstatt sich gegen die eigene Bedrohung zu wenden“, sagte Vhaeraun ärgerlich und schnaubte verächtlich. Seine Haare verfärbten sich plötzlich rot und seine Augen glühten gefährlich auf. „Diese Stadt, die dem stinkenden Insekt dienlich ist!“ Dann erklang von dem Avatar ein Geräusch, das einem Seufzen gleichkam und die Haare wurden wieder weiß. „Doch die Zukunft wird vieles offenbaren …“, flüsterte Vhaeraun nun ruhig vor sich hin und bedachte den jungen Priester mit einem wissenden Blick.
Sorn hatte kurzeitig Angst, die rasch wieder verflog. Dann schämte er sich mehr denn je und wurde sich schlagartig bewusst, dass er vor dem Maskierten Fürsten nichts verheimlichen konnte. „Aber Shar hatte …“, warf der jüngere Zwilling ein und es schien ihm sogar egal, dass er seinen Gott unterbrochen hatte.
„Shar lebt!“, erwiderte der Avatar scharf und erhob sich plötzlich vom Bett.
Sorn erschrak und wenn er nicht schon auf dem Bett gelegen hätte, dann wäre er womöglich umgefallen. Seine Beine fühlten sich schwach und unendlich taub an und sein Herz begann wie wild zu rasen. „Er … er lebt?“, stammelte der Kleriker ungläubig und beobachtete dabei Vhaeraun aufmerksam. Wie war das Möglich? Was war geschehen?
Der Maskierte Fürst drehte dem Priester den Rücken zu und wirkte ganz in Gedanken versunken. Dann wand er sich abrupt um und die roten Augen glühten mit einem hellen Licht auf. „Der Junge lebt und das wird er wohl noch viele Jahrzehnte tun. Aber merke dir, die Zukunft bringt ihn in sein eigenes Leben. Aufgaben warten auf ihn und …“, dann brach Vhaeraun mitten im Satz ab.
Sorn starrte voller Staunen zu seinem Gott hinüber und spürte, wie sein Blut in den Adern vor Aufregung rauschte. Ein unheimliches Glücksgefühl nahm von ihm Besitz und er hätte in diesem Moment die ganze Welt umarmen können. Wenn Shar lebt, sagte sich der Priester, dann muss ich ihn finden. Zusammen mit Nalfein und Shar gehen wir auf die Oberfläche und …
„Das wirst du nicht tun!“, unterbrach der Avatar Sorns Gedanken barsch.
„WAS?“, rief der Kleriker aufgebracht und war der Meinung, er hätte sich verhört.
„Bleib ruhig, Sorn Dalael. Ich werde dir nur soviel verraten, dass Shar dir auf ewig dankbar sein wird, auch wenn er es noch nicht weiß.“ Die Stimme des Gottes hallte plötzlich erneut wie Tausende in Sorns Kopf wider und so wusste der Drow, dass nur er die Worte Vhaerauns vernehmen konnte. „Auf dich und dein Bruder warten große Aufgaben. Ich kenne dich, mein Diener, du wirst sie meistern. Du hast alles im Leben erreicht, was sich manche in jungen Jahren nicht einmal erträumen können. Frage nicht nach dem „Wie“ und „Warum“, denn mein Wille wird unergründlich bleiben.“
Sorn hörte aufmerksam zu, obwohl er wütend wurde und nicht einmal wusste warum. Wie konnte das alles nur wahr sein, fragte er sich. Er wollte Shar retten, ganz egal ob es nun der Wille seines Gottes war oder nicht. Daraufhin erschien ein Schmollmund auf dem Gesicht des jungen Klerikers und dann versuchte er Vhaeraun mutig anzuschauen.
„Du hast ihn bereits gerettet. Erinnerst du dich an die Phiole von gestern Nacht?“, wollte der Avatar wissen.
Sorn nickte und wusste nicht, was diese Frage nun zu bedeuten hatte.
„Das war kein Schmerzmittel, sondern ein Mittel um den Scheintod herauf zu beschwören. Seine Lebensfunktionen wurden auf das Niedrigste herunter gesetzt und jeder denkt, der Köper wäre tot“, lachte Vhaeraun.
„WAS?“, rief der Priester nun zum zweiten Mal und wieder zitterte er am ganzen Leib. „Aber … aber …“, stammelte er und fühlte, wie ihm langsam die Sinne schwinden wollten. Zuviel Aufregung auf einmal und eine unerwartete Nachricht jagte die nächste.
Der Avatar hob die Hand und bedeutete so, dass Sorn Schweigen sollte.
„Diese Phiole habe ich dort platziert, wo du sie finden solltest. Der Junge wird in Sicherheit sein und du warst es, der ihn gerettet hat. Er kehrt niemals wieder zu Nhaundar zurück, denn das Leben im Unterreich ist ihm nicht vorherbestimmt. Irgendwann werdet ihr euch wieder sehen.“
Sorn wusste nicht, was er denken, noch was er fühlen sollte. Diese Nachrichten, ob positiv oder negativ glichen einem brodelnden Vulkan und einer unendlichen Leere, die wieder von ihm Besitz ergreifen wollte. Wieso durfte er Shar nicht auf der Stelle wieder sehen und was hatte es mit dem Unterreich auf sich? Die Gedanken wirbelten wild durch seinen Kopf und er musste erneut die Augen schließen.
Vhaeraun lächelte abermals und wusste, dass er wirklich den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Doch wichtig war nun, dass alles von alleine seinen Verlauf nahm. Außerdem war er sich sicher, dass er in der Tat einen wahren Diener des Glaubens besaß, jemand der seine Aufgaben mit Herz und Verstand erledigen würde. Für ihn gab es vorerst nichts mehr zu tun. Einfach nur beobachten und abwarten.
Während Sorn immer noch mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag, näherte sich der Gott dem jungen Priester und legte ihm eine Hand auf die Stirn. „Schlafe und erwache mit neuem Lebensmut. Mein Segen begleitet dich.“
Mit einem letzten Gedanken löste Vhaeraun die Fesseln um die Handgelenke des Drow und dann wand er sich von ihm ab. Langsam und bedächtig schritt er daraufhin zu der dunklen Ecke des Zimmers hinüber. Der Körper löste sich allmählich auf und verwandelte sich in schwarzen Schatten. Von einer auf die andere Sekunde verschwand der Gott und zurück blieben die beiden Zwillinge.
Sorn spürte kaum die Berührung der göttlichen Macht auf seinem Kopf und schon wurde sein Körper leicht und frei. Ein Gefühl der absoluten Glückseeligkeit nahm ihn gefangen und zum ersten Mal, seit den Stunden der Schreckensnachricht, wusste der junge Priester, er konnte zufrieden sein. Er glitt in den Schlaf über und erwachte erst wieder am Morgen.
Schlag auf Schlag
Zaknafein Do’Urden stand vor der Tür zum Gasthaus „Zur Henkersmahlzeit“. Hier warteten die beiden Zwillinge wohl schon mehr als ruhelos auf seine Rückkehr und erst Recht auf die Ankunft des jungen Halbdrow. Selbstverständlich galt ihre Hoffnung in erster Linie dem Eintreffen von Shar. Einstweilen hatte sich der Waffenmeister einigermaßen wieder im Griff und wollte nicht alles und jeden zu Kleinholz verarbeiten, was den Jungen letztendlich auch nicht zurück brachte. Seine Augen jedoch waren immer noch feucht und seine Seele litt vor Schmerz und Trauer. Stattdessen musste er versuchen einen klaren Kopf zu behalten, um die grauenhafte Nachricht dem jungen Vhaeraunpriester zu offenbaren. Dies allerdings stellte zurzeit das größte Rätsel dar, denn er wusste nicht wie. Genauso konnte er sich durchaus vorstellen, dass Sorn anschließend nicht mehr Herr seiner Sinne sein und vielleicht durchdrehen würde.
Zaknafein seufzte tief bei diesem Gedanken, schluckte merklich, bis er die Kraft fand, das Unmögliche seinen jungen Freunden erklären zu können. Einen Moment später berührte er den Türknauf. Er öffnete und trat ein.
Nalfein Dalael saß am selben Tisch, wie bei Zaknafeins Verschwinden und nippte soeben an einem Becher. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, als er den Waffenmeister erkannte, allerdings ohne Begleitung von Shar. Der ältere Krieger las augenblicklich die Verwirrung in der Miene des jungen Kämpfers ab und er war gerade sehr froh, dass der Kleriker tatsächlich seinem Befehl nachgekommen und nirgendwo zu entdecken war. Vermutlich lag er oben in seinem Bett und das schien nicht das Schlechteste zu sein.
Zak ging nicht sofort zu Nalfein hinüber, sondern sein Weg führte ihn zuerst an den Schanktisch. Der Wirt namens Relonor eilte schnell herbei - der von dem Zwilling im Schankraum kurz zuvor erfahren hatte, dass bald wieder der Waffenmeister zu ihnen stoßen und er diesen zuvorkommend behandeln sollte. Der Krieger bestellte zwei Becher und dazu den besten Zwergenschnaps, den der Gastwirt besaß. Relonor nickte bestätigend, holte die Bestellung aus seinem Lager, während Zaknafein nach einer Silbermünze kramte und diese dann auf die Theke knallen ließ. Der Wirt schob sie jedoch weg ohne das Geld anzunehmen, nickte Nalfein zu und verschwand einfach wieder. Da der Waffenmeister mit ganz anderen Gedanken beschäftigt war, zuckte er daraufhin nur mit den Achseln, steckte die Münze ein und schritt langsam hinüber zu Nalfein, zusammen mit dem Schnaps und den Bechern.
Ohne ein Wort nahm Zak gegenüber des Dunkelelfen Platz und schenkte sich und dem Kämpfer jeweils voll ein. Dann schob er den Becher mit Schnaps dem älteren Zwilling hinüber und leerte seinen in einem Zug. Seine Augen wurden augenblicklich wieder feucht und sein Rachen fühlte sich an, als hätte ein Wyrm ein Inferno entzündet. Er benötigte allerdings die feurige Wirkung, um sich zu beruhigen und sich zu sammeln. Daraufhin holte er erneut tief Luft und schaute Nalfein an, der ihn bereits mit ruhelosem Gesichtsausdruck musterte ohne aber selbst von dem Zwergenschnaps zu trinken.
„Ich …“, begann Zaknafein und merkte augenblicklich, wie ihm die Stimme versagte. Wiederholt griff er nach dem Schnaps und leerte einen weiteren Becher, um sich für die bevorstehende Aufgabe zu wappnen.
„Ich denke, du musst mir nichts sagen“, erwiderte ein plötzlich ziemlich bedrückter Nalfein. „Nicke einfach, wenn Sorn mit seinem Gefühl richtig lag“, nahm der junge Krieger dem Waffenmeister ein wenig von der unbeschreiblichen Last ab.
Mit einem leichten Nicken und einem Seufzen aus tiefsten Herzen dankte Zak ihm. Dennoch konnte er sich selbst erst wohl fühlen, wenn er wenigstens einmal in seinem Leben die schreckliche Nachricht aussprach und so versuchte Zaknafein es gleich noch einmal. Seine Stimme klang brüchig, aber gefasster als zuvor. „Shar …“, meinte der Waffenmeister des Hauses Do’Urden und schluckte kurz, wobei er eine besänftigende Hand auf seiner Schulter spürte. Er musterte Nalfein anerkennend, denn die Berührung sprach mehr aus, als es tausend Worte hätten tun können. Eine kurze Pause trat ein und die beiden schauten sich wissend in die Augen. Anschließend räusperte sich der ältere Dunkelelf. „Der Junge … Shar ist … der Kleine ist … tot.“
Nach diesen Worten brach die Stimme des Waffenmeisters erneut und ihm stiegen ungehemmt die Tränen in die Augen.
Nalfein, der bereits diese fürchterliche Botschaft erahnte, schnappte laut nach Luft und ließ den Kopf sinken. Er schloss seine bernsteinfarbenen Augen und vor sich sah er den jungen Halbdrow, wie er mit ihm zusammen am Spieltisch saß und sich ein kleines Stückchen Kuchen nach dem anderen hinein stopfte und dabei so fröhlich und lebhafte wirkte, wie eh und je. Auch wenn Nalfein wusste, dass der Junge auf seltsame Art und Weise ein wenig verrückt war, so war Shar aber auch die große Liebe seines Bruders. Seine eigene Bruderliebe ließ ihn die Gefühle von Sorn und Shar spüren und ein ungeahnter Schmerz drohte ihn zu übermannen. Nalfein lag das Glück von Sorn sehr auf dem Herzen, ein Glück, dass mit diesen Worten verschwinden und vermutlich nie wieder so sein würde, wie in den letzten Jahren. Bei alledem konnte er nicht leugnen, dass er Shar als Freund in sein Herz geschlossen hatte. Er war eine kleine Bereicherung in der eh schon kleinen Familie, die die Zwillinge bildeten. Nalfein schüttelte den Kopf und wollte es für sich selbst nicht wahrhaben. Wie konnte Nhaundar soweit gehen? Dann öffnete Sorns Bruder die Augen und tat es Zaknafein nach. Er griff nach dem Becher Zwergenschnaps und leerte diesen mit einem Zug. Anschließend schaute er den Waffenmeister an und erkannte die Trauer, die sich unverschleiert auf dessen Gesicht abzeichnete. Ein weiterer Gedanke ließ ihn plötzlich erschauern. Wie sollte sie beide Sorn die Nachricht vom Tod seines Liebsten erzählen und wie würde der jüngere Bruder reagieren? Hilfe suchend jagte ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken.
„Wir zwei werden es Sorn zusammen sagen. Ich lasse doch so einen guten Krieger nicht alleine in die Schlacht ziehen“, meinte der Waffenmeister besänftigend, der die unausgesprochene Frage erraten hatte und brachte ein warmes Lächeln zustande. Tief in seinem Innern war jedoch Zakanfein froh, dass Nalfein bei ihm saß.
Nur wenige Minuten und einem klärenden Gespräch später hatten die zwei Kämpfer sich selbst soweit im Griff, dass sie sich einer schwerwiegenderen Aufgabe widmen konnten. Nalfein erfuhr alles, was Zaknafein von Nhaundar wusste und ihr gemeinsamer Hass auf den Sklavenhändler, Dantrag Baenre und all die anderen Drow, veranlasste sie, sich endlich vom Tisch zu erheben. Zusammen wollten sie Sorn die Nachricht so schonend wie möglich mitteilen. Vorsichtshalber hatten sich beide ein Seil von Relonor geliehen. Nur für den Fall, dass der junge Priester durchdrehte und auf dumme Ideen käme. Mit dem Seil konnten sie ihn wenigstens fesseln und auf ihn aufpassen. Zaknafein ging sogar noch einen Schritt weiter und hielt einen Knebel hinter dem Rücken versteckt. Danach stiegen sie die Treppe hinauf und machten erst vor dem Zimmer der Zwillinge Halt. Nalfein tauschte mit dem Waffenmeister einen letzten wissenden Blick aus und der ältere Bruder betrat als erster den Raum.
Sorn lag auf dem Rücken in seinem Bett, trug noch die Kleidung von letzter Nacht und starrte an die Decke, als würde sie alle Probleme lösen können. Als er Schritte vor der Tür vernahm und diese sogleich eintraten, erhob er sich eilig und saß kerzengerade auf der Bettdecke. Mittlerweile lag auch sein Heiliges Symbol auf der Brust, das ihm ein wenig Trost in der langen Zeit des Wartens spendete. Die bernsteinfarbenen Augen weiteten sich in der Vorfreude seinen Liebsten gleich zu umarmen. Doch er erkannte nur Nalfein und Zaknafein. Sorn vermutete, dass Shar sich wahrscheinlich hinter den beiden versteckt hatte, wahrscheinlich um ihn zu erschrecken und er lächelte bei diesem Gedanken. Doch die Tür fiel ins Schloss und keine weitere Person, außer den dreien, war in diesem Zimmer. Der junge Vhaeraunpriester ließ sich dadurch aber nicht aus der Fassung bringen und wollte stark bleiben. Sein erster Gedanke galt einzig und allein seinem Liebsten und vielleicht wartete er ja auch vor der Tür oder noch einfacherer, unten im Schankraum, wo ihm Nalfein, wie schon sooft mit Süßigkeiten voll stopfte. Sorn zauberte ein weiteres Lächeln auf sein Gesicht und dann sprach er leise, aber recht zuversichtlich und sogar mit einer Spur Zorn in der Stimme. „Shar wartet unten, stimmt’s? Relonor hat ihm wohl wieder Kuchen gegeben. Dann isst er doch später nichts mehr, dass wisst ihr beide doch genau.“
Damit hatte Sorn nicht einmal Unrecht - das kam in den vergangenen Jahren, wo er und Shar zusammen waren, öfters vor. Relonor, der Wirt des Gasthauses, war wie ein Freund zu den Zwillingen und gewehrte ihnen gerne ein Unterschlupf. Natürlich gegen Geld und durch das gegenseitige Geben und Nehmen von Informationen. Aber er würde wie ein Grab schweigen, wenn jemand nach Sorn und Nalfein fragen sollte. Gleichzeitig kannte er ihr kleines Geheimnis und sah die beiden Brüder fast wie sein eigenes Fleisch und Blut an und selbst den jungen Halbdrow hatte Relonor in sein Herz geschlossen. Außerdem, was niemand anderer wusste, er stammte einstmals aus Eryndlyn und war ein stolzer Anhänger Vhaerauns.
Die Miene von Nalfein verfinsterte sich leicht und er wirkte auf einmal traurig und wütend zugleich. Zum Glück für ihn, dass er diese Aufgabe nicht alleine bewerkstelligen musste, denn Zaknafein stand neben ihm. Wie auf Kommando seufzten beide tief und voller Sorge auf.
„Was ist denn jetzt?“, wollte Sorn wissen und schien plötzlich ärgerlich zu werden. Dabei wanderte eine Hand automatisch an das Heilige Symbol Vhaerauns und er schaute die Krieger mit unverhohlener Neugier an. Denn der Kleriker ahnte, dass er die eben gesprochenen Worte sich einzureden versuchte, und zugleich wurde ihm bewusst, dass seinen Befürchtungen sich höchstwahrscheinlich bewahrheitet hatte – etwas Schreckliches war geschehen.
„Ich … ich …“, begann Nalfein, brach jedoch ab und musste einen Moment innehalten.
„Sorn, dein Bruder möchte dir etwas sagen“, versuchte Zaknafein beide zu beruhigen, während Sorns Finger nervös mit der Halbmaske an seiner Kette spielten.
Die beiden Krieger tauschten erneut einen wissenden Blick aus, nickten sich zu und schritten langsam hinüber zu dem Bett, auf dem der Priester still verharrte und mit den Augen nach Antworten suchte.
„Spannt mich doch nicht so auf die Folter. Wo ist Shar?“, fragte Sorn, doch dabei spürte er, wie seine Stimme immer klangloser wurde. Eine schlimme Vorahnung begann an ihm zu nagen und er schaute mit feuchtem Blick zuerst Nalfein und dann Zaknafein an.
„Shar … Shar?“, rief Sorn mit einem Mal laut in den Raum, aber keine Antwort erfolgte. „Shar? Kommst du jetzt oder soll ich wirklich wütend werden?“, lockte Sorn ein zweites Mal, aber diesmal wusste er, dass der junge Halbdrow nicht antworten würde. Im gleichen Atemzug überbrückten der Waffenmeister und der ältere Bruder die letzten zwei Meter zum Bett des Klerikers und machten sich auf einen Nervenzusammenbruch des Zwillings gefasst. Nalfein setzte sich zu seinem Bruder auf den Bettrand, während Zak ruhig daneben stand und beobachtete.
„Sorn, ich möchte … nein ich muss dir etwas sagen. Shar … Shar ist tot“, flüsterte der junge Krieger und schaute dabei direkt in das Gesicht von Sorn.
„Ha, ha, ha, das ist ein guter Streich. Shar, kommt doch gleich zu mir, dass weißt du doch“, lachte der junge Priester plötzlich, wobei ihm die Tränen in die bernsteinfarbenen Augen traten und er damit seinen Worten Lügen strafte.
Zaknafein schloss die Augen und wünschte sich nichts sehnlicher, dass es sich hier tatsächlich nur um einen schlechten Scherz handelte. Doch sein Herz verspürte die Trauer und Hoffnungslosigkeit wieder und wieder. Er holte tief Luft und danach versuchte er sich auf alles, was nun kommen sollte, gefasst zu machen.
„Sorn, mein Brüderchen. Ich …“, begann Nalfein, wurde jedoch im gleichen Augenblick von seinem jungen Bruder unterbrochen.
„SHAR! SHAR!“, schrie Sorn gellend auf. Mit einem heftigen Ruck wollte der Kleriker vom Bett aufspringen, landete aber unvermittelt in den Armen von Nalfein und dieser ließ ihn nicht los.
„Shar, wo bist du?“, ertönte erneut die laute Stimme des Priesters und dabei klammerte er sich an die muskulösen Schultern seines Bruders.
Sorn schloss die Augen und tief in seinem Herzen zerbrach plötzlich die ganze Welt in Millionen Scherben. Ein schwarzer Abgrund öffnete sich gähnend vor ihm und er fühlte, dass alles falsch und leer war. Noch bevor er weiter nachdenken konnte, versuchte er sich von Nalfein zu lösen und wollte aufstehen. Doch dieser ließ es nicht zu und hielt seinen Bruder fester. Sorn hob seine Hände und schlug mit ungewohnter Kraft gegen die Brust seines Bruders, so dass dieser kurz nach Atem ringen musste. Dabei rief der Kleriker: „Shar, komm zu mir! Wo bist du? Das ist nicht lustig!“
Zum Glück, dass die beiden Krieger nun rechtzeitig reagierten und sich auf den Körper des Vhaeraunpriesters stürzten. Nalfein, der für einen Sekundenbruchteil überrascht über die plötzlich auftretende Muskelkraft seines Bruders war, fischte das geliehene Seil hinter seinem Rücken hervor und band, so schnell es ihm gelang, Sorns Hände auf dem Rücken. Zaknafein angelte währenddessen den Knebel hervor und musste aufpassen, dass der junge Drow beim Anlegen ihn nicht biss.
Kaum war der Kleriker gefesselt und geknebelt und vorsichtig auf den Rücken ins Bett gelegt worden, wälzte er sich aufgebracht und mit tränennassen Augen hin und her und versuchte sich befreien. Der Waffenmeister und Nalfein setzten sich, jeweils auf eine Seite des Bettes und beide probierten mit beruhigendem, aber kräftigen Händedruck, Sorns Köper auf dem Bett zu fixieren. Überraschender Weise mussten sich die Kämpfer gleich darauf mehr anstrengen, als gedacht. Der immer so zaghafte und nicht so muskulöse Körper des Vhaeraunpriesters, entwickelte eine ungeahnte Stärke und stemmte sich mit voller Kraft gegen die beiden, während sie versuchten, Sorn im Zaum zu halten. Letztendlich begann der Kleriker sich aus der Not heraus mit den Füßen zu wehren und trat aus. Dabei traf er Nalfein am Kinn und als Zaknafein einschreiten wollte, wurde er von dem Stiefelabsatz am Auge getroffen. Ein kurzer Moment der Verwirrtheit zeichnete sich auf den Gesichtern der Krieger ab und schon folgte die Lösung. Der Waffenmeister setzte sich ohne Rücksicht auf Verluste einfach auf die Beine von Sorn. Dieser währte sich weiterhin, doch das Gewicht von Zak machte die plötzlich auftretende Stärke des Priesters wett und er konnte nur noch den Kopf und Oberkörper von einer Seite auf die andere werfen. Dazu gesellten sich Rufe des Klerikers, die durch den Knebel im Mund nur dumpf durch den Raum hallten.
Nach wenigen Minuten schien die Kraft von Sorn nachzulassen und er lag mit zusammen gebundenen Händen auf dem Rücken, dem Knebel im Mund und unter der eisernen Zange des Waffenmeisters auf dem Bett und weinte hemmungslos. Ihm wurde heiß und kalt zu gleich und sein Gesicht glühte wie von Fieber. Aber er war ruhiger geworden.
„Dein Bruder hat Mut“, entgegnete Zaknafein, der sich die getroffene Stelle an der Augenbraue rieb und bedachte Nalfein mit einem warmen Lächeln.
Der jüngere Kämpfer schaute zu dem Waffenmeister hinüber und antwortete leise. „Mich hat er direkt am Kinn getroffen. Ich werde in Zukunft wohl aufpassen müssen und darf ihn nicht unterschätzen.“
„Ich werde noch ein wenig warten“, meinte Zak etwas aufmunternd, „Doch leider muss ich euch beide bald verlassen. Meine Abwesenheit wird nicht lange unentdeckt bleiben. Du wirst sehen, er beruhigt sich irgendwann wieder und wenn wir Glück haben ist er bald so erschöpft, dass er einschläft.“ Leider brachte er diesmal kein Lächeln mehr zustande und alle Anwesenden fielen in trauerndes Schweigen.
Sorn bekam von all dem Gesprochenen nicht viel mit. Er lag einfach hilflos im Bett und gab hin und wieder ein tiefes Grollen von sich ohne es zu merken. Er war wütend auf Nalfein und Zaknafein, aber dennoch froh, dass beide bei ihm waren. Nachdem die erste Welle des Schocks allmählich nachließ, schloss Sorn seine Augen und gab sich ganz den Erinnerungen und Trauer hin.
Vor sich sah er Shar, seinen Liebsten, wie er ihn anstrahlte und sich lächelnd an die Brust des Klerikers schmiegte. Die dünnen Ärmchen des Jungen legten sich um Sorn und er konnte die Berührung förmlich spüren. Er glaubte daran, dass er nicht träumte. Er erkannte die sanften Gesichtszüge von Shar und seine tiefblauen Augen, die ihn mit solch einer Intensität fesselten, dass er sich darin gefangen sah. Sorn drückte den jungen Halbdrow fest an sich und wollte ihn nie wieder los lassen. Er hörte sich sagen, dass nun alles in Ordnung sei und Shar niemals wieder in seinem Leben Angst haben musste, denn jetzt wäre der Junge in Freiheit. Nhaundar und kein anderer Dunkelelf würde dem jungen Halbdrow jemals mehr ein Leid antun können. Dabei stiegen dem Kleriker weitere Tränen in die Augen und er fühlte einen tiefen Stich im Herzen. Sein Innerstes drohte zu zerspringen und nichts konnte es aufhalten.
Dann sah Sorn Shar erneut, wie er ihn anlachte. Denn der Gedanke an ihre erste wirkliche Annäherung kehrte zurück in die Seele des jungen Priesters. Er erkannte den Halbdrow in seinem Bett liegen und ihn neugierig mustern. Sorn hob die Hand und mit einem Finger streichelte er sanft und behutsam den Bauch von Shar.
„Hier spüre ich dich, immer und überall. Du bist ein Teil meiner Selbst und ich habe dich viel zu gern, um dich gehen zu lassen.“
Der Junge strahlte über das ganze Gesicht und ein Finger drückte sich zaghaft in den Bauch von Sorn und beide fühlten sich mit einmal ungezwungen und absolut frei.
Wie sehr er Shar liebte und wie sehr er sich wünschte, seinem Liebsten ein besseres Leben schenken zu können. Ihm die Oberfläche zu zeigen, Lesen und Schreiben beizubringen und zusammen mit Nalfein auf Abenteuer zu gehen. Alle drei wollten sie die Welt auf den Kopf stellen, so, damit sich ein jeder an sie erinnern sollte.
Doch kaum hatte Sorn den Gedanken beendet, spürte er, wie eine neue Welle des unbeschreiblichen Kummers ihn zu übermannen drohte. Er öffnete die Augen und ein erstickter Schrei wurde unter dem Knebel hörbar. Erneut versuchte er sich unter den Griffen seines Bruders und Zaknafein zu wehren, doch beide ließen ihn nicht los. Der junge Priester drehte und wendete sich, aber er gestand sich ein, dass keine Möglichkeit bestand, aus dem gnadenlosen Bewachen der Krieger zu entkommen. Sie gaben keinen Zentimeter nach. Stattdessen fühlte Sorn nun die Hände von Nalfein, die sich tröstlich auf die Schultern des jüngeren Bruders legten und ihn so auf den weichen Kissen hielten. Zaknafein blieb auch nicht untätig und legte eine Hand besänftigend auf die Brust des Priesters. Dabei erlebte er, wie der Körper unter ihm leicht zitterte und bebte, als würde es keinen weiteren Morgen mehr geben.
Sorn wusste, er war nicht alleine. Doch leider konnte ihm niemand den unsäglichen Schmerz nehmen, der sich immer weiter durch seine Adern rauschte und jede Faser seines Seins berührte. Das Herz klopfte laut und immer heftiger. Der Puls hämmerte wild und letztendlich drehte der Kleriker den Kopf von einer Seite auf die andere.
Alles nur ein Alptraum, ein schlimmer Traum aus einer fernen Welt. Gleich würde er aufwachen und nichts von alldem wäre jemals passiert, sagte sich Sorn. Doch schon redete er sich dies ein, da traten ihm neue Tränen in die Augen.
NEIN, schrie er innerlich und sah Shar erneut vor sich. Gestern Abend hielt er ihn in einer sanften Umarmung fest und dann hatte er den Jungen einfach zurück gelassen. Wieso war er nur so ein Feigling? Wenn er auf Nhaundars Spiel eingegangen wäre, dann würde Shar noch Leben. Er war Schuld und niemand anderer. Er hatte Shar einer aufgestachelten Horde eigenhändig in die Arme gespielt und sich nicht weiter um ihn gekümmert, schimpfte sich Sorn. Wie konnte er nur? Er war selbstsüchtig, wollte kein Risiko eingehen und alleine wegen seiner Angst war Shar für immer von ihm gegangen. Was hatte er nur getan, brüllte der junge Priester sich gedanklich an und dann fühlte er, wie er allmählich zusammenbrach. Mit heftigem Atmen wand er sich noch einige Male in den starken Griffen der beiden Krieger und wurde schwächer. Er ließ sich in das Bett drücken und blieb letzten Endes ruhig liegen. Mit einem Schluchzen liefen Sorn nochmals die Tränen über die Wangen. Seine Haut glühte vor Qual und Anstrengung und er sank alsdann kraftlos in einen leichten Schlaf. Die Trauer und Erschöpfung hatte sich ganz seiner bemächtigt. Der Körper erschlaffte und der Kopf legte sich zur Seite.
Zaknafein und Nalfein beobachteten den jungen Kleriker ganz genau und als sie sich sicher sein konnten, dass Sorn vor Entkräftung und Kummer eingeschlafen war, rührten sie sich wieder. Der Waffenmeister stand auf und ließ dabei den Blick auf dem ruhenden jungen Drow liegen. Nun tat es Nalfein dem älteren Kämpfer gleich und erhob sich nun ebenfalls von dem Bett seines Bruders. Er seufzte laut und schaute anschließend zu Zak hinüber.
„Ich danke dir“, flüstere der ältere Zwilling und bedankte sich freundschaftlich.
Der Waffenmeister erwiderte die Geste und sprach im gleichen Tonfall, leise und bescheiden. „Ich habe euch zu danken. Tut ihr mir einen Gefallen? Aber erst, wenn es Sorn besser geht?“
Nalfeins Augen weiteten sich einen Moment, doch dann hatte er sich wieder im Griff und schenkte dem stolzen Krieger seine ganze Aufmerksamkeit.
„Ihr solltet aus der Stadt verschwinden. Kehrt erst zurück, wenn es deinem Bruder besser geht. Erst dann, wenn er über den Verlust des Herzens hinweg gekommen ist. Wir sind Drow, doch im Gegensatz zu manch anderen unserer mörderischen Rasse haben wir Gefühle und sind nicht so herzlos wie sie. Wir verstecken sie nicht, aber wir verstecken uns. Genau das solltet ihr tun, euch einen guten Unterschlupf suchen und abwarten und die Wunden heilen lassen. Ich fürchte, dass Nhaundar nach euch suchen lässt. Doch der widerlichen Wanze begegnet ihr besser nie wieder. Geht und versucht in die Zukunft zu schauen.“ Dann stoppte Zaknafein einen kurzen Augenblick, wagte einen Blick auf den schlafenden Priester und wendete sich erneut Nalfein zu. „Natürlich will ich euch keine Vorschriften machen, aber es ist eine Möglichkeit von vielen. Wenn ihr nach Rache sinnt, dann erst, wenn eine Menge Zeit vergangen ist. Vergesst dabei aber nicht, der Junge hat endlich seinen Frieden gefunden und vielleicht ist es auch das Richtige.“ Der Waffenmeister schluckte und noch während er redete, hatte er selbst mit den Tränen zu kämpfen.
Nalfein hörte sehr interessiert zu und erkannte die Wahrheit in den Worten. Denn auch er verspürte die kurzzeitige Leere, die Sorn fühlte. Genauso wusste er, dass sie beide nur mit offenen Augen in eine neue Zukunft gehen konnten. Gemeinsam könnten sie irgendwann wieder durch Dick und Dünn gehen und die Zeit sollte angeblich alle Wunden heilen. So ging Nalfein einmal um das Bett herum und umarmte den Waffenmeister herzlich. Zaknafein erwiderte nur zu gerne die Geste und wusste, er war nicht alleine und hatte wohl gut gesprochen. Wenn er auch nur die Zwillinge in Gefahr sehen würde, dann hätte er selbst auch kein ruhiges Leben mehr. Wie sollte er am Ende dann den eigenen Sohn schützen?
Einige Minuten brauchten beide und erst dann ließen sie von einander ab.
„Ich wünsche euch beiden alles Gute. Wenn ihr wieder in der Stadt seid, dann wisst ihr ja, wie man mich erreichen kann“, versuchte der stolze Krieger sich mit einem Lächeln zu verabschiedenden.
Nalfein nickte anerkennend und wohlwissentlich und hatte das ungute Gefühl, dass dies hier womöglich ihr letztes Treffen gewesen war. Doch er ließ sich nichts anmerken und setzte sich nun auf sein eigenes Bett.
Zaknafein Do’Urden verabschiedete sich still und leise von dem Vhaeraunpriester und prägte sich das junge Gesicht ein. Er legte sich eine Hand aufs Herz und diese anschließend auf das des Klerikers. Um nicht mit einem weiteren Gefühlsausbruch, den schlafenden Kleriker zu wecken, drehte er sich langsam um, blickte ein letztes Mal zu dem Kämpfer hinüber und verschwand ohne ein weiteres Wort zu sagen durch die Tür. Die Zwillinge blieben alleine zurück.
Viele Stunden später. Die Nacht war bereits in der Stadt der Spinnenkönigin herein gebrochen und das Licht von Narbondel neigte sich allmählich seinem niedrigsten Stand. Nalfein Dalael lag auf seinem Bett und hatte die Augen geschlossen. Seit Zaknafeins Verschwinden versuchte er über seinen jüngeren Bruder zu wachen, so gut es ihm möglich war. Seit Sorn eingeschlafen war, war er jedoch nicht mehr erwacht und das konnte nur gut sein. Allerdings forderten nun die eigene Erschöpfung und die schlechten Nachrichten des Tages ihren Tribut. Nalfein glitt langsam in einen tiefen Schlaf, doch zuvor betete er stumm für sich, seinen Bruder und selbst für Shar.
„Vhaeraun. Mein Maskierter Fürst. Ich war dir nie ein so treuer Diener wie mein Bruder gewesen. Doch erhöre mich und helfe ihm. Gewähre Sorn die innere Ruhe und stütze ihn in seinem Verlust. Nimm’ dich der Seele des Jungen an …“, dann übermannte ihn plötzlich die Müdigkeit und mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er augenblicklich ein.
Sorn Dalael, der junge Priester erwachte im selben Moment aus seinem Schlaf. Es fühlte sich so an, als ob ihn blitzartig eine höhere Macht gewaltsam aus dem Abgrund gezogen hätte. Als er die Augen öffnete war alles um ihn herum dunkel und ohne Leben. Lediglich das leise Ein- und Ausatmen von Nalfein kündigte davon, dass der Kleriker sich nicht alleine in ihrem Zimmer befand. Schleppend wand sich Sorn einige Male auf der Matratze hin und her und spürte, wie all seine Glieder durch die Fesseln und dem Liegen taub waren. Der Knebel saß noch an der Stelle, wo ihn der Waffenmeister gut festgezurrt hatte. Was auch der junge Drow anstellte, er konnte ihn sich nicht abstreifen. Er drehte den Kopf mehrmals hin und her und rutschte auf und ab. Doch Zaknafein schien wirklich vortreffliche Arbeit geleistet zu haben. So verhielt es sich auch mit den Fesseln an seinen Handgelenken, die ihm Nalfein verpasste. Etwas entmutigend seufzte Sorn leise vor sich hin und fühlte die Leere in seinem Herzen wiederkehren. Erneut sah er einen schmunzelnden Shar vor sich, der ihn einfach ohne jedweden Groll mit den tiefblauen Augen anschaute. Doch mit einmal empfand der Vhaeraunpriester etwas, dass ihm vertraut vorkam. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er nicht ohne Grund aus dem Schlaf zurück geholte wurde. Noch bevor er sich seinen Instinkten stellen konnte, glimmte mit einem Mal eine Kerze auf dem Tisch in dem kleinen Zimmer der Zwillinge auf. Erschrocken sog Sorn die Luft durch die Nase ein und blieb wie erstarrt auf der Seite liegen. Mit den Augen verfolgte er aufmerksam den Rauch, der sich langsam und gemächlich in die Lüfte erhob. Dann weiteten sich seine bernsteinfarbenen Augen und er erkannte einen Schatten in der Ecke, der immer mehr an Masse gewann.
„Es freut mich, dass du erwacht bist“, hallte plötzlich eine bekannte Stimme in Sorns Kopf und es fühlte sich an, als würden tausend Stimmen gleichzeitig zum Sprechen ansetzen.
Der geschwächte Körper des Priesters zuckte zusammen und nun spürte er jäh eine göttliche Macht, die sich in diesem Zimmer befand. Sie ergriff von ihm Besitz und die Tränen der Erhabenheit traten ihm in die Augen. Daraufhin versuchte er den Schatten in der Ecke, den er zuerst als Einbildung abtun wollte, besser erkennen zu können. Doch was sich vor ihm auftat, brachte sein Herz erneut zum rasen.
Ein attraktiver Dunkelelf schritt soeben von der Finsternis in den Schein der Kerze. Er trug eine schwarze Lederrüstung, während ein Waffengürtel mit Kurzschwert und Dolch an der Hüfte prangten. Weiße Haare fielen ihm spielerisch über die Schultern und auf dessen maskiertem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab.
„Vhaeraun, mein Maskierter Fürst“, dachte Sorn bei diesem Anblick und er spürte, wie sein ganzer Körper vor der Größe seines Gottes zu zittern begann.
„Sei mir gegrüßt, mein treuer Diener“, lächelte Vhaeraun verschmitzt und bedachte den gefesselten Kleriker mit einer Mischung aus Amüsement und ehrlichem Respekt. „Die beiden scheinen gute Arbeit geleistet zu haben“, hallte die göttliche Stimme durchs Sorns Kopf und schritt dabei weiter auf das Bett des Priesters zu.
„Was er nicht sagt“, dachte sich der junge Drow und musste augenblicklich wieder seufzen. „Mir würde es wohl eindeutig besser gehen, wenn ich nicht wie eine kostbare Ware sicher verschnürt wäre.“
„Eine kostbare Fracht, die man hüten und beschützen sollte“, lachte die Stimme Vhaerauns in Sorns Kopf, während der Avatar unmittelbar vor dem Bett des jungen Dunkelelfen zum Stehen kam.
Der Kleriker riss erschrocken beide Augen auf und wurde sich im gleichen Moment bewusst, dass er seinem Herrn nichts verheimlichen konnte, nicht einmal seine Gedanken.
„Verzeiht“, flüsterte der Vhaeraunpriester und wieder flossen die Tränen über seine Wangen. „Aber sagt mir, dass ist doch nur ein Traum. Ein Trugbild, das mir schon einmal zum Verhängnis wurde. Mein Maskierter Fürst, seit ihr das wirklich?“ Sorn spürte die Antwort, bevor er die Frage überhaupt beendet hatte. Dennoch gab es immer noch die Möglichkeit, dass ihm sein Verstand auf Grund der Trauer einen Streich spielen wollte.
„Ein Hirngespinst deiner Seele?“, fragte der attraktive Dunkelelf und ließ ein weiteres Lächeln auf seinen Gesichtszügen erscheinen. Dann erschallte lautes Gelächter und erschütterte dabei den Kleriker in Mark und Bein. Als der Avatar sich langsam wieder beruhigte, blickte er mit rot funkelnden Augen zu dem gefesselten jungen Drow hinunter und setzte sich ohne Umschweife auf die Bettkante. „Sorn Dalael, du bist mir ein treuer Diener, aber lass’ dir eines gesagt sein, ich bin dein Gott, so wahr wie du mich sehen willst.“
Was Sorn allerdings in diesem Blick erkannte schien in jenem Moment mehr zu sein, was ein Gläubiger sich jemals vorzustellen vermag. Die roten Augen ähnelten einem Ozean aus Millionen und Abermillionen von Himmelskörpern. Wellen aus Sternenlicht wogten nach oben und nach unten und dahinter erstreckte sich ein unendliches Universum aus Allem und Nichts. Eine schwarze Leere aus Finsternis brach sich an der aufsteigenden Sonne und überflutete sein Herz mit Wärme und Geborgenheit. Sorn spürte, wie er in ein Nebel aus Erregung eintauchte und dass er wahrhaft seinen Gott vor sich sah. Wieder und wieder befeuchteten sich seine Augen und sein Puls raste vor Aufregung und Angst.
„Du erkennst die Wahrheit, mein Diener. So wie einst dein Vater und dein Onkel vor dir“, antwortete Vhaeraun verschmitzt und hob dabei eine Hand und legte sie auf den Kopf des Priesters.
Erschrocken über die Erkenntnis und der absoluten Erhabenheit, die sich seiner bemächtigte, beobachtete er aufmerksam die Hand des Gottes und bei der Berührung begann er erneut zu zittern.
„Mein Maskierter Fürst, was wünscht ihr von mir?“, dachte sich Sorn und fuhr zusammen, als plötzlich der Knebel in seinem Mund verschwunden war. Eilig holte er tief Luft und seufzte, schloss dann seine Augen und verstand nicht, ob er vielleicht nicht doch schlief und träumte oder wach war und sich alles nur einbildete.
„Nun kannst du von Angesicht zu Angesicht mit mir sprechen“, meinte Vhaeraun amüsiert und kannte die Gedanken des jungen Drow nur zu gut.
„Aber … aber … mein Bruder“, stammelte Sorn leise und schaute nervös zu Nalfein hinüber, der jedoch friedlich zu schlafen schien.
Der Avatar Vhaerauns folgte dem Blick und kicherte.
Der junge Priester wand erschrocken seine volle Aufmerksamkeit wieder dem göttlichen Besucher zu und sagte sich stumm: „Er wird noch wach.“
„Mach dich nicht lächerlich, Sorn Dalael“, entgegnete der Maskierte Fürst und wusste, dass er wirklich klug gewählt hatte. Sorn lebt sein Leben für seinen Glauben und das alles mit Witz und Humor. „Dein Bruder wird so lange schlafen, wie ich es für wünschenswert halte. Nalfein wählt sich gerade die schönsten Frauen von Toril in seinen Träumen aus.“
Sorn wurde bei diesen Worten rot und war in diesem Moment froh, dass man es ihm bei der Dunkelheit, sowie aufgrund der ebenholzfarbenen Haut, nicht ansehen konnte. Doch leicht irritiert weiteten sich seine bernsteinfarbenen Augen und er schämte sich.
„Wer wird denn … wer wird denn …“, mahnte der Avatar Vhaerauns ruhig und konnte sich eines Lächelns nicht erwähren. „Ihr beiden seid mutig und trotz vielen Gefahren, dann darf der Geist sich auch erholen.“
Doch diese Worte bewirkten bei Sorn statt Aufmunterung eher Betrübnis. Er war nicht mutig, denn er war ein Feigling. Augenblicklich kamen die Erinnerungen und all die trauernden Gefühle um Shar in ihm hoch. Er sah den Jungen vor sich, wie er weinte und von neuem schien ihn der Verlust übermannen zu wollen.
Nun schwieg auch Vhaeraun, denn er teilte mit Sorn in diesem Moment alles. Die Gedanken und selbst die maternden Gefühle. Doch er kannte ein Geheimnis, dass der junge Diener nicht einmal erahnte.
„Die Dunkelelfen in dieser Stadt sind Feiglinge! Sie bekämpfen sich, anstatt sich gegen die eigene Bedrohung zu wenden“, sagte Vhaeraun ärgerlich und schnaubte verächtlich. Seine Haare verfärbten sich plötzlich rot und seine Augen glühten gefährlich auf. „Diese Stadt, die dem stinkenden Insekt dienlich ist!“ Dann erklang von dem Avatar ein Geräusch, das einem Seufzen gleichkam und die Haare wurden wieder weiß. „Doch die Zukunft wird vieles offenbaren …“, flüsterte Vhaeraun nun ruhig vor sich hin und bedachte den jungen Priester mit einem wissenden Blick.
Sorn hatte kurzeitig Angst, die rasch wieder verflog. Dann schämte er sich mehr denn je und wurde sich schlagartig bewusst, dass er vor dem Maskierten Fürsten nichts verheimlichen konnte. „Aber Shar hatte …“, warf der jüngere Zwilling ein und es schien ihm sogar egal, dass er seinen Gott unterbrochen hatte.
„Shar lebt!“, erwiderte der Avatar scharf und erhob sich plötzlich vom Bett.
Sorn erschrak und wenn er nicht schon auf dem Bett gelegen hätte, dann wäre er womöglich umgefallen. Seine Beine fühlten sich schwach und unendlich taub an und sein Herz begann wie wild zu rasen. „Er … er lebt?“, stammelte der Kleriker ungläubig und beobachtete dabei Vhaeraun aufmerksam. Wie war das Möglich? Was war geschehen?
Der Maskierte Fürst drehte dem Priester den Rücken zu und wirkte ganz in Gedanken versunken. Dann wand er sich abrupt um und die roten Augen glühten mit einem hellen Licht auf. „Der Junge lebt und das wird er wohl noch viele Jahrzehnte tun. Aber merke dir, die Zukunft bringt ihn in sein eigenes Leben. Aufgaben warten auf ihn und …“, dann brach Vhaeraun mitten im Satz ab.
Sorn starrte voller Staunen zu seinem Gott hinüber und spürte, wie sein Blut in den Adern vor Aufregung rauschte. Ein unheimliches Glücksgefühl nahm von ihm Besitz und er hätte in diesem Moment die ganze Welt umarmen können. Wenn Shar lebt, sagte sich der Priester, dann muss ich ihn finden. Zusammen mit Nalfein und Shar gehen wir auf die Oberfläche und …
„Das wirst du nicht tun!“, unterbrach der Avatar Sorns Gedanken barsch.
„WAS?“, rief der Kleriker aufgebracht und war der Meinung, er hätte sich verhört.
„Bleib ruhig, Sorn Dalael. Ich werde dir nur soviel verraten, dass Shar dir auf ewig dankbar sein wird, auch wenn er es noch nicht weiß.“ Die Stimme des Gottes hallte plötzlich erneut wie Tausende in Sorns Kopf wider und so wusste der Drow, dass nur er die Worte Vhaerauns vernehmen konnte. „Auf dich und dein Bruder warten große Aufgaben. Ich kenne dich, mein Diener, du wirst sie meistern. Du hast alles im Leben erreicht, was sich manche in jungen Jahren nicht einmal erträumen können. Frage nicht nach dem „Wie“ und „Warum“, denn mein Wille wird unergründlich bleiben.“
Sorn hörte aufmerksam zu, obwohl er wütend wurde und nicht einmal wusste warum. Wie konnte das alles nur wahr sein, fragte er sich. Er wollte Shar retten, ganz egal ob es nun der Wille seines Gottes war oder nicht. Daraufhin erschien ein Schmollmund auf dem Gesicht des jungen Klerikers und dann versuchte er Vhaeraun mutig anzuschauen.
„Du hast ihn bereits gerettet. Erinnerst du dich an die Phiole von gestern Nacht?“, wollte der Avatar wissen.
Sorn nickte und wusste nicht, was diese Frage nun zu bedeuten hatte.
„Das war kein Schmerzmittel, sondern ein Mittel um den Scheintod herauf zu beschwören. Seine Lebensfunktionen wurden auf das Niedrigste herunter gesetzt und jeder denkt, der Köper wäre tot“, lachte Vhaeraun.
„WAS?“, rief der Priester nun zum zweiten Mal und wieder zitterte er am ganzen Leib. „Aber … aber …“, stammelte er und fühlte, wie ihm langsam die Sinne schwinden wollten. Zuviel Aufregung auf einmal und eine unerwartete Nachricht jagte die nächste.
Der Avatar hob die Hand und bedeutete so, dass Sorn Schweigen sollte.
„Diese Phiole habe ich dort platziert, wo du sie finden solltest. Der Junge wird in Sicherheit sein und du warst es, der ihn gerettet hat. Er kehrt niemals wieder zu Nhaundar zurück, denn das Leben im Unterreich ist ihm nicht vorherbestimmt. Irgendwann werdet ihr euch wieder sehen.“
Sorn wusste nicht, was er denken, noch was er fühlen sollte. Diese Nachrichten, ob positiv oder negativ glichen einem brodelnden Vulkan und einer unendlichen Leere, die wieder von ihm Besitz ergreifen wollte. Wieso durfte er Shar nicht auf der Stelle wieder sehen und was hatte es mit dem Unterreich auf sich? Die Gedanken wirbelten wild durch seinen Kopf und er musste erneut die Augen schließen.
Vhaeraun lächelte abermals und wusste, dass er wirklich den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Doch wichtig war nun, dass alles von alleine seinen Verlauf nahm. Außerdem war er sich sicher, dass er in der Tat einen wahren Diener des Glaubens besaß, jemand der seine Aufgaben mit Herz und Verstand erledigen würde. Für ihn gab es vorerst nichts mehr zu tun. Einfach nur beobachten und abwarten.
Während Sorn immer noch mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag, näherte sich der Gott dem jungen Priester und legte ihm eine Hand auf die Stirn. „Schlafe und erwache mit neuem Lebensmut. Mein Segen begleitet dich.“
Mit einem letzten Gedanken löste Vhaeraun die Fesseln um die Handgelenke des Drow und dann wand er sich von ihm ab. Langsam und bedächtig schritt er daraufhin zu der dunklen Ecke des Zimmers hinüber. Der Körper löste sich allmählich auf und verwandelte sich in schwarzen Schatten. Von einer auf die andere Sekunde verschwand der Gott und zurück blieben die beiden Zwillinge.
Sorn spürte kaum die Berührung der göttlichen Macht auf seinem Kopf und schon wurde sein Körper leicht und frei. Ein Gefühl der absoluten Glückseeligkeit nahm ihn gefangen und zum ersten Mal, seit den Stunden der Schreckensnachricht, wusste der junge Priester, er konnte zufrieden sein. Er glitt in den Schlaf über und erwachte erst wieder am Morgen.