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Dem Wahnsinn so nah

By: Elbenstein
folder German › Books
Rating: Adult ++
Chapters: 47
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Disclaimer: I do not own the Forgotten Realms books. I do not make any money from the writing of this story.
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35. Kap. Aug um Aug, Zahn um Zahn

35. Kapitel
Aug um Aug, Zahn um Zahn

In der gleichen Nacht, nur einige Straßen vom Gasthaus der Zwillingsbrüder entfernt, bekam auch ein anderer Dunkelelf Besuch.
Tarlyn Myt’tarlyl, Sabrar und die zehn Soldaten trafen vor einer Stunde in der Stadt der Spinnenkönigin ein. Zusammen hatte die kleine Gruppe aus Eryndlyn allen Gefahren getrotzt, mehr als vier Monate einen harten Weg auf der Oberfläche hinter sich gebracht, um am Ende nun endlich das Ziel vor Augen zu haben. Sie waren erschöpft, ausgelaugt, doch der Vaterpatron trieb alle zur Eile an. Tarlyn ließ keine Beschwerden zu und durch geschicktes Fragen, was Sabrar gerne übernahm, erfuhr die Gruppe recht schnell, wo sich das Anwesen des Sklavenhändlers Nhaundar Xarann befand.
Tarlyns Herz raste vor Aufregung und bei dem Gedanken seinen lang ersehnten Enkel in die Arme schließen zu können - nachdem er dem widerlichen Dunkelelfen die Kehle eigenhändig mit dem Dolch aufgeschlitzt hätte - huschte ein Lächeln über sein Gesicht. So beschleunigte er seine Schritte und die Soldaten waren verblüfft, dass der Hohepriester solch ein schnelles Tempo vorlegte.
Schließlich standen sie vor dem großen, eisernen Tor des Hauses Xarann. Allen voran war es der Vaterpatron, der ohne Rücksicht zu nehmen, dagegen hämmerte, um Einlass zu erhalten. Lange Momente tat sich nichts, doch plötzlich wurde eine Luke geöffnet. Heraus schaute ein verärgerter Drowsoldat und musterte zur späten Stunde die ungebetenen Gäste auf der Straße.
„Ich begehre augenblicklich Einlass“, fauchte Tarlyn ungehalten und konnte kaum noch abwarten, endlich dem Sklavenhändler persönlich gegenüber zu stehen.
„Es … es ist Nacht“, erwiderte der wachhabende Dunkelelf stockend.
Es war deutlich zu erkennen, dass der Soldat von etwas hinter der Tür instruiert wurde.
Bei diesem Jemand handelte es sich um Yazston. Zusammen hatte er sich mit einigen seiner Kämpfer, auf Grund des unerwarteten Lärms, am Tor versammelt und rechnete mit dem Schlimmsten. Immerhin bestand auch die Möglichkeit, dass Dantrag Baenre, wie versprochen, mit Soldaten des Hauses Baenre wiederkommen konnte. Doch trotz der Abwesenheit des Waffenmeisters, erkannte Yazston den Hohepriester aus Eryndlyn wieder. Er fragte sich fieberhaft, was dies bedeutete und bevor jemand aus den umliegenden Gebäuden mehr von dem Krach auf der Straße mitbekam, beschloss der Hauptmann der Soldaten, dem Vaterpatron und seinem kleinen Gefolge Einlass zu gewähren.
Keine Minute später standen Tarlyn Myt’tarlyl, Sabrar und die Gefolgsmänner des Hohepriesters im Innenhof des Sklavenhändlers. Alle hatten ihre Hände an den Schwertknäufen ihrer Waffen und es entstand eine knisternde Atmosphäre, wo keiner wagte sich zu rühren.
Nhaundar bekam den Lärm selbst in seinen Privatgemächern mit. Dipree und Ranaghar warteten bei ihm, um den Sklavenhändler nach bestem Wissen und Gewissen zu versorgen. Der Leibdiener aus reiner Schadenfreude und der Magier, um die Fortschritte seines neusten Schmerzmittels hautnah verfolgen zu können. Nhaundar lag auf dem Diwan, der junge Dunkelelfensklave war mittlerweile weggebracht worden, damit er den Herrn des Hauses nicht störte. Der Sklavenhändler hielt sich unter den unerträglichen Schmerzen seiner beiden gebrochenen Kiefer wacker und bediente sich zum Sprechen der Zeichensprache der Drow.
„Was ist da los? Ist es endlich der Priester?“, wollte Nhaundar wissen und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der jungen Vhaeraunpriester vor ihm stand, um ihn von den qualvollen Schmerzen zu befreien. Bei diesem Gedanken verzog sich sein Gesicht gleich erneut vor Qual und erst recht, wenn er sich an die Umstände zurück erinnerte.
„Mein Herr …“, antwortete Ranaghar und schmunzelte in sich hinein. „Ich konnte den Kleriker immer noch nicht finden, wie ich bereits berichtete. Es scheint ganz so, als würde er sich schützen, um nicht gefunden zu werden.“
Dipree konnte dabei ein Lächeln nicht unterdrücken und wünschte sich, dass der junge Drow Nhaundar keinen Besuch mehr abstatten würde. Er sollte aus der Stadt verschwinden und nie wieder einen Fuß nach Menzoberranzan setzen.
„Dann sagt mir, was da unten geschieht?“, fragte der Sklavenhändler gereizt mit den Händen und riss vor Neugier oder auch aus Angst weit die Augen auf, als er plötzlich laute Stimme im Gang hörte. Sogleich wurde dann auch noch die Tür zu seinen Gemächern aufgerissen.
Dipree und Ranaghar sprangen im selben Augenblick auf und dachten beide an Dantrag Baenre. Sie stellten sich unverzüglich und so unauffällig wie möglich, mit viel Abstand zum Diwan ihres Herrn, in einer Reihe auf. Egal, was nun kommen sollte, sie wollten sich in Sicherheit bringen können, um bei einem eventuellen Kampf eilig das Weite zu suchen. Doch herein kam nicht der Waffenmeister, sondern Yazston. Der stolperte und wäre beinahe der Länge nach auf dem Boden gelandet. Dicht dahinter drängte ein wutentbrannter Tarlyn herein. Seine bernsteinfarbenen Augen glühten bedrohlich in dem dämmrigen Kerzenlicht auf und er stieß sein Langschwert gefährlich dem Hauptmann der Soldaten in den Rücken.
„Was?“, brachte Nhaundar schmerzerfüllt und mit zusammengepressten Lippen hervor, brach allerdings sofort wieder ab, als ihm die Tränen in die Augen schossen.
Der Vaterpatron des Hauses Myt’tarlyl schubste Yazston nochmals mit der Waffe an und trieb ihn damit zu einem staunenden Dipree und einen verblüfften Ranaghar hinüber. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den liegenden Nhaundar, der auf seinem Diwan lag und überrascht drein schaute.
„Sabrar, nimm’ diese Gestalten und bringe sie hinaus. Die Soldaten sollen warten bis ich fertig bin. Das hier geht nur dieses Insekt und meine Wenigkeit etwas an“, zürnte Tarlyn böse und unterstrich seine Aussage, indem er nun auch noch den Dolch aus seinem Waffengürtel zog.
Sabrar verstand und nickte seinem Freund mit allem ihm gebotenen Respekt zu. Dann erhob er seine Stimme und bat den Leibdiener, Magier und den Hauptmann hinaus auf den Flur. Die zehn Soldaten folgten auf dem Fuß und erkannten ihren Herrn kaum noch wieder. So aufgebracht hatten sie ihn noch niemals erlebt, aber waren froh, selbst ihm nicht in die Quere zu kommen und kümmerten sich stattdessen um die drei restlichen Dunkelelfen.
Augenblicklich waren Nhaundar und der Hohepriester alleine.
„Ich will den Halbdrow! Jetzt!“, schrie Tarlyn zornig und trat einen Schritt auf den überraschten Sklavenhändler zu.
Nhaundar zuckte zusammen und wirkte im ersten Moment verwirrt, wusste er ja nicht einmal, wer gerade vor ihm stand. Gleichzeitig war er froh, dass dieser Drow nicht Dantrag Baenre war. Dann, ganz plötzlich, erkannte er durch den Schleier der Schmerzen, den Vaterpatron des Hauses Myt’tarlyl, Vater von Iymril, seiner tückischen Geschäftspartnerin wieder. Doch was wollte der Hohepriester hier in Menzobarranzan, fragte sich Nhaundar nervös und verstand plötzlich die Welt nicht mehr. Hatte er womöglich von dem Handel zwischen Iymril und ihm erfahren? Wieso wollte der Hohepriester überhaupt den Halbdrow?
„Ihr seit die anstößigste Kreatur, die mir nach meiner Tochter unter die Augen gekommen ist“, spie Tarlyn voller Hass dem ungläubig drein schauenden Sklavenhändler entgegen, der sich mittlerweile in eine sitzende Position gezwungen hatte. „Das Geschäft mit meiner Tochter ist hinfällig. Mein Fleisch und Blut weilt nicht mehr unter den Lebenden. Das Urteil, dass ich meiner Tochter auferlegt habe, wird auch euch strafen. Es lautet: TOD!“, bellte der Vaterpatron feindselig auf Nhaundar ein und unterstrich seine Aussage mit heftigem Fuchteln des Dolches und betonte das Wort „Tod“ besonders laut. „Meine Tochter dient nun der verräterischen Hure im Abgrund und auf diese Reise werde ich auch euch schicken, wenn ihr mir nicht unverzüglich den Halbdrow namens Shar herausgebt.“ Der Vaterpatron hatte sich so in seine Wut hineingesteigert, dass er vor lauter ungezügeltem Zorn nach Luft schnappte.
Nhaundar riss vor Schreck die Augen auf und dabei verzerrten sich seine Gesichtszüge zu einer qualvollen Fratze. Erneut fühlte er, wie er zum dritten Mal, an einem nie enden wollenden Tag, in einem schrecklichen Alptraum gefangen zu sein schien. Er ergraute und musste sich an dem Polster des Sofas festhalten. Die gebrochenen Kiefer machten ihm zu schaffen und die Aussage des Vaterpatrons trug nicht förderlich zu seinem Wohlbefinden bei.
Fieberhaft durchdachte Nhaundar die Worte und ihm war plötzlich egal, ob Iymril tot war. Doch ihr folgen, dass wollte er nicht. Wieso wollte der Hohepriester den Halbdrow für sich beanspruchen, den er ja gar nicht mehr besaß? Es ergab für ihn alles keinen Sinn und seine Gedanken wirbelten wild herum. Just in jenem Moment erkannte der Sklavenhändler, dass er sich mit dem aufgebrachten Adeligen alleine und ohne Schutz in seinen Gemächern befand. Die glühenden Augen des Vaterpatrons funkelten ihn unheilsvoll an und wieder tat dieser einen Schritt auf den verwirrten Sklavenhändler zu. Die Angst kroch Nhaundar in die Knochen und er zitterte. Er war völlig hilflos.
„Gebt mir meinen Jungen und zwar sofort!“, wiederholte Tarlyn seine Forderung und fand sich nun in der Versuchung, dem unwürdigen Dunkelelfen die Kehle auf zu schlitzen, wie er es schon seit Monaten Sabrar predigte. Doch etwas hielt ihn plötzlich zurück. Er fragte sich, warum er sich die Hände mit dem Blut eines solch widerlichen Subjekts beschmutzen sollte? All die Mühe und Not für jemanden aufbringen, der sich vor seinen Augen gleich in die Hose machen würde? Alles für jemanden, der unwürdiger war, als sein hilfloser Enkel, der sich in den Fängen dieses Drow befand? Oh nein, so einfach wollte er es dem Sklavenhändler nicht machen, schwor sich Tarlyn. Er überdachte kurzerhand seine Drohung.
Nhaundar überlegte währenddessen erschüttert, was er tun könnte. Die Schmerzen ließen ihn jedoch nicht klar denken. Aber eines wusste er, der zornige Vaterpatron befand sich eindeutig in der besseren Position, als er. Genauso wie er wusste, dass der Hohepriester nicht zögern würde, seine Drohung wahr werden zu lassen. Ebenso hätte er nun gerne doch gewusst, wieso Iymril tot war. Eines stand allerdings klar auf der Hand. Er musste die eigene Tochter umgebracht und sich unverzüglich auf die Suche nach ihm und Shar gemacht haben. Aber wieso eine Suche nach dem Jungen, grübelte Nhaundar nach. Da fiel es ihm mit einem Mal wie Schuppen von den Augen. Viele Jahre lagen dazwischen, aber so manch eine Schreckensvision kann auch einen schleimigen Sklavenhändler zum Nachdenken anregen, der doch eigentlich nur Profit kannte. Iymril war die Tante von Shar, dann war der Hohepriester der Großvater des jungen Halbdrow. Handir war verheiratet mit der älteren Schwester und der tote Junge somit der Enkel von Tarlyn Myt’tarlyl. Das konnte einfach nicht sein, schimpfte sich der Sklavenhändler. Wieso passierte so etwas ihm und warum hatte er all die Jahre niemals darüber nachgedacht? Nhaundar hob beide Hände an seine Schläfen, während er versuchte seinen Geist zu ordnen. Das erwies sich jedoch als schwierig, denn sein Kopf hämmerte plötzlich los. Er spürte, wie sich seine Eingeweide verkrampften, während der Drow ihm mit Dolch und Langschwert drohte.
„Vielleicht verschone ich euer erbärmliches Leben, ihr minderwertiger Käfer“, wütete Tarlyn finster und stand jetzt unmittelbar vor dem Sklavenhändler, der die Kraft fand, im Angesicht des Ernstes, aufzustehen. „Ihr widert mich an, genauso wie meine Tochter es getan hat“, keifte der Vaterpatron weiter und dessen bernsteinfarbenen Augen glühten vor Zorn erneut auf.
„Ich … ich …“, stammelte Nhaundar und hielt sich die beiden schmerzenden Kiefer. „Der Junge …“, versuchte er es abermals und wusste nicht, wie er seinem aufgebrachten Gegenüber, und unter der Schonung seines eigenen Lebens, die Nachricht über den Tod des Halbdrow beibringen sollte. Lügen würden ihn nicht weiter bringen, wenn ihm überhaupt irgendetwas helfen könnte. Aber eines war sicher, er hatte die Aussagen von Dipree und Ranaghar und im Notfall würde sie ihm helfen. Das hoffte er zumindest.
„Ich mache euch ein letztes Angebot, um eurer lächerliches Leben zu schonen“, unterbrach Tarlyn Nhaundar bei seinen Überlegungen. „Eine Kiste Gold und ich werde eure Fratze nicht mehr zu Gesicht bekommen. Der Junge kommt auf der Stelle mit mir und ihr werdet ihn nie wieder mit euren dreckigen Händen anfassen oder sonst überlege ich es mir doch noch anders.“ Der Hohepriester schoss daraufhin dem Sklavenhändler entgegen und hob einen Fuß in die Luft. Er nahm Schwung, traf Nhaundars Bauch und dieser fiel auf den Diwan zurück, wo er jämmerlich und winselnd sich im Polster festkrallte und nach Luft schnappte.
„Wird es bald!“, forderte Tarlyn nun mit mehr Nachdruck in der Stimme den Drow auf und hielt den Dolch jetzt bedrohlich vor dessen Gesicht. Die Klinge schimmerte kalt vor den roten Augen Nhaundars.
Der Sklavenhändler schreckte zurück und wünschte sich in jenem Moment, es wäre bereits alles vorbei. Hatten denn nicht schon die beiden Attacken der Waffenmeister ihm eine Strafe zukommen lassen? Musste nun auch noch ein überaus mächtiger Hohepriester Vhaerauns ihm so zusetzen? Diese und viele weitere Fragen kreisten in seinem Kopf, aber er erhielt keine Antwort. Doch für welches Handeln er sich auch entschied, er wollte auf jeden Fall sein Leben retten. Aber wie, wenn das eingeforderte nicht in greifbarer Nähe war und es auch nie wieder sein würde? In Bruchteilen von Sekunden schien das ganze bisherige Leben von Nhaundar Xarann plötzlich vor seinem inneren Auge vorbei zu ziehen. Er spürte die Falle zuschnappen und nach Luft ringen. Es gab kein Entrinnen und Nhaundar entschied sich für die unverblümte Wahrheit. Mit so viel Würde, die ihm in diesem qualvollen Moment zur Verfügung stand, hob er den Kopf, die roten Augen glühten auf und langsam begann er unter Schmerzen zu sprechen.
„Ich … würde gerne …“, nuschelte der Sklavenhändler und musste eine kurze Pause einlegen. Das Sprechen war die reinste Folter. Doch er sammelte sich rasch wieder, schluckte merklich und holte tief Luft. „Der Halbdrow … ist … zum großen Bedauern …“, und wieder brach Nhaundar ab. Zum einen, weil ihn eine neue Schmerzwelle überkam und zum anderen, weil er so Zeit schinden wollte, um die richtigen Worte zu finden.
„Sagt es oder ich werde mich noch vergessen“, drohte Tarlyn und hielt den Dolch nun mittig vor die Augen des Sklavenhändlers, so dass ein Riss auf der schwarzen Haut entstand, wo ein kleines Rinnsal Blut über die Nase floss.
„Der Halbdrow … ist tot“, flüsterte Nhaundar leise, zitterte und staunte über sich selbst, dass er den Mut aufbrachte, die Nachricht so flüssig ausgesprochen zu haben.
Tarlyn Myt’tarlyl erstarrte augenblicklich. Der Dolch sank schlaff in der Hand nach unten. Selbst das Langschwert war plötzlich zu schwer, um es überhaupt anheben zu können. Hatte er soeben richtig verstanden? Fassungslos schaute der Hohepriester zu der jämmerlichen Gestalt des Drow auf dem Sofa.
„Wiederholt es nochmals“, argwöhnte Tarlyn tonlos und wollte diesmal genauer hin hören.
Nhaundar schluckte merklich und spürte seinen eigenen Tod immer näher rücken. Doch wenn ihm schon durch einen zornigen Hohepriester seinem Leben ein Ende bereitet würde, dann nur mit Stolz. Er richtete sich ein wenig auf und erhob die Stimme. „Der Halbdrow ist tot.“
„NEIN!“, schrie Tarlyn unter unglaublicher Qual auf und vergaß wer er war und wo er sich befand. Ein gähnender Abgrund tat sich vor ihm auf und er stürzte hinein. Er beobachtete, wie Nhaundar zusammen fuhr und tiefer in das Sofa einsank. Die Gedanken des Hohepriesters rasten dahin und er erkannte unter Schock, dass er zu spät kam. Er hatte Shar nur kurz kennen gelernt, hatte ihn lieb gewonnen und plötzlich ergriff eine unbeschreibliche Leere von ihm Besitz. Er hatte den Jungen in Händen gehalten und er hatte ihn wieder gehen lassen. War das seine Strafe? Welche Buße wurde ihm auferlegt? Wie konnte so etwas nur geschehen?
Schneller und immer schneller wogten die Gedanken umher und ohne dass er wusste was er tat, ging Tarlyn zum Angriff über. Der Vaterpatron sprang auf einen verdutzten Nhaundar zu, zog ihn am Kragen seiner Robe nach oben und beide blickten sich in die Augen. Bereits im nächsten Moment riss der Hohepriester sein Knie nach oben und rammte es ohne Rücksicht auf Verluste in die Familienjuwelen des Sklavenhändlers.
Es gab einen lauten Aufschrei und Nhaundar krümmte sich unter neuen Schmerzen nach vorne. Doch noch war nicht alles getan. Tarlyn machte seinem Zorn weiter Luft und kaum stand das eine Bein wieder fest auf dem Boden, hob er das andere an und mit dem Knie verpasste er dem winselnden Sklavenhändler eine gebrochene Nase. Es tat einen lauten Knack, ein Schrei von wilder Qual scholl durch die Gemächer und Nhaundar drohte in diesem Augenblick zusammen brechen zu wollen. So schnell hatte aber Tarlyn nicht vor, das niederträchtige Subjekt aus seinen Fingern gleiten zu lassen. Mit kräftigem Schwung drehte er den stöhnenden Dunkelelfen herum, nahm den Dolch fest in die Hand und drückte die kalte Klinge gegen den entblößten Hals des Sklavenhändlers.
„Ihr werdet büßen und im Abgrund der Spinnehure für alles bezahlen, das schwöre ich“, drohte Tarlyn kalt. „Aber das wird nicht heute sein, denn ich beschmutze meine Hände nicht mit euerem habgierigem und verruchtem Blut“, flüsterte der Vaterpatron in Nhaundars Ohr. „Buße tun, das werdet ihr ganz alleine und die Spinne wird es euch für alle Ewigkeiten zürnen.“
Daraufhin ließ er den Dolch langsam, aber nicht tief, über die dünne Haut am Hals des Dunkelelfen fahren, ritzte ihm eine blutige Linie ein und tat es unbewusst dem Waffenmeister des Hauses Do’Urden gleich. Nun besaß der Sklavenhändler zwei Narben.
Nhaundar jaulte angsterfüllt auf und die Tränen schossen ihm in die Augen. Er dachte, er würde sterben, hielt die Luft an und hoffte, dass doch alles nur ein Alptraum war. Ohne Vorwarnung wurde er unvermittelt losgelassen und fiel ungebremst auf den steinharten Boden vor dem Diwan. Mit einem dumpfen Knall landete er auf seinem Hinterteil, verlor dabei das Gleichgewicht und knallte sogleich mit dem Kopf an eine der Sofalehnen auf, kippte zur Seite und anschließend auf den Rücken. Tausende, blickende Sterne flimmerten plötzlich wie Feuer in seinem Inneren auf, während sein Kopf dröhnte, als wäre der Zwergenschmied zurück. Er spürte etwas Warmes aus der Nase fließen, sein Hals tat ihm weh und das Hämmern vernebelte ihm allmählich die Sinne. Nur noch am Rand des Bewusstseins nahm er etwas Feuchtes wahr, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Nhaundar versuchte sich wacker zu halten und nicht in einen tiefen, aber immer näher kommenden Abgrund hinab zu gleiten.
Tarlyn hatte in diesem Moment einen Schwall Spucke auf den am Boden liegenden Sklavenhändlers niederprasseln lassen und dann stellte er einen Fuß bedrohlich auf die Brust des winselnden Dunkelelfen.
„Selbst die Gnade eines Gottes kann euch nicht mehr retten, weder heute, noch in der Zukunft. Ihr seid einfach nur stinkender Abschaum einer armseligen Hure“, knurrte Tarlyn und ließ abrupt von Nhaundar ab. Er konnte den Anblick des Drow nicht mehr ertragen und spürte, dass er gehen musste, bevor er doch noch seinem maßlosen Zorn freien Lauf ließ. Aber der Sklavenhändler war es nicht wert, sagte er sich und wandte sich der Tür zu. Er brauchte Ruhe und Zeit diese Nachricht für sich selbst zu verstehen und zu verarbeiten.

Zur gleichen Zeit warteten vier nervöse Dunkelelfen und die zehn Soldaten aus Eryndlyn vor der Tür und vernahmen deutlich die gellenden Worte zu ihnen durchdringen. Sabrars Herz rutschte nach unten, als er mit anhörte, dass der junge Halbdrow tot sein sollte. Er kannte ihn eigentlich nicht, doch die kurzen Momente, die er in Gegenwart des Jungen verbrachte, machten auch ihn betroffen. Genauso wie er wusste, dass die verstorbenen Chalithra die Mutter dieses unschuldigen Halbdrow gewesen war. Aber letztendlich blieb ihm nichts anders übrig, als abzuwarten und mit Tarlyn über all das, was hinter der geschlossenen Tür vonstatten ging, anschließend zu besprechen. Während er so den Gedanken nachhing, beobachtete Sabrar neugierig Yazston, Ranaghar und Dipree. Die Drei standen gleich neben der Tür und man konnte an ihren Gesichtern ablesen, dass sie nicht unglücklich über den Besuch des Hohepriesters waren. Sie schienen Schadenfroh zu sein. Er selbst fühlte sich nicht Wohl in der Nähe eines Sklavenhändlers von niedrigem Rang, wie Nhaundar, sagte sich der Freund und Berater von Tarlyn und vernahm plötzlich, wie sich eilige Schritte der Tür näherten.
Der Vaterpatron des Hauses Myt’tarlyl stand plötzlich in der aufgerissenen Eingangstür zu den Privatgemächern des Sklavenhändlers und blickte mit glühenden Augen zu seinen Gefolgsmännern hinüber. Dann trat er in den spärlich erleuchtenden Gang hinaus und schloss augenblicklich die Tür hinter sich. Tarlyn sah Sabrar an, dann kam die Reihe an die treuen Soldaten, die ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Freude ihren Respekt zollten. Sie standen zusammen in der Nähe zur großen Treppe und wartete auf Befehle, die da kommen sollten.
Der Hohepriester wand seine Aufmerksamkeit der fremden Drow (Dipree, Ranaghar und Yazston) zu, wusste aber gleichzeitig, dass er vor ihnen nichts zu befürchten hatte. Mit einer Hand winkte Tarlyn Sabrar zu sich und sprach laut und deutlich zu den drei Gefolgsleuten von Nhaundar Xarann. „Euer Herr dürfte Hilfe benötigen …“, dann bedeutete er den drei umherstehenden Männern, sich ihm zu nähern und gab gleichzeitig Sabrar zu verstehen, dass er etwas aus seiner Robe holen sollte. Der stets treue Berater nickte und griff tief in die Tasche hinein. Währenddessen sprach der Hohepriester weiter. „Aber euer Herr kann bis morgen früh warten und dies wird euere Entschädigung sein“, lachte Tarlyn plötzlich laut auf und im selben Moment fischte Sabrar einen prall gefüllten Geldbeutel heraus. „Dieses Gold gehört euch und ich lasse jeden am Leben. Überlegt es euch gut“, und dann huschte ein hämisches Grinsen über das Gesicht des Vaterpatrons.
„Ich brauche keine Bedenkzeit“, erwiderte Yazston augenblicklich und bedachte seine beiden Mitstreiter mit einem wissenden Blick.
Ranaghar nickte stumm und Dipree zögerte ebenfalls nicht.
Tarlyn bedeutete Sabrar das Geld zu übergeben und wand sich dann zum Gehen ab. Plötzlich blieb er stehen, denn in der Aufregung hatte er eines vergessen. Er drehte sich erneut zu den drei Dunkelelfen um. Alle hielten in ihrem Tun inne.
„Eines möchte ich gerne noch wissen. Wo ist die Leiche des Jungen?“
Dipree, Ranaghar und Yazston runzelten verdutzt die Stirn. Der Soldatenhauptmann war der Erste, der darauf antwortete. „Wir haben nach der Leiche gesucht, Priester. Doch nichts mehr gefunden.“
Tarlyn wurde blass und ballte seine Hände zu Fäusten. Nicht nur, dass sein Enkel tot war, nein, jetzt gab es nicht einmal mehr die sterblichen Überreste von Shar.
„Was hat das zu bedeuten?“, wollte der Vaterpatron rasch wissen.
Wieder antwortete Yazston. „Die Leiche wurde mit anderen zur Beseitigung fortgeschafft. Als wir hinkamen, um den Halbdrow zu holen, da war sie verschwunden. Wir nehmen an, dass sie womöglich von einer Echse gefressen wurde. Denn auch noch weitere Leichname waren verschwunden.“ Der letzte Satz war jedoch eine Lüge, um den Hohepriester zu besänftigen.
Tarlyn schluckte merklich und spürte, wie sein Herz anfing zu rasen. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn und er überlegte, was dies alles bedeuten konnte. Aber eigentlich benötigte er keine weiteren Worte mehr. Viele Tote wurden entweder verbrannt oder von wilden Tieren gefressen. Das Letzte schien nun mit Shar geschehen zu sein. Die Traurigkeit wollte ihn übermannen, aber noch konnte er es nicht zu lassen. Am liebsten hätte er seinen Enkel mitgenommen und anständig beigesetzt. Aber diese Möglichkeit gab es nun nicht mehr. Den Umstand des Todes wollte er lieber nicht wissen. Tarlyn schluckte nochmals, holte tief Luft und nickte dem Soldatenhauptmann zu.
„Ich verstehe“, antwortete der Hohepriester. „Wir werden gehen und nicht länger bei der stinkende Wanze von Nhaundar Xarann bleiben.“ Anschließend wand er sich um, winkte Sabrar ihm zu folgen und schritt davon. Einige Soldaten folgten auf den Fuß, der Rest wartete auf Sabrar, der dem Soldatenhauptmann das Gold übergab. Er nickte kurz und tat es Tarlyn nach. Anschließend kamen die Soldaten des Hauses Myt’tarlyl und zusammen verließen sie das Anwesen von Nhaundar Xarann.
Kaum dass niemand mehr zu sehen war, öffnete Yazston die Geldbörse und staunte nicht schlecht. Doch als er aufblickte, da erkannte er zwei paar glühende Augenpaare, die ihn warnend anstarrte.
„Schon gut, schon gut … kommt doch beide mit und wir werden auf Nhaundars Unwohlsein anstoßen“, lachte Yazston den beiden zu und meinte die Worte ernst.
Ranaghar und Dipree schauten sich kurz an, dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit wieder an den Hauptmann, nickten und schmunzelten.
Zusammen gingen sie davon und auf ihren Gesichtern wurde mit jedem Schritt ihr Lächeln breiter und sie dachten gar nicht mehr daran, sich um ihren Herrn zu kümmern. Die Schadenfreude, über den immer so überheblichen Sklavenhändler, wurde mit dem Besuch des Vaterpatrons zum krönenden Abschluss des langen Tages gebracht. Mit dem Geld und gefüllten Gläsern würden sie nun ihr eigenes Fest feiern.
Der Einzige unter ihnen, Yazston, dachte noch über etwas anders nach, was bisher nur er und Nhaundar wussten. Die Leiche von Shar war verschwunden, das stimmte. Allerdings nur der Körper des Halbdrow, alle anderen toten Sklaven lagen noch so da, wie sie von den Soldaten am Morgen in eine Abfallgrube hineingeworfen wurden. Aber wieso fehlte der Halbdrow? Es gab dort keine Echsen oder sonstige Kreaturen, die sich an den Leichen weideten, außer vielleicht kleine Aasfresser. Doch diese könnten so schnell keine Leiche verspeisen oder doch? Morgen sollte Yazston nochmals nach Shar suchen und hoffentlich gute Nachrichten mitbringen. Zum einen für den Sklavenhändler und zum anderen, weil Dantrag Baenre den Körper des Halbdrow ebenfalls verlangte.
Nhaundar Xarann lag derweil immer noch auf dem Boden seiner Privatgemächer und hatte mittlerweile das Bewusstsein verloren. Ein gähnender Abgrund bemächtigte sich seiner Sinne und hüllte ihn in einen Alptraum aus unsagbaren Schmerzen ein. Erst am nächsten Morgen sollte er erwachen und feststellen müssen, dass sich sein Leben für immer verändert hatte.

Der Morgen brachte viel und auch gar nichts. Nhaundar fand sich in einem Nebel aus Schmerzen wieder und wurde durch Ranaghar mit Schmerzmittel behandelt, das einfach nicht helfen wollte. Der Vhaeraunpriester, Sorn Dalael, war immer noch nicht auffindbar und es würde Zeit und Mühe kosten, einen geeigneten Ersatz für den Kleriker zu bekommen. So blieb Nhaundar nichts anderes übrig, als im Bett liegen zu bleiben, während Dipree sich von neuem um das leibliche Wohl seines Herrn kümmerte.
Yazston hatte sich mit einer weiteren Gruppe auf die Suche nach der Leiche des Halbdrow gemacht, auch wenn ihm diese Aufgabe nicht schmecken wollte. Doch der unerwartete Geldsegen und eine berauschende Nacht hatten ihn etwas milder gestimmt. Aber wieder einmal blieb die Suche erfolglos. Insgeheim argwöhnte Yazston, dass der Junge vielleicht gar nicht tot war.

Tarlyn und Sabrar hatten mittlerweile auch auf eine gewisse Art und Weise Ruhe gefunden. Sie entdeckten nicht weit von dem Anwesen von Nhaundar Xarann ein kleines Gasthaus, das etwas versteckt, sich mitten in der ansonsten so verhassten Stadt der Spinnenkönigin befand. Doch Vorsicht musste die oberste Priorität bleiben. Auch wenn der Hohepriester sich nicht zu erkennen gab, so sollte keiner der Oberinnen Mütter aus Menzoberranzan unnötig von dem Aufenthalt des Vaterpatrons erfahren. Diese Angelegenheit ging nur Tarlyn und Nhaundar etwas an.
Von einem gewissen Relonor, der Wirt des Gasthauses „Zur Henkersmahlzeit“, konnte sich die Reisegruppe einige Zimmer mieten und sich vor der Rückkehr ausreichend erholen. Ganz zum Wohlgefallen der Soldaten des Hauses Myt’tarlyl, denen die Belastung des schwierigen Weges am meisten anzusehen war.
Zu ihrem Glück erfuhr die Gruppe von Relonor - der durch geschicktes Hinterfragen den Ausgangspunkt der neuen Gäste herausfand - dass das Portal nach Eryndlyn wieder funktionierte und sie nicht mehr über die mittlerweile schneebedeckte Oberfläche wandern mussten. Die restliche Nacht verbrachten sie sodann alle auf den ihnen zugewiesenen Zimmern und Tarlyn und Sabrar tauchten erst am Morgen in der Schankstube auf. Die ganze Zeit hatten die beiden mit Reden überbrückt. Vor allem ein Thema stand ganz oben. Was würde mit einem Hohepriester passieren, der keine göttliche Macht mehr von Vhaeraun bekam? Natürlich ging es auch um die Trauer und den Verlust eines neuen Familienmitglieds, dass der Vaterpatron erst vor einigen Monaten kennen lernen durfte. Am Morgen kannte niemand, außer Sabrar, die Gefühle, Ängste und Sehnsüchte von Tarlyn und das sollte auch so bleiben.
Soldaten, drei an der Zahl, waren zum Wachdienst ihres Herrn verpflichtet und saßen nun abseits, aber zum ständigen Eingreifen bei Gefahr, ganz in der Nähe des Hohepriesters.
„Wir werden heute abreisen, Sabrar“, flüsterte Tarlyn leise und nippte dabei an einem Becher Wein, der bei ihm neue Lebensgeister wecken sollte. „Ich möchte wieder an den Ort, wo ich mich Wohl fühle. Außerdem sollten wir uns auf die Suche nach den Zwillingen machen. Ich will diesen … diesen Priester …“, meinte er weiter und erneut stockte er. Wie schon sooft zuvor, war ihm der Name des Dunkelelfen entfallen und er bedachte seinen Freund mit fragendem Blick.
„Sorn Dalael“, lächelte Sabrar, der es lustig fand, dass Tarlyn sich den Namen nicht merken konnte und wahrscheinlich auch nie merken würde.
„Wenn ich dich nicht hätte“, grinste der Vaterpatron zurück und legte dankend eine Hand auf die Schulter des Jüngeren.
„Ich helfe dir gerne. Aber bevor wir gehen, sollten wir versuchen, auch hier etwas herauszufinden. Schau’ dich um, Tarlyn. Eine Spelunke wie diese und dazu ein Wirt, der mehr weiß, als andere und auch mehr weiß, mir lieb ist. Aber bedenke, er konnte uns auch über andere Dinge Auskunft geben“, erwiderte Sabrar und erkannte schon beim Reden, dass sein Freund abgelenkt wurde und gar nicht richtig zuhörte. Er folgte dem Blick und sah, wie ein junger Krieger mit bernsteinfarbenen Augen sich zu dem Gastwirt namens Relonor begab. Doch die Entfernung war zu weit, um ein deutliches Wort der beiden zu verstehen.
Bei dem Krieger handelte es sich um niemand anderen als Nalfein Dalael, der vor kurzem erwacht und über Sorn mehr als erstaunt war. Sein Bruder hatte nicht nur die Fesseln lösen können, sondern am Morgen saß dieser sogar munter auf dem Bett, lächelte von einem Ohr zum anderen und erzählte, er würde Shar finden wollen. Der Priester meinte, er hätte heute Nacht eine Vision gehabt – denn von dem göttlichen Gespräch mit Vhaeraun bewahrte er Stillschweigen - und sein Herz würde ihm fühlbar sagen, dass der junge Halbdrow lebte und irgendwo sich in der Stadt aufhielt. Das er damit gegen die ausdrücklichen Befehl des Gottes verstieß, das war ihm egal. Er hatte nur noch ein Wunsch, ein Traum und dieser beinhaltete Shar zu finden und anschließend nie wieder loszulassen. Nur leider gab es keinen Anhaltspunkt und so wollte Sorn den Morgen mit Erkenntniszaubern verbringen. Eine Diskussion über den Gemütszustand von Sorn führte zum Streit und letztendlich war es Nalfein, der sich vorerst geschlagen gab und alleine sein musste. Aber nur so lange, bis sein Bruder eingesehen hatte, dass er im Unrecht war. Vorsorglich versuchte Nalfein sich somit erst einmal zu stärken und sich anschließend von Relonor zu verabschieden. Der Kleriker stattdessen verschwand über eine Hintertreppe des Gasthauses auf der Straße und suchte mit neuem Mut nach seinem Liebsten. Worüber sich jedoch beide zum Glück einig wurden - und das bei den hitzigen Charakterzügen der Brüder - stand klar auf der Hand. Eine neue Umgebung könnte durchaus nicht schaden, egal wohin, nur weit weg von Nhaundar Xarann, Dantrag Baenre und all den anderen widerlichen Kreaturen von Menzoberranzan. Genau dies war auch Zaknafein Do’Urdens Wunsch.
„Relonor, wir reisen ab. Ich warte nur auf meinen Bruder“, meinte Nalfein soeben, als er an dem Schanktisch ankam und schaute dem Wirt direkt in die roten Augen.
„Werdet ihr wieder kommen?“, erkündigte sich der bereits etwas ältere Dunkelelf, der die beiden Zwillinge fast wie seine eigenen Söhne ansah. Das war mitunter auch der Grund, dass er das Zimmer der Brüder stets einzugsbereit hielt und ihnen gestattete, auch die Hintertür zu nehmen. Seit gestern, seit der stolze Waffenmeister des Hauses Do’Urden zum zweiten Mal hier ankam, herrschte nur noch eine niederdrückende Stimmung, wie der Wirt deutlich erkannte. Er wusste immerhin soviel, dass es sich um den jungen Halbdrow handelte, der hier lange Zeit nicht mehr mit Sorn aufgetaucht war. Relonor machte ein unglückliches Gesicht, legte Nalfein eine Hand auf die Schulter und holte tief Luft.
„So schnell wohl nicht“, erklang dabei die etwas traurig klingende Stimme des jungen Kriegers, der nach dem Geldbeutel fischte.
„Heute bist du eingeladen“, schmunzelte Relonor verschmitzt und seine glühenden Augen wanderten hinüber zu zwei, am hinteren Ende sitzenden Dunkelelfen, die beide neugierig Nalfein und den Wirt anstarrten.
„Wer ist das?“, wollte der Zwilling wissen und musterte dabei den Hohepriester und dessen Berater mit zu Schlitzen verengten Augen. Dabei fielen ihm auch die drei Soldaten am Nebentisch auf.
„Keine Ahnung. Sie sind heute Nacht hier angekommen. Angeblich kommen sie von Eryndlyn und wollen bald wieder abreisen“, erzählte Relonor lapidar und schenkte dabei nun Nalfein einen Becher Wein ein, setzte ihm frisch gebackenes Brot und getrocknetes Fleisch auf einem Teller vor. Die Tatsache, dass einer der Fremden ein Hohepriester des Vhaeraun war, verschwieg er vorsichtshalber.
Der Kämpfer nahm nur kurz von dem Essen Notiz und griff gedankenversunken danach. Kauend und aus den Augenwinkeln heraus, beobachtete Nalfein den Priester und musste immer wieder darüber nachdenken, dass ihm das Gesicht bekannt vorkam. Irgendwie erinnerten ihn die Züge an Jemanden, er wusste nur nicht an wen. Genauso beschäftigte ihn die Tatsache, dass die Gruppe aus Eryndlyn stammte, auch die Geburtstadt der Zwillinge, und das zusammen brachte Nalfein zum Überlegen. Trotzdem und vielleicht genau deswegen, beschloss er, den Fremden aus dem Weg zu gehen. Zuviel war in den letzten zwei Tagen passiert, dass die Gefahr über einen weiteren, unliebsamen Zwischenfall recht ungünstig sein könnte. Außerdem wollten er und Sorn für längere Zeit verschwinden. Sollte sein jüngerer Bruder ruhig den Morgen auf die hoffnungslose Suche gehen, wenn es ihm bei seiner Trauer helfen würde. In dieser Zeit konnte er sich ungestört den eigenen Interessen widmen und in Ruhe nachdenken. Vielleicht würde ihr Weg sie auf die Oberfläche oder gar in eine völlig andere Drowstadt im Unterreich führen.
Währenddessen beäugte Tarlyn den jungen Krieger immer wieder und hatte das Gefühl, dass er ihn vielleicht kannte. Der Dunkelelf erinnerte ihn an seinen verstorbenen Bruder, der schon über hundert Jahre nicht mehr unter den Lebenden weilte. Seltsamer Weise konnte er seine Argwohn nicht in Worte fassen und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sitzen zu bleiben und sich umzuschauen. Mittlerweile kamen noch mehr Gäste herein und die Spannung im Raum lockerte sich ein wenig auf. Der Vaterpatron aß zusammen mit Sabrar etwas, auch wenn es ihm nicht wirklich schmeckte und grübelte angestrengt über die neuen Verhältnisse nach. Sie sollten sich dringend auf die Suche nach den Zwillingen machen und mit genügend Geld ist jeder Dunkelelf bestechlich, kreisten die Gedanken in Tarlyns Kopf hin und her. Als er abermals den Blick zu dem jungen Kämpfer richtete, ging dieser gerade zur Treppe hinüber und verschwand spurlos nach oben.
„Oh nein“, flüsterte der Hohepriester und wurde von Sabrar mit krauser Stirn angestarrt.
„Was ist denn?“, erkündigte sich der Berater und folgte nun dem Blick von Tarlyn. „Was wolltest du denn mit dem?“
„Nicht was ich mit ihm wollte, sondern vielleicht hätte er etwas für uns tun können. Ich fürchte, ich habe ihn schon einmal gesehen. Aber ich erinnere mich nicht an den Ort“, antwortete der Vaterpatron bedrückt, der immer noch leicht verwirrt über die Ereignisse war.
„Dann gehen wir zu diesem Wirt, fragen und verschwinden endlich von hier. Ich halte es keine Minute länger in der stinkenden Stadt der Spinnen aus. Lass’ uns nach Hause gehen. Und wie ich schon einmal sagte, wir schmieden in Ruhe Pläne und du wirst sehen, wir werden Erfolg haben.“ Dabei wurde Sabrar nun ein wenig lauter als beabsichtigt und einige der Gäste warfen ihnen einen überraschten Blick zu.
„Sei leise“, beschwerte sich Tarlyn und wirkte mit einmal verblüfft, dass er sich eher wie ein kleines Kind, als ein herrschender Drow eines großen Hauses von Eryndlyn, benahm. Daraufhin schob er den noch halbvollen Teller von sich und überlegte, was sie tun könnten. Viele Minuten verstrichen im Sandglas.
Da wurden plötzlich all seine Sinne alarmiert und als Tarlyn zum wiederholten Mal die Augen durch den Schankraum wandern ließ, kam durch die Eingangstür ein junger Dunkelelf herein. Augenblicklich erkannte er den Mann wieder, der doch eben noch im oberen Stockwerk verschwand. Aber dieser Drow – hier und jetzt - war weniger muskulös, sondern schlanker, wirkte traurig und trug eine dunkle Robe, wie ein Priester oder gar ein Magier. Er verspürte wieder diese Ahnung, dass er den Fremden bereits woanders her kannte, aber er schaffte es nicht, sich einen Reim darauf zu machen. Tarlyn beobachtete fieberhaft den Dunkelelfen, der ebenfalls etwas aß, sich kurz mit dem Wirt unterhielt und sich verabschiedete. Anschließend verschwand er wie der Erste am Treppenaufgang.
Nun hielt es Tarlyn nicht mehr aus. Er stand auf und wartete ungeduldig, dass sein Freund es ihm gleich tat.
Beide liefen durch den Schankraum. Die Soldaten blieben vorsichtshalber sitzen, doch ihre Hände lagen an den Schwertknäufen und sie warteten ab, was ihr Herrn tat oder ihnen befehlen würde. Tarlyn und Sabrar standen schließlich kurz darauf an derselben Stelle wie Nalfein und Sorn und Relonor kam herbei geeilt.
„Meine Herren, haben sie einen Wunsch?“, erkündigte sich der Gastwirt höflich und grinste tückisch von einem Ohr zum anderen.
„Den haben wir tatsächlich“, erwiderte Tarlyn und schaute zu dem Treppenaufgang hinüber, wo der Kämpfer und soeben der andere junge Dunkelelf verschwunden war.
„Was kann ich tun?“, wollte Relonor wissen und verfolgte den Blick des seltsamen Gastes. Ob es nun ein gutes oder schlechtes Zeichen zu sein schien oder nicht, Vorsicht sollte nun an oberster Stelle stehen.
„Der …“, begann Sabrar den Wirt abzulenken, der nervös neben Tarlyn stand und sich wünschte, er wüsste, was sein Freund vorhatte. Da wurde er auch bereits von dem Hohepriester unterbrochen. „Waren das nicht eben Zwillinge?“, fragte Tarlyn mit offener Neugier und blickte wieder einmal zu dem dunklen Gang und der hinaufführenden Treppe.
Nun lag es an Relonor die Stirn in Falten zu legen und er überlegte, was der Hohepriester in Verkleidung von den beiden Brüdern zu wissen verlangte. Zum Glück für ihn und die Zwillinge, wusste der Wirt, dass Sorn und Nalfein sich wohl jetzt bereits über die Hintertreppe in die Straßen der Stadt gestohlen hatten. Nicht zu letzt, weil Relonor es Sorn im Gespräch riet. Nun versuchte der Besitzer des Gasthauses weiter an der nichts ahnenden Fassade festzuhalten und setzte ein ungläubiges Gesicht auf. Dabei zuckte er kurz mit den Schultern und blickte unschuldig den Vaterpatron direkt in die Augen.
Tarlyn griff wie beiläufig unter sein Hemd und holte dort einen Geldbeutel hervor. Er öffnete ihn und suchte etwas. Danach legte er zwei Silberstücke auf die Theke und holte tief Luft. „Diese gehören euch, wenn ihr mir Informationen verkauft.“
Erschrocken weiteten sich die Augen von Relonor, doch innerlich musste er sich fassen, um nicht laut aufzulachen. Die Ironie, dass ein getarnter Hohepriester wie ein gewöhnlicher Schurke sich Neuigkeiten beschaffen wollte, konnte nur amüsant und gleichzeitig bereichernd für die eigene Geldbörse werden. Er musste dabei versuchen den Zwillingen noch etwas Vorsprung zu verschaffen und der gerade erst beginnende Tag könnte viel versprechend werden.
„Nun, wenn mich meine Augen nicht getäuscht haben, dann könnte in euren Worten mehr Wahrheit stecken, als die, die mir manchmal in meinem bescheidenen Haus lieb wären“, antworte Relonor gelassen und streckte die Hand nach den Silbermünzen aus.
„Nicht so schnell“, warf sich Sabrar in die Unterhaltung mit ein und bedachte Tarlyn mit erstauntem Gesichtsausdruck, wobei er eine Hand auf die Münzen legte. „Erst die Informationen, dann erhaltet ihr das Geld“, meinte der Jüngere der beiden Drow aus Eryndlyn.
Dies entsprach gegen die Taktik, die der Hohepriester versuchen wollte, auch wenn er sich bewusst war, dass er im Feilschen nicht wirklich ein festes Standbein besaß. Heimlich und ohne großes Aufsehen, kniff Tarlyn Sabrar dabei in die Hand, um anzuzeigen, dass er diesmal nichts sagen sollte.
Mit einem Knurren ließ der Berater die Silbermünzen los, drehte seinen Kopf von seinem Freund weg, blieb aber stehen, um weiter zuhören zu können.
„Ich habe Augen und kann sehen …“, versuchte der Vaterpatron von neuem mit dem Gespräch zu beginnen und wurde von Relonor mit spitzer Zunge unterbrochen.
„Was ihr nicht sagt, ich hätte ansonsten gedacht, ihr wäret blind“, und der Wirt brach in lautes Gelächter aus.
„Seit ruhig und benehmt euch“, konnte sich Sabrar nun nicht zurückhalten und bedachte Tarlyn mit wütendem Blick.
„Ich will Informationen und hört auf, mich mit eurem Hohn zu beleidigen. Ihr könnt froh sein, dass wir in Eile sind. Nehmt daher noch zwei Silberstücke und sagt mir, was ihr wisst“, wurde der Vaterpatron jetzt zornig und wusste, dass er sich wie ein kleiner Junge aufführte.
Relonor genoss das Spiel der beiden Fremden, doch wenn er so weiter machte, konnte er es sich selbst verscherzen und die Gefahr für die Brüder würde vermutlich wachsen. So beschloss er sich normal mit den Drow zu unterhalten.
„Ja, es waren Zwillinge“, kam die knappe Antwort des Wirtes und dabei nahm er die herumliegenden vier Silbermünzen an sich und ließ sie in der eigenen Geldbörse verschwinden.
„Wo kommen sie her und wo wollen sie hin?“, versuchte Tarlyn es gleich noch mal und schien sich sicher, dass das Gespräch nun endlich einen vernünftigen Anfang gefunden hatte.
„Ihr seit neugierig“, meinte Relonor daraufhin und lächelte besänftigend.
„Das sind wir alle. Zwei weitere Silbermünzen und ich bekomme die Information“, ließ Tarlyn nicht locker und fischte weiteres Geld hervor.
Sabrar stand nebenan, seufzte einige Male und es blieb ihm nichts anders übrig, als zuzuschauen, was sein Freund da tat.
„Das kostet einiges mehr“, schmunzelte der Wirt siegessicher und erhielt daraufhin nun zwei Goldmünzen. Die Gesichtszüge von Relonor hellten sich weiter auf und dann begann er zu erzählen. Nicht viel und auch nicht detailreich. Aber nach einigen Minuten war der Gastwirt um acht Silbermünzen und zwei Goldmünze reicher. Gut verwahrt im Geldbeutel kam die abschließende Frage von Tarlyn, dessen Miene sich endlich selbst etwas aufhellte.
„Wohin wollten sie verschwinden?“, wollte der Hohepriester zum Abschluss wissen und sich dann anschließend dringend mit den beiden unterhalten. Der Verdacht, dass es sich um die gesuchten Zwillingsbrüder aus Shars Erzählungen handelte, verdichtete sich für ihn zusehends.
„Mein Herr“, säuselte Relonor tückisch und bedachte sein Gegenüber mit stahlhartem Blick. „Wenn ich das nur wüsste. Ich kann euch selbst nichts berichten, wenn ich die Information gar nicht kenne. Wenn ihr mir aber euer Ziel sagen würdet, könnte ich dem Nächsten zumindest verraten, wo ihr mit eurem Gefolge zu finden seit.“
„Werdet nicht frech“, mischte sich endlich wieder Sabrar in das Gespräch ein. „Zeigt uns das Zimmer und dann wollen auch wir verschwinden.“
Tarlyn und Sabrar sahen sich an und zum ersten Mal seit Minuten schienen sie wieder einer Meinung zu sein. Dann nickten sie sich zu und bedachten den Wirt mit fragenden Gesichtern.
„Mindest zwei Silbermünzen und ich führe euch auf ihr Zimmer“, grinste Relonor und hielt bereits die Hand auf.
Der Vaterpatron seufzte, griff in den Beutel und fischte zum letzten Mal Geld daraus hervor, dann verbarg er den Lederbeutel unter seinem Hemd. Die Münzen fielen dumpf in die hohle Handfläche und auch sie verschwanden unauffällig in Relonors Versteck.
„Dann folgt mir, meine Herren“, wies der Besitzer des Gasthauses die beiden Dunkelelfen an.
Alle drei liefen hinüber zu dem dunklen Treppenaufgang, die Soldaten folgten im sicheren Abstand nach oben und dann standen alle vor der geschlossenen Tür von Sorn und Nalfein Dalael. Tarlyn hielt sich jetzt jedoch nicht mehr zurück. Eilig stürmte er in das Zimmer und war überrascht, als sich niemand hier aufhielt. Die Betten wirkten unordentlich, doch alle Habseeligkeiten waren verschwunden. Das Zimmer war leer und unbewohnt.
„Wir kommen zu spät, Sabrar. Wir müssen sie finden“, rief der Hohepriester deprimiert und schien der Verzweiflung nahe. Endlich hatten sie einen guten Hinweis erhalten und sogleich wurde alles mit einem Schlag vernichtet.
„Ich werde mich um die restlichen Gäste kümmern“, ertönte plötzlich die fröhlich klingende Stimme von Relonor und er freute sich, dass die beiden Brüder zum eigenen Glück, nicht mehr hier verweilten.
„Wir müssen zum Portal“, meinte Sabrar. „Sie werden vielleicht auch den …“, dann unterbrach sich der jüngere der beiden Dunkelelfen und schwieg. Doch er musste nicht weiter reden, Tarlyn verstand ihn auch so.
„Das Geld für die Zimmer hattet ihr bereits gestern erhalten. Wir werden abreisen“, kürzte der Vaterpatron das Gespräch ab und sah, wie ein lächelnder Gastwirt sich höflich verneigte und ohne Umschweife den Raum verließ.
„Wenn du recht hast, Sabrar, denn werde ich bald meinen Frieden finden“, flüsterte Tarlyn und holte tief Luft. „Es ist nicht das Jahr der großen Taten, aber vielleicht wird es das Jahr eines Neubeginns.“
Der Berater und Freund des Vaterpatrons verstand nicht und sein einziger Wunsch war nun, endlich Menzoberranzan zu verlassen und in Eryndlyn all die Dinge zu überdenken. „Dann lass uns gehen“, murmelte Sabrar, um seine Unwissenheit zu verstecken und tat es Relonor gleich. Anschließend gestand sich Tarlyn innerlich die neuste Niederlage ein und fühlte sich wie ein geschlagener Hund.

Während der Wirt, der Vaterpatron aus dem Haus Myt’tarlyl, Sabrar und die Soldaten das Zimmer der Zwillinge verließen, standen Sorn und Nalfein Dalael vor dem Portal, dass sie hinaus aus der Hölle von Menzoberranzan bringen sollte. Wie Relonor bereits vermutete, hatten sich die Brüder über die Hintertreppe weggeschlichen und sich dann gemeinsam auf den Weg mit unbekanntem Ziel begeben.
Sorn seufzte herzzerreißend und Nalfein bedachte den Jüngeren mit runzliger Stirn. „Lass’ uns den Streit vergessen, Nal?“, fragte der Priester leise und traute sich kaum, seinem Bruder in die Augen zu schauen.
Sorn hasste Streit mit seinem Bruder. Genauso hasste Sorn die Wahrheiten, die er am Morgen herausgefunden hatte. Er hatte einige Erkenntniszauber gewirkt, aber nirgendwo schien Shar zu sein, nicht einmal einen leblosen Körper konnte er entdecken. Dass Vhaeraun log kam natürlich auch nicht in Frage. Stattdessen waren die Worte des Gottes allgegenwärtig in sein Gedächtnis gebrannt. Sorn vermutete, dass Vhaeraun den Jungen abschirmte. Somit lebte sein Liebster tatsächlich und alleine diese Nachricht war vorerst Balsam für seine Seele. Vielleicht würde dem Kleriker auch bald eine neue Methode einfallen, um Shar zu finden, ohne Erkenntniszauber. Dazu gab er Nalfein wiederum Recht, dass er Ruhe und Abstand benötigte, um nachzudenken. Ebenso, wie ihn diese Umgebung anekelte und wäre Nalfein nicht gewesen, würde er verzweifeln.
Der junge Kämpfer erkannte seinen Bruder nicht wieder, doch er riss sich zusammen und trauerte ja selbst um den Jungen. An die Visionen von Sorn glaubte er allerdings immer noch nicht. Aber gleichwohl war viel passiert und die Zeit heilte bekanntlich alle Wunden. So legte er besänftigend eine Hand auf die schmale Schulter von Sorn und sprach leise. „Vergeben und vergessen. Du hast viel durchgemacht und eine neue Umgebung wird uns beiden gut tun. Wir werden nach Eryndlyn gehen und neue Kräfte sammeln und hier und da ein paar Leute über den Tisch ziehen. Was meinst du?“
Sorn fing an zu lächeln und schaffte es, Nalfein direkt in die Augen zu sehen.
„Das werden wir, aber nicht nach Eryndlyn. Auf die Oberfläche oder nach Ched Nasad“, wandte der junge Kleriker ein und fühlte sich plötzlich etwas freier. Obwohl die Last über das Verbleiben von Shar wohl noch lange Zeit anhalten würde. Aber vielleicht könnte er jemand anderen zu Rat ziehen und mit dessen Hilfe mehr Nachforschungen über den unbekannten Aufenthaltsort seines Liebsten erfahren. Außerdem gelüstete es ihn, sich in einen Tempel seines Gottes zu begeben.
„Ganz wie du meinst“, unterbrach Nalfein die Gedanken von Sorn und zog seinen Bruder herzlich in eine liebevolle Umarmung.
Der jüngere Zwilling seufzte erleichtert auf und erwiderte nur zu gerne diese Geste. Vergessen war ihr Zwist.
Anschließend wurden sie sich rasch über die neue Heimat einig, nahmen sich beide an den Händen, wagten gemeinsam einen Blick zurück und dann schritten sie auf das Portal zu. Nur wenige Minuten später erglimmte ein weiß-bläuliches Licht und verschwunden waren Sorn und Nalfein Dalael.

Wären Tarlyn und Sabrar, zusammen mit den Soldaten, nur wenige Sandkörner des Stundenglases vorher an Ort und Stelle gewesen, dann wären sie auf die Zwillinge gestoßen. Doch just in jenem Moment, als sich das Portal hinter den beiden Drow schloss, kam die kleine Reisegruppe aus Eryndlyn um die Ecke gebogen. Alles war dunkel. Niemand hielt sich hier auf und das war wohl auch ganz gut so.
Tarlyn wirkte niedergeschlagen, müde und hätte viel zu gerne seinem Enkel in der Familiengruft beigesetzt. Doch Sabrar half ihm, sich nun auf andere Dinge zu konzentrieren. Zuhause wollten sie sich auf die Suche nach den Zwillingen begeben und hoffentlich dann alles über den jungen Halbdrow erfahren. Ebenso alles über Handir, seine verstorbene Tochter Chalithra und noch vieles mehr herausfinden. Diese Vorstellung beruhigte den Hohepriester etwas.
Dabei entkam Nhaundar nur haarscharf seiner eigentlichen Bestrafung und Tarlyn wollte den Sklavenhändler für immer aus seinem Gedächtnis verbannen.
Die Soldaten und selbst Sabrar schritten an ihrem Herrn vorbei und direkt auf das Portal zu. Tarlyn schaute ein letztes Mal in die Richtung, wo sich die Stadt der Spinnenkönigin befand und schloss kurzzeitig die Augen. Die anderen warteten mit allem nötigen Respekt. Immerhin lebten sie schon viele Jahrzehnte mit einem Hohepriester zusammen und wussten, wann man nicht stören sollte. Solch ein Zeitpunkt trat eben ein.
Der Vaterpatron, Tarlyn Myt’tarlyl schätze es sehr und plötzlich spürte er, wie sich etwas seiner bemächtigte. Er hatte versagt und die Worte des Maskierten Fürsten schwebten durch seine Erinnerungen, die ihn mehr als vier Monate begleiteten. Er hatte seine Aufgabe nicht zum Wohl seines Gottes erledigt und wenn er nun nach Hause zurückkehrte, dann lediglich als ein gefallener Gläubiger, der nichts weiter war, als der Repräsentant seines Hauses. Doch sein Glaube an Vhaeraun konnte dadurch nicht erschüttert werden. Nicht nachdem er über sechs Jahrhunderte sich mit Leib und Seele dem Maskierten Fürsten verschrieben hatte. Die Strafe sollte kommen, er wäre bereit. Neues erwartete ihn und die Zukunft ist immer das, was man daraus machen möchte. Ein letztes Mal holte er tief Luft, öffnete die Augen und kam seinen Gefolgsmännern hinter her. Langsam und bedächtig schritt er zu dem Portal hinüber und einen Atemzug später waren Tarlyn Myt’tarlyl, Sabrar und die zehn Soldaten des ersten Hauses aus Eryndlyn verschwunden.
Zurück blieb eine gähnende, schwarze Leere des Unterreiches. Stille legte sich nieder, während in einer Ecke zwei rote Augen vor Freude aufglühten. Die Kinder der Nacht würden bald in ihre Zukunft sehen und das Spiel der Macht nahm in jenem Moment ihren Verlauf.
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