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Dem Wahnsinn so nah

By: Elbenstein
folder German › Books
Rating: Adult ++
Chapters: 47
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Disclaimer: I do not own the Forgotten Realms books. I do not make any money from the writing of this story.
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36. Kap. Versteckt

36. Kapitel
Versteckt

Stimmen, Gelächter und Schmerzen. Plötzlich herrschte Stille. Shar umgab eine drohende Finsternis und die Schwärze wirkte so unendlich und tief. Von irgendwoher vernahm der Junge plötzlich einen Schrei und er zuckte innerlich zusammen. Er öffnete die Augen und wollte sich umschauen. Doch auch jetzt erkannte er überall um sich herum Nichts und Niemand. Eine gähnende Leere umwaberte ihn und sein Körper fing an zu zittern. Die Angst vor dem Unbekannten kroch in jede Faser seines Seins und in diesem Moment durchzuckten ihn qualvolle Schmerzen. Shar wollte sich bewegen, er wollte einfach weg, doch er konnte es nicht. Alles wirkte taub und haltlos und er wusste nicht, wo er sich befand. Er versuchte zu schreien und öffnete den Mund. Aber kein Ton entwich seiner Kehle. Die Panik begann sich seiner zu bemächtigen und abermals wollte er rufen, aber wieder kam kein Laut. Shars Herz begann plötzlich wild in seiner Brust zu schlagen und er spürte, wie ihn etwas anfasste, sah jedoch nichts als weite Leere und die undurchdringliche Finsternis. Da blitzte vor ihm ein helles Licht auf und ließ ihn erbeben. Die Helligkeit schien warm und freundlich zu ihm herüber und in seinem Kopf formte sich nur noch ein Gedanke, er wollte zu dem Licht und die Schwärze hinter sich lassen. Erneut versuchte er sich zu bewegen und zu seiner großen Überraschung spürte er, dass er zu schweben begann. Die Angst ließ von ihm ab und dann bewegte der Junge sich immer weiter auf die Quelle des Leuchtens zu. Je näher er kam, desto schneller wurde er und zum ersten Mal in seinem Leben empfand Shar etwas, dass von ihm völlig und ganz Besitz ergriff. Ein Gefühl der absoluten Geborgenheit durchströmte ihn und niemals wieder wollte er diese Empfindung missen wollen. Das Licht wurde daraufhin hell und heller, doch plötzlich stoppte er. Er hang mitten in der Luft aus Nichts und als er den Kopf nach unten wand, erstreckte sich am Boden ein großer, schwarzer Abgrund. Shar schrie erneut und diesmal hörte er seine Stimme laut und widerhallend auf sich eindringen. Dann fiel er hinab und eine undurchdringliche Nacht raste auf ihn zu.
Shar erwachte im gleichen Moment schweißgebadet und schien augenblicklich wieder von Dunkelheit umgeben zu sein. Eine allgegenwärtige Angst griff nach seinem Körper und Geist und der Junge versuchte die Augen aufzuschlagen. Nur langsam und unter höllischen Schmerzen schaffte er es die Lider zu öffnen. Aber alles was Shar sah, war so, als würde ihn ein undurchdringlicher Schleier umgeben. Dann flimmerten Sterne auf und schossen auf ihn zu. Eilig schloss er die Augen wieder und kehrte in die Nacht zurück.
Erst einige Stunden später machte Shar abermals die Augen auf. Alles um ihn herum verschwamm und er sah alles wie durch einen Nebel hindurch, den er nicht kannte. Er konnte nichts erkennen.
Wo bin ich nur, fragte sich der Junge verzweifelt.
Im gleichen Atemzug wurde sein Körper von einer gewaltigen Schmerzenswelle erfasst. Sein dünner Leib, über und über mit offenen Wunden versehen, schmerzte.
Was war passiert, wollte der Halbdrow wissen und konnte sich an nichts erinnern.
Er versuchte diesmal nicht das Bewusstsein zu verlieren, obwohl eine unendliche Müdigkeit weiter an ihm zerrte und versuchte ihn zurück in die Finsternis zu ziehen. Shar begann sich innerlich zur Wehr zu setzen und je länger er einfach nur still liegen blieb und gegen die Dunkelheit ankämpfte, desto mehr kehrten seine Sinne zurück. Allmählich klärte sich auch seine Sicht und die blitzenden Sterne vor den Augen begannen zu schwinden. Zurück blieben Kopfschmerzen, die wie kräftige Faustschläge von Innen und Außen auf ihn einschlugen. Nach einer schier unendlich langen Zeit spürte er auch wieder seine Finger. Danach konnte er fühlen, wie auch seine Arme, Beine und der restliche Körper ins Hier und Jetzt zurückkehrten. Shar bewegte seine Glieder und wurde überraschend von einer immer heftiger werden Pein erfasst.
„Handir? Vater? Wo bist du?“, rief er stumm und zum ersten Mal seit er wach war, konnte er wieder etwas richtig erkennen. Doch was er sah, ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Er wand den Kopf langsam von einer Seite auf die andere.
Um ihn herum lagen tote Körper von Dunkelelfen, Elfen, Orks und anderen Lebewesen, die er noch niemals zu Gesicht bekommen hatte. Von den meisten Leichen hang das kalte Fleisch in Fetzen herunter, ausdruckslose Augen starrten ins Leere, falls sie noch Augen besaßen, abgenagte Knochen lagen wild verstreut herum, weiße Schädel mahnten gefährlich mit offenen Mündern und überall klebte alles von getrocknetem Blut und Ungeziefer. Shars Körper bebte und er wollte nur von hier verschwinden. Er versuchte den Kopfschmerzen keine Beachtung zu schenken und hob als erstes den Kopf an. Da wirbelte plötzlich die Welt um ihn herum und beinahe hätte er von neuem das Bewusstsein verloren. Doch er behielt die Augen offen und je mehr er den Toten seine Aufmerksamkeit widmete, desto dringender überkam ihn das Bedürfnis fortkommen. Schleppend richtete er seinen Oberkörper auf bis er letztendlich saß. Dann drehte der Junge sich mühsam und schaffte es, auf den Knien Halt zu finden. Kriechend, dabei von unsagbaren Schmerzen im ganzen Körper erfasst, schwankend und mit pochenden Schlägen im Kopf, schleppte sich Shar wie ein geschlagener Hund davon.
Was der junge Halbdrow nicht wusste, er befand sich auf einer alten, wohlbekannten Müllgrube in einem Außenbezirk des Stadt Menzoberranzan. Erst vor wenigen Stunden wurde der für tot gehaltene Junge, zusammen mit weiteren Leichen, auf einem Karren hier her verfrachtet und achtlos liegen gelassen. Für Bestattungen gab es im Unterreich keine Verwendung. Vor allem dann nicht, wenn man keinem Adelshaus angehörte, denn sonst wäre er vielleicht in einer Familiengruft beigesetzt worden. Die Leichen hier waren für Aasfresser oder sonstige, gefräßige Geschöpfe liegen gelassen und verwesten. Restliche Abfälle aller Art gesellten sich zu den Kadavern.
Viele bürgerliche Dunkelelfen, ausgestoßene oder herumlungernde Drow der untersten Schicht der Stadt, aber auch Schurken, Diebe, Söldner, Arbeiter und niedere Mitglieder anderer Völker, selbst Sklaven bewohnten die nähere Umgebung und plünderten regelmäßig den Abfall und Dreck nach allem Verwertbarem. Sogar Essen konnte man bei genauem Durchsuchen finden. Um die verwesenden Körper machte sich niemand sorgen. Die Aasfresser kamen zwar, doch bei diesen handelte es sich meistens um eine Käferart, die die Toten für sich beanspruchten und die Lebenden nicht beachteten. Eine Symbiose innerhalb des ärmlichsten Stadtteil Menzoberranzan, Braeryn.
Genau hier war Shar aus seinem todesähnlichen Schlaf erwacht und konnte sich glücklich schätzen, nicht unter den anderen toten Körper begraben zu liegen. Mitten von einem Leichenberg rutschte der Junge nach unten und fiel schwach und fast mit den Kräften am Ende auf den felsigen Boden. Erschöpft, aber von dem Willen besessen, zu verschwinden, kroch der junge Halbdrow auf allen Vieren davon. Wohin, dass wusste er nicht.
Da tat sich plötzlich nach einer kleinen Biegung eine seltsame Weite vor ihm auf. Abfall türmte sich an den Seiten auf und formte eine kleine, jedoch sehr widerlich riechende Gasse. Es wirkte irgendwie eigenartig, aber besser als die Toten hinter sich im Rücken zu wissen und er kroch weiter.
Nicht, dass es die ersten Leichen gewesen wären, die er gesehen hatte, aber hier und jetzt war Shar alleine, hatte Schmerzen und niemand konnte ihm sagen, wo er war. Nicht einmal seinen Herrn sah er, der ihn doch stets seit Jahren beschützte. Der junge Halbdrow wusste ebenfalls, an diesem unbekannten Ort drohte ihm Gefahr und das Gefühl beobachtet zu werden, schien allgegenwärtig. So versuchte der Junge erstmal immer weiter vorwärts zu kriechen und mit viel Glück ein anderes Lebewesen zu finden. Egal wohin ihn die Gasse nun auch führen mochte, Shar tat einfach beharrlich eine Bewegung nach der anderen, kam aber nur langsam voran. Dann, nach nur wenigen Metern, doch für den verletzten jungen Halbdrow eine halbe Ewigkeit, klaffte ein Loch vor ihm auf. Er wollte noch innehalten, seine Glieder zitterten, aber letztendlich holte ihn die Erschöpfung ein und Shar verlor das Gleichgewicht. Eine schwarze Leere umfing ihn, er fiel und wurde abermals ohnmächtig.
Shar war in einen kleinen, nicht auf den ersten Blick sichtbaren Höhleneingang gestürzt, der ihn einfach hineinzog. Am unteren Ende landete der dürre Körper über eine leicht absinkende Rampe auf dem Boden und Shar blieb reglos liegen.
Der Sturz blieb jedoch nicht ungehört. Auch wenn so manch einer sich hier mit Dingen zum Überleben versorgte, kam es in seltenen Fällen vor, dass ein Lebewesen freiwillig an diesem unwirtlichen Ort verweilen wollte. Daher hatte eine Person auf der Müllhalde den perfekten Unterschlupf gefunden. Es handelte sich um eine uralte Dunkelelfe. Ihr Alter wusste sie selbst nicht mehr. Das Gesicht war überall mit tiefen Falten und Furchen zersetzt. Die einst roten Augen waren in die Augenhöhlen eingefallen und hatten ihren Glanz bereits vor Jahrhunderten verloren. Die Haut war eine trockene Hülle und das Haar schien grau und von dem einstig, weißen Glanz gab es nur noch vereinzelte Strähnen. Die Lippen waren gesprungen und gerade als die alte Drow vor Staunen den Mund öffnete, hätte jeder sehen können, dass sie kaum noch Zähne besaß und diese leuchteten gelb und verfault. Der restliche Körper war abgemagert und dünne Stofffetzen bedeckten gerade einmal das nötigste ihres Leibes.
Bei der alten Drow handelte sich um Zarra. Ihren Familienname wusste sie nicht mehr, aber diese Tatsache störte sie nicht. Sie lebte, solange Zarra sich erinnern konnte, ein ganzes Leben hier unten in Menzobarranzan, im ärmlichen Teil Braeryn und von hier aus würde sie für immer ins Reich der Göttin eingehen. Zurückgezogen und versteckt hatte sie in der Nähe der eigentlichen Müllgrube eine kleine Höhle entdeckt und wohnte nun bereits seit Jahrzehnten ihr einsiedlerisches Leben tagein und tagaus. Viele wussten um die Anwesenheit der Dunkelelfe, aber den meisten war auch bekannt, dass sie ihren Verstand verloren hatte. Selbstgespräche, Wutausbrüche und eigentümliche Rituale mit ungewohnten Worten und Gesten, sowie seltsame Gerüche begleiteten Zarra, in der Höhle, wie auch außerhalb. Dies und noch andere Gründe hielten die anderen Bewohner dieses Viertels und näheren Umgebung ab, sich mit Zarra einzulassen.
Genau in Zarras Höhle hatte es Shar nun verschlagen, der bewusstlos am Boden lag und die Lider geschlossen hatte.
Die alte Drow kam herbei geschlurft und betrachtete durch trübe Augen den unbekannten und dazu noch uneingeladenen Besucher und staunte nicht schlecht, als es sich hierbei um einen jungen Halbdrow handelte. Irgendwo, in ihrem noch vorhandenen Verstand, erkannte Zarra, dass der Junge nicht freiwillig gekommen war. Dann bemerkte sie die Wunden überall an dem schlanken Körper und das diese erst vor kurzem aufgehört haben mussten zu bluten.
„Der Halbdrow braucht Hilfe“, sagte sie sich und zog den erschlafften Leib hinüber zu einer dunklen Ecke ihres Zuhauses, was man ihrem schwachen Körper gar nicht zugetraut hätte.
Augenblicklich machte die Dunkelelfe sich ans Werk. Eines konnte man Zarra nämlich nicht nachsagen, dass sie Lebewesen, egal welcher Rasse, einfach ihrem Schicksal übergeben würde, was sie in frühen Jahren schon oft in Gefahr brachte. Außerdem überkam die Drow plötzlich das Gefühl, dass nur sie dem Jungen helfen konnte. Wenn sie es nicht tat, dann würden sich die offenen Wunden entzünden, eitern und eine Blutvergiftung mit sich ziehen. Sogleich holte sie Wasser und einige Lappen herbei und säuberte die Verletzungen. Anschließend fischte sie eine gräuliche und widerlich riechende Paste aus einem Versteck und behandelte die offenen Verwundungen mit der Salbe. Irgendwann hatte sie es geschafft und freute sich über das heutige Werk. Zum Abschluss fand Zarra noch eine uralte Decke und zog diese über den nackten, jungen Körper ihres Patienten.

In all der Zeit hatte Yazston vergeblich mit seinen Männern nach der Leiche des Halbdrow gesucht und kehrte zum zweiten Mal unverrichteter Dinge zurück zu seinem Herrn. Mehrmals auf dem Weg zu Nhaundar Xarann befragte er die Soldaten, ob sie sich sicher seien, dass die Leiche auf dieser Müllkippe gelandet war. Doch stets erhielt er die gleiche Antwort, die mit „Ja“ anfing und mit „Ja“ endete. Frustriert und ärgerlich, dass eine Leiche sich nicht einfach in Luft auflöste, außer man berücksichtigte magische Fähigkeiten eines anderen, blieb allen nur zu berichten, dass Shar zwar tot, doch der Körper nicht aufzufinden war.
Schlechte Nachrichten für den Sklavenhändler und sein Leid. Ober- und Unterkiefer gebrochen, die Nase hing schief im Gesicht und dazu kam die Angst um sein Leben. Der Vaterpatron aus Eryndlyn, einst der Vater seiner schönen, wie auch tückischen Geschäftspartnerin Iymril Myt’tarlyl, verpasste dem stets immer so selbstsicheren Dunkelelfen eine Lektion in Demut, woran er noch lange zu knappern hatte. Sein Selbstbewusstsein schien im Keller zu sein und die Angst, dass vielleicht noch jemand käme, um sich an ihm zu rächen, erhöhte Nhaundars Schmerzen gleich um ein Vielfaches.
Als dann auch Dantrag Baenre zum zweiten Mal auftauchte, konnte dieser sich bei Nhaundar wegen der Schadenfreude eines schallenden Gelächters nicht erwähren. Die Sache mit Shar stattdessen war für den Waffenmeister noch nicht geklärt. Er lauschte den Ausführungen von Yazston, Dipree und Ranaghar, doch auch ihm kam es seltsam vor, dass eine Leiche ohne Zutun eines magisch begabten Individuums, wie vom Erdboden verschwinden konnte. Dantrag war es auch, der den Gedanken hegte, dass der junge Vhaeraunpriester zur gleichen Zeit spurlos aus Menzoberranzan verschwand und seither verschwunden blieb. Von dessen Bruder gab es auch keine Spur. Alles im Allen, äußerte Dantrag gegenüber Nhaundar, dass der Kleriker den toten Körper des Jungen ausfindig gemacht und anschließend mitgenommen haben musste, wer würde sonst eine Verwendung für einen minderwertigen Liebessklaven hüten, als ein Mann des Glaubens. Schleierhaft war nur noch eine Sache, was wollte der junge Dunkelelf mit Shar? Ihn begraben? Da aber niemand eine Antwort wusste, blieb dieses Thema vorerst ungeklärt.
Nhaundar, der trotz seiner Schmerzen auf Heilung warten musste, hing dabei einem weiteren Gedanken nach. Sorn Dalael war immer noch ein Priester und dazu ein recht fähiger. Was wäre, sagte er sich, wenn der Kleriker den jungen Halbdrow zurück ins Leben gebracht und anschließend mit diesem aus seinem Blickfeld verschwunden war. Keine gute Vorstellung, wie der Sklavenhändler wusste, wobei weiterhin etwas anderes an seinen Nerven nagte, er konnte nur nicht sagen was. Er musste versuchen wieder auf die Beine zu kommen, um klarer denken zu können und vor allem war es die oberste Priorität, einen Priester oder auch Priesterin zu finden, die sich mit viel Geld und Überredungskunst, um das leibliche Wohl eines Sklavenhändlers kümmerte.

Dies alles lag nun zwei Tage zurück und der verschwundene und nicht auffindbare junge Shar schlief immer noch in der dunklen Ecke von Zarras Zuhause, wo sie ihn hingeschleift hatte. Die alte Dunkelelfe sorgte sich um den Jungen, wie um den eigenen Sohn. Gab ihm auch zu trinken, wenn er kurz mal die Augen aufschlug, um dann gleich wieder fest einzuschlafen und so nahm er nicht wirklich etwas um sich herum wahr. Zarra selbst, erinnerte sich an ihren eigenen Sohn, den sie einst gebar – zudem einen Drow - doch zu ihrem größten Bedauern verweilte er nun nicht mehr auf Toril, sondern war bereits ins Reich der Göttin eingezogen. Zarra schien jedoch der Meinung zu sein, dass es sich bei dem jungen Halbdrow um ihren Sohn Nym handelte. Für sie und ihr bereits hinsiechender Verstand bedeutete die helle Hautfarbe nichts. Außerdem besaß der Junge die gleichen langen Ohrspitzen, die für einen Mondelf, Dunkelelf sowie ein Halbelfen aus beiden Abstammungen, so typisch waren. Überglücklich, dass ihr angeblich verlorener Sohn nach Hause zurückkehrt war, kümmerte sie sich gleich noch fürsorglicher um den Jungen.
In den frühen Morgenstunden des zweiten Hammer, 1325 TZ im Jahr der großen Ernten, erwachte Shar aus seinem Schlaf. Er spürte, dass er auf dem Rücken lag, sein ganzer Körper zitterte und schmerzte seltsam dumpf. Ferner empfand er wieder die pochenden Kopfschmerzen, die ihn augenblicklich einholten. Der junge Halbdrow öffnete langsam die Augen und erschrak einen Moment später, als er zu einer dämmrig beleuchteten Decke starrte, wo sich in allen Ecken Spinnennetze erstreckten, ihre Bewohner wild herumwuselten und hier und da seltsam schwarze Käfer herumkrochen. Shar stöhnte kurz auf und wollte sich erheben. Das ließ sich nicht so einfach bewerkstelligen, wie er sich das dachte, denn mit den Schmerzen kehrte auch der Schwindel zurück. Von einem zum anderen Atemzug schloss er kurz die Lider und konzentrierte sich, dann versuchte er es von neuem und siehe da, der Schwindel schien ein wenig zu schwinden. Der Junge hob den Kopf, anschließend stützte er sich mit beiden Ellenbogen ab und dabei durchfuhren ihn Schmerzen, die seine Arme erfassten. Brennendes Feuer schoss durch seine Glieder und wiederholt stöhnte er auf. Doch er musste versuchen alles zu ignorieren, denn er wollte wissen, wo er sich befand. Zuhause bei seinem Herrn auf jeden Fall nicht. Alles wirkte so fremd und die Luft, die er einatmete, roch nach ungewöhnlichen Gerüchen, die süß aber auch stechend in seine Nase stiegen.
Schleppend gelang es dem jungen Halbdrow sich in eine sitzende Position zu kämpfen und mit dem Rücken konnte er sich an einer kalten Felswand abstützen. Dann wanderte sein Blick durch eine kleine, dämmrige Kammer. Von weitem erkannte er mehrere Kerzen brennen, die ihr Licht bis zu ihm hinüber warfen. Überall lag Dreck, Abfall und Sonstiges, Shar unbekannte Dinge, herum, die teilweise sehr alt und abgenutzt aussahen. Eindeutig ein Zeichen, dass er sich nicht auf dem Anwesen von Nhaundar befand, wo alles immer sauber und ordentlich war.
„Wo bin ich hier?“, flüsterte der Junge leise und erforschte die fremde Umgebung mit den Augen. Doch er konnte auf den ersten Blick kein weiteres Lebewesen ausmachen, das ihm diese Frage hätte beantworten können.
Letztendlich sah er an sich selbst herunter und erschrak von neuem. Seine helle und vor allem immer gewaschene Haut war mit schwarzem Dreck überzogen, etwas Graues klebte an vielen Stellen seines Körpers, die immer noch schmerzten und er roch unangenehm. Und zum Abschluss bemerkte er, dass er mit einer schmutzigen Decke bedeckt war. Bevor er sich weiter ein Bild von der seltsamen Umgebung machen konnte, ertönte plötzlich ein Schlurfen und Schnaufen durch den Raum. Eilig schaute er sich um und erkannte jemand, der geradewegs auf ihn zulief. Er kniff die Augen zusammen und versuchte so besser sehen zu können. Doch das, was er entdeckte gefiel ihm überhaupt und er verzog leicht angewidert seine Mundwinkel.
Eine alte, abgemagerte und dazu äußerst hässliche Dunkelelfenfrau bewegte sich lahm auf ihn zu und schaute ihn mit eingesunkenen Augen und offenen Mund an.
„Nym, du bist wach?“, erklang die fremde Stimme der Drow. Die Frau machte erst Halt, als sie auf den sitzenden Halbdrow hinunter sehen konnte. Die Fremde klang schwächlich, aber durchaus noch befehlend.
„Nym?“, wisperte Shar kaum hörbar. Er bedachte die Drow mit großen, tiefblauen Augen und fragte sich, wer oder was war Nym und wer war diese Frau?
„Du musst noch liegen bleiben, Nym. Du bist verletzt und musst dich ausruhen. Dann wirst du schneller genesen und kannst in den Kampf ziehen“, plapperte Zarra ungeachtet des überraschenden Gesichtsausdruck des Jungen einfach los.
Shar verstand immer noch nicht und vor allem wusste er nicht wo er war. Diese Frau hatte er zuvor in seinem Leben niemals gesehen, nicht bei seinem Herrn Nhaundar, Sorn oder dessen Bruder und auch nicht bei Zaknafein. Der gefährliche Waffenmeister Dantrag Baenre kam ebenfalls nicht in Erwägung. Eine unbekannte Sklavin von Nhaundar konnte es auch nicht sein, denn dieser umgab sich lieber mit Männern, als mit Frauen, ob Dunkelelfen oder Oberflächenelfen und sie waren eindeutig hübscher als die hässliche Frau vor ihm. Noch während er darüber nachdachte, bemächtigte sich plötzlich eine Erinnerung im Gedankenspiel des Jungen. Alle, selbst sein Herrn, hatte ihm öfters als ihm lieb gewesen war, eingebläut, dass man sich mit Frauen nicht abgab. Weibliche Drow sollten gefährlich sein und er sich nicht in ihrer Nähe aufhalten. Sorn, sein Liebster, hatte ihm viel über Priesterinnen erzählt und das man immer auf der Hut sein musste. Aber was der junge Dunkelelf vergaß, dass Shar in seinem ganzen Leben nur zwei Drow jemals von Nahem erblickt hatte, die Priesterin Dhaunae Yauntyrr und Iymril Myt’tarlyl. Beide Male keine zu große Lebensgefahr für Shar. Männer schienen für ihn gefährlicher und erbarmungsloser zu sein. Kein Wunder, wenn man fünfzig Jahre unter einer Männerherrschaft großgezogen wurde und dort alles vom männlichen Geschlecht beigebracht bekam. Fast fünfzig Jahre Isolation auf dem Anwesen Nhaundar Xaranns, das manch einem vielleicht wie ein Gefängnis vorgekommen wäre. Somit stellte diese neue Situation eine neue Erfahrung im Leben für den Jungen da. Doch als er gerade darüber nachdachte, fiel ihm das Bild des Klerikers ein. Shar fragte sich sogleich, wo Sorn war und vergessen schienen die Worte und Erinnerungen über Frauen. Das letzte Treffen der beiden Liebenden fand auf dem Fest im Kellergewölbe seines Herrn statt und nachdem der Junge die bittere Flüssigkeit getrunken hatte, verschwand sein Liebster spurlos. Danach verschwammen die Bilder mehr und mehr hinter einem dunklen Schleier. Er erinnerte sich lediglich an Schmerzen, Blut und Gelächter.
Ein Glück für das schwache Seelenleben des Jungen, der nach der brutalen Bestrafung und von der anschließenden Vergewaltigung durch drei Dunkelelfen, nichts ahnte, und schließlich nach alldem, als angebliche Leiche mitten auf eine Müllhalde gebracht wurde.
Noch während er überlegte, sagte er sich, dass es wohl das Beste wäre, wenn er einfach fragen würde. Ganz so, wie er es bei Dipree, Sorn, Nalfein und Zaknafein stets getan hatte. Shar blickte dabei immer wieder zu der alten Dunkelelfe auf und fragte dann leise. „Wo bin ich?“
Zarra schaute den Jungen ungläubig an, ihre Augen weiteten sich leicht und dann beugte sie sich nach unten. „Du bist Zuhause.“ Ihre Stimme klang mit einem Mal klar und kräftig.
„Zuhause? Wo … wo ist Nhaundar?“, wollte Shar wissen, dessen Mut auf die seltsame Antwort hin plötzlich schwand. Noch nie war der Junge völlig alleine gewesen. Immer schien jemand in seiner Nähe gewesen zu sein - Nhaundar, Dipree, andere Sklaven und Bedienstete und selbst bei Dantrag Baenre hatte er sich noch nie so einsam gefühlt. Außerdem sprach Handir oft mit ihm. Zum Vorteil für ihn, wirkten die Worte der Fremde wenigstens nicht bedrohlich.
„Nym, sei nicht so dumm“, schimpfte Zarra und bedachte Shar mit einem wütenden Blick.
Shar erschrak plötzlich und sah mit tiefblauen Augen eingeschüchtert nach unten auf den Boden. Er fragte sich wieder einmal, wer oder was Nym war. Doch noch verblüffter wurde der junge Halbdrow, als er die magere Hand der Dunkelelfe an seinem Kinn spürte und sie seinen Kopf anhob, damit sich beide direkt in die Augen blicken konnten.
„Mein Sohn. Nym. Du bist zu mir nach Hause gekommen, kannst du dich nicht erinnern? Die Göttin hat dich zu mir geschickt und zusammen werden wir herrschen. Menzoberranzan wird uns zu Füßen gelegt.“ Zarras Stimme schwoll dabei immer weiter an und es wirkte geradeso, als wollte sie sich in Extase reden.
„Ich bin nicht euer Sohn …“, unterbrach Shar schnell. „Mein Name ist Shar und mein Herr ist Nhaundar“, sprach er weiter und verspürte dabei eine unerwartete, aufkommende Angst vor der fremden Frau. Er war von einem auf den anderen Moment noch verwirrter als zuvor. Augenblicklich begannen auch wieder die Kopfschmerzen hämmernd auf ihn einzuschlagen und sein Herz raste vor Überraschung.
„Nym …“, begann Zarra von neuem und schaute nun wieder mit trüben und eingefallenen Augen auf den jungen Halbdrow herunter. „Du bist gefallen und hast dich überall verletzt. Ich habe dir Salbe auf deine Wunden getan und sie heilen jetzt. Aber jetzt wird alles wieder gut, denn du bist wieder bei mir.“
Shar riss bei diesen Worten die Augen weit auf. Was hatte die Fremde gesagt, er war gefallen und er wäre jetzt wieder bei ihr? Aber das konnte doch nicht sein. Wo waren Nhaundar und Dipree? Sein Herr suchte ihn bestimmt schon. Auch wenn er wusste, dass es wohl eine Bestrafung und dazu eine wirklich besonders schmerzende Strafe für sein Verschwinden geben würde, spürte Shar tief in sich, dass er nach Hause wollte. Nhaundar war sein ein und alles und sein ganzes Leben kreiste um den Sklavenhändler. Er wuchs immerhin bei ihm auf, lebte dort, in dem Haus wollte Handir wieder zu ihm zurückkommen und genau in diese gewohnte Umgebung wollte er dringend wieder zurück. Außerdem würde bei Nhaundar auch gewiss Sorn warten und ihn dann in einer ruhigen Minute sicher in die Arme nehmen und trösten. Diese seltsame Gegend, wo er sich gerade aufhielt, fand er stattdessen erschreckend und es roch widerlich. Aber wenn er eines gelernt hatte, ob nun von dem Sklavenhändler, dem Waffenmeister des Hauses Baenre, Zaknafein, Sorn oder Nalfein, er musste versuchen abzuwarten. Vielleicht könnte er ja durch geschicktes Fragen herausfinden, wo das Hier und Jetzt war und dann eilig zu Nhaundar zurück rennen. Das schien ein guter Plan und höchstwahrscheinlich würde dann auch die Angst vor dem Unbekannten schwinden. So schluckte Shar kurz, nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprach die Fremde an.
„Wie heißt du? Wo ist denn mein Zuhause?“, fragte er leise, aber immer noch recht hörbar.
Zarra seufzte, schüttelte kurz den Kopf und antwortete mit abfälligem Unterton in der Stimme. „Nym, was haben sie nur mit dir gemacht? Die Göttin kann es nicht gewesen sein, denn ich bin ihr immer treu ergeben bis in alle Ewigkeit. Ich bin es doch Zarra, deine Mutter. Aber ich muss dir recht geben, dass ist nicht unser Haus. Ich habe es verloren, irgendwelche Goblins sind in unser Zimmer gekommen und haben mich verjagt, nachdem du nicht mehr da warst. Doch jetzt bist du zurückgekehrt und wirst sie verjagen.“ Danach grinste Zarra von einem Ohr bis zum andere und entblößte dabei den fast zahnlosen Mund.
Shar verzog leicht angewidert die Mundwinkel und sagte sich, dass die Frau mit dem Namen Zarra wirklich hässlich war. Aber er sprach es nicht laut aus. Alles andere verstand er überhaupt nicht. Handir hatte ihm immer gesagt, dass seine Mutter wunderhübsch und jung aussah, somit war diese Dunkelelfe nicht seine Mutter und er hieß auch nicht Nym. Diese Drow vor ihm war alt, verbraucht und wenn er sich das recht überlegte, verrückt. Außerdem fragte er sich, wieso er Goblins verjagen sollte, die er nicht einmal kannte und nicht mal wusste wie. Letztendlich zuckte der junge Halbdrow mit den Schultern und blickte leicht betrübt wieder zu Boden. Der Wunsch hier zu verschwinden wurde dabei immer größer.
„Du hast doch bestimmt Hunger, mein Sohn?“, fragte Zarra plötzlich, diesmal mit krächzender Stimme, drehte sich augenblicklich herum und schlurfte davon ohne eine Antwort abzuwarten.
„Ja“, piepste Shar, sah Zarra hinterher und spürte, dass sein Bauch wie aufs Stichwort anfing zu knurren. Er fragte sich, wann er das letzte Mal etwas zu sich genommen hatte und was es gewesen war. Doch seine Erinnerungen verschwammen und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Aber gegen ein Stück Brot hätte er auf jeden Fall keine Einwende zu bringen.
„Nym, warte hier“, rief Zarra dem Jungen über die Schulter zu und schon schien sie im Nichts verschwunden sein.
Shar seufzte und ließ den Kopf wieder hängen. Das Bild von Handir erschien ihm vor seinem geistigen Auge und sein Vater lächelte ihn liebevoll an. Ohne dass er es wusste, schmunzelte der junge Halbdrow zurück und freute sich, dass Handir wieder bei ihm war. Dann passierte es, zum ersten Mal seit dem Tod des Mondelfenkriegers, antwortete dieser ohne vorher gefragt zu werden.
„Mein Sohn, habe keine Angst denn du bist in Sicherheit“, klang eine Stimme im Kopf des Jungen.
„Aber was ist mit dieser Frau?“, fragte Shar zurück und zog plötzlich einen Schmollmund. „Ich möchte hier nicht bleiben, ich will zurück zu Nhaundar.“
„Mein Sohn … Nhaundar ist nicht da. Zarra hat dich gefunden und dich versorgt. Mach dir keine Sorgen“, antwortete die Stimme.
„Handir?“, entgegnete Shar schüchtern. „Ich habe Angst.“
„Mein Sohn … habe keine Angst. Ich bin bei dir, solange du das möchtest. Niemals würde ich von deiner Seite weichen. Erinnere dich daran, was ich dir immer gesagt habe, tust du das?“, erwiderte der Mondelf in Shars tiefsten Gedanken und diesmal spürte der Junge das erste Mal, dass die Stimme wie Tausend gesprochene Stimmen auf einmal klang. Seltsam, denn das war ihm vorher niemals aufgefallen.
Der Junge nickte und flüsterte leise ein „Ja“.
„Ich werde immer bei dir bleiben und zurückkehren. Sei brav und gehorsam. Befolge alles und nie wieder wirst du dich fürchten müssen“, dabei klang diese Aussage plötzlich wie ein nicht zu ändernder Befehl.
Ein weiteres „Ja“ beantwortete die Worte und tatsächlich, der junge Halbdrow fühlte sich etwas erleichtert.
Plötzlich riss das erneute Schlurfen von Zarras Füßen über den verdreckten Höhlenboden, begleitet von aufgeregtem Piepen und Fiepen, den verwirrten Jungen aus seinen Gedanken. Überrascht schaute er auf und erkannte die alte Drow, wie sie auf ihn zukam. Sie hielt etwas in der Hand. Zuerst konnte Shar nichts erkennen, doch je mehr sie sich ihm näherte, desto erschreckender wurde der Anblick. In ihrer Hand hielt sie etwas, dass wie ein Bündel aus Stofffetzen und etwas Unbekannten an ihre abgemagerte Brust drückte. Ein wissendes Lächeln stahl sich auf ihr eingefallenes Gesicht.
„Hier hast du etwas zu essen, du siehst aus, als könntest du etwas vertragen“, grinste Zarra und hielt dem Jungen das Etwas vor die Augen.
Erschrocken riss Shar dabei seine Augen weit auf und versuchte sich mit dem Rücken gegen die Wand zu drücken. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit diesem Anblick. Die Dunkelelfe hielt ihm ein Nest entgegen, darin lagen kleine, fast noch nackte Rattenjungen, die schrieen und dabei über ihre Geschwister hinweg krochen.
„Was … was …“, begann Shar schaudernd zu fragen, musste jedoch einen kurzen Augenblick innehalten, um sich von dem Schrecken zu erholen. Mit zittriger Stimme sprach er weiter. „Das … sind Ra … Ra … Ratten.“
„Greif’ zu, sie sind erst ein paar Tage alt und schmecken gut“, wies Zarra auf die Tiere und hielt ihm das Nest direkt unter die Nase.
„NEIN!“, rief Shar laut, hob die Hand und schob die Tiere so gut es möglich war von sich fort.
„Was ist denn?“, fragte die alte Drow ungläubig und war überrascht über den entsetzen Ausdruck auf dem Gesicht ihres, in ihren Augen, angeblichen Sohnes. „Du hast gesagt du hast Hunger, also wird auch gegessen“, befahl Zarra und ihre Augen glühten mit einem Mal gefährlich rot auf.
Shar lief es eiskalt den Rücken herunter und sein Herz raste vor Furcht. Wie konnte man nur lebendige Ratten essen? Er kannte Fleisch lediglich gebraten oder als Trockenfleisch, aber niemals, das man es Lebend verspeiste. Das konnte er nicht essen und allein schon bei diesem Gedanken verkrampften sich seine Eingeweide zu einem festen Knäuel zusammen. Die Übelkeit breitete sich in seinem Körper aus und er versuchte dabei mit beiden Händen seinen Bauch zu halten und gleichzeitig noch weiter nach hinten auszuweichen.
Zarra sah das seltsame Verhalten des Jungen und verstand nicht, wieso er sich sträubte. Vielleicht ging es ihm schlechter, als sie angenommen hatte, sagte sie zu sich selbst und beschloss, dass er später etwas zu sich nehmen sollte. Aber sie spürte, dass ihr eigener Hunger nahte und ohne eine Vorwarnung griff sie mit einer Hand in das Nest hinein. Zarra zog ein nacktes Rattenjunge am Schwanz heraus, balancierte es direkt über ihren Mund und öffnete diesen. Lautes und hilfloses Fiepen setzte ein, doch die Drow ignorierte alles, ließ das Junge in ihrem Mund verschwinden und schluckte es bei lebendigem Leib hinunter.
Shar wurde bei diesem Anblick tatsächlich übel. Sein Magen drehte sich im selben Moment um, als er die grausame Szene beobachtete und in den Augenwinkeln erkannte er noch, wie der Rattenschwanz als letztes verschwand. Der Junge beugte sich nach vorne und leerte seinen eh leeren Magen. Schleim brach aus ihm heraus und er wünschte sich, dass dies eben nur ein schlimmer Traum war.
„Nym?“, fragte Zarra und beäugte den jungen Halbdrow misstrauisch, als sie ihre Mahlzeit verschlungen hatte. „Dir geht es wohl wirklich nicht gut. Bleibe liegen und ruhe dich aus. Später kannst du immer noch Essen. Ich nehme alles mit.“ Dabei lächelte Zarra mit wirrem Blick.
Shar vernahm die Worte irgendwo von weit her, konnte jedoch nicht antworten. Dies alles wurde ein wenig zu viel für sein schwaches Gemüt und sogar die Schmerzen begannen wieder von ihm Besitz zu nehmen. Er legte sich zur Seite und blieb dort regungslos liegen. Es dauerte auch nicht lange, da schloss Shar die Augen und versuchte alles was ihm lieb war, sich in seinem Geist vorzustellen. Er dachte an Sorn, Nalfein, Zaknafein und selbst an Nhaundar. Bei ihnen gab es immer etwas zu Essen. Bei seinem Herrn zwar nie viel, aber immerhin handelte es sich selbst dort um Mahlzeiten, die schmeckten und was ganz wichtig war, das Essen war bereits tot und gekocht. Mit diesen Erinnerungen glitt der junge Halbdrow langsam in den Schlaf.

Als Shar wenige Stunden später erwachte, fühlte er sich bereits ein wenig besser. Doch vergessen schien die grausame Szene von heute Morgen deswegen nicht. Zum Glück für ihn, dass Zarra sich gerade eben nicht in seiner Nähe aufhielt. Zumindest nicht unmittelbar, wo der Junge sie sofort hätte sehen können. Noch erschrocken, schwach und von Schmerzen erfüllt, versuchte Shar sich wieder aufzurichten. Der Gedanke, hier so schnell wie möglich zu verschwinden, wurde größer, je schneller der Sand in der Sanduhr verstrich. Außerdem wusste er, dass sein Magen dringend eine Mahlzeit benötigte. Alles, aber keine Ratten. Vielleicht ließ sich ja irgendwo in der Nähe etwas finden und das wollte Shar direkt in die Tat umsetzen. Schleppend und energielos versuchte sich der Junge wieder aufzurichten, lehnte mit dem Rücken gegen die kalte Wand und schaute sich um. Immer noch schien die fremde Drow mit Namen Zarra nicht in seiner Nähe zu verweilen. Erleichtert atmete er bei dieser Erkenntnis auf.
Nach wenigen Minuten hatte er es geschafft und stand auf wackeligen Beinen. Da er keine Kleider besaß, sondern lediglich die verschmutzte Decke, band er sich diese um seinen Körper. Er schnürte sich zwei Enden oben an der Schulter zusammen, den Rest um sich herum. So wirkte es fast so, als würde er eine Tunika tragen, wobei die andere Schulter nackt blieb. Den seltsamen Geruch, der von seiner neuen Kleidung ausging, ignorierte er dabei geflissentlich, er hatte ja keine andere Wahl. Genauso konnte er ja nicht einfach ohne Kleidung durch die Gegend laufen, auch wenn seine ursprüngliche Bekleidung weit mehr enthüllte, als jetzt.
Wie es wohl einer der Teufel in den Neun Höllen so wollte, kam in diesem Moment Zarra herbei gehumpelt. Shar verzog erneut angewidert das Gesicht und hatte sich schon gefreut, die Drow nicht zu sehen.
„Dir geht es wohl besser?“, erkundigte sich die alte Dunkelelfe und entblößte wie schon zuvor ihren fast zahnlosen Mund.
Der Junge schluckte und nickte lediglich als Antwort.
„Komm herüber zum Feuer, das wird dir helfen“, bat Zarra freundlich und lud Shar mit einer Geste in eine weit entfernte Ecke der Höhle ein.
Er überlegte fieberhaft, was er tun könnte und beschloss, sich doch erst einmal noch etwas auszuruhen. Eine Möglichkeit, hier herauszukommen musste sich finden lassen. So lief er langsam hinter Zarra her und nahm auf dem Boden an einem kleinen Feuer Platz.
Beide verbrachten fast den ganzen Tag hier und von der Fremden erfuhr Shar alles und nichts. Sie erzählte von früher, von diesem unbekannten Nym und von ihrem Zuhause. Der Junge verstand nun auch endlich, dass der so genannte Dunkelelf mit Namen Nym der Sohn von Zarra war. Doch alles, was Shar unternahm, um die Drow davon zu überzeugen, dass er der Falsche war, machte seine ungewöhnliche Retterin wütend und sie bedachte den Jungen stets mit einem zornigen und gleichzeitig verwirrten Blick.
Shar fühlte sich unwohl und allmählich wurde der Hunger immer größer. Er wünschte sich, dass die Frau hoffentlich einmal schlief und dann konnte er versuchen, sich die nähere Umgebung genauer anzuschauen. Alles wurde immer fremder und unheimlicher und der Wunsch nach seinem Herrn und Sorn wurde von Minute zu Minute größer.
„Morgen werden wir der Göttin unseren Dank aussprechen“, unterbrach Zarra die Gedanken des Jungen und er blickte verblüfft vom Feuer auf und bedachte die Drow mit seinen tiefblauen Augen, worin sich die Flammen gespiegelten.
„Aber doch nicht die Göttin“, wand der junge Halbdrow bestürzt ein.
Lolth, ja so hieß sie, war doch böse. Alleine schon die Erinnerung an die Kapelle des Hauses Baenre ließ ihn plötzlich erzittern. Er konnte die Statue sehen, die sich von Spinne in eine Frau verwandelte und das immer und immer wieder. Auch wenn ihm Zaknafein damals erklärte, dass nichts dahinter steckte, fürchtete sich Shar schon alleine bei diesem Gedanken. Außerdem kam hinzu, dass Sorn immer von seinem Gott erzählte. Ein Gott, der sich für ihn und auch für alle anderen, nur das Beste wünschte und der die Göttin hasste. Ganz so, wie es sein Liebster immer tat. Außerdem wusste der jungen Halbdrow, dass er sich vor Sorns Gott nicht fürchten musste.
„Das ist aber doch ein Mann und keine Frau“, warf Shar anschließend ein und bedachte Zarra mit konsterniertem Blick.
„Lolth ist unsere Göttin, unser Leben. Sie wacht über uns und eines Tages wird sie über jeden und alles herrschen“, raunte die Drow entrüstet ein und ihre Augen glühten mit einem Mal unheilsvoll auf.
„Lolth ist aber böse …“, flüsterte Shar hastig und überlegte, wie er denn der Dunkelelfe am besten erklären konnte, was Sorn ihm mit solcher Hingabe erzählte, wobei er stets aufmerksam zugehört hatte. Manchmal waren die Worte seines Liebsten besser als die besten Geschichten. Er grübelte angestrengt darüber nach, legte die Stirn in Falten und ihm kamen die Worte wieder in den Sinn. Daraufhin berichtete Shar mit lauter Stimme. „Vhaeraun ist unser Gott. Sorn hat es immer gesagt. Vhaeraun ist der … der …“, und Shar kam erneut ins Stocken. Fieberhaft überlegte er, wie der junge Dunkelelf seinen Gott immer nannte und ärgerlich schüttelte der Junge den Kopf, weil es ihm nicht gleich einfiel. Zarra ignorierte er dabei völlig, die mit entsetztem Gesichtsausruck ihren angeblichen Sohn musterte. Doch da erhellte sich das Gesicht des jungen Halbdrow plötzlich, als ihm die Worte wieder einfielen und inbrünstig sprach er weiter. „Vhaeraun! Ja Vhaeraun, der Maskierte Baron. Nein, ich meine, Vhaeraun, äh, der Maskierte König. Jawohl, so hieß er, oder nicht?“, und erneut schien Shar kurz vor der Verzweiflung, denn irgendwie klang das nicht richtig. Er biss sich auf die Lippen und überlegte weiter bis seine Augen aufleuchteten und dann sprach er wieder. „Vhaeraun, der Maskierte Kaiser. So hat mir Sorn es immer erzählt.“ Anschließend strahlte er über das ganze Gesicht.
„WAS?“, schrie Zarra und wirkte von einer Sekunde auf die andere geschockt und bebte am ganzen Körper. „Nenne diesen Namen niemals hier oder sonst wo. Sakrileg! Nym! Wie kannst du es wagen?“, rief die alte Drow immer hysterischer und schien vor Zorn zu zittern.
In einer undurchdringlichen Dunkelheit irgendwo und nirgendwo huschte ein amüsiertes Schmunzeln über ein maskiertes Gesicht eines Dunkelelfen.
Shar erschreckte sich und verstand nicht. Hatte er schon wieder etwas Falsches gesagt? „Ist … ist er denn nicht der Maskierte Kaiser? Vhaeraun heißt er doch, das weiß ich ganz genau“, erwiderte der Junge direkt und erkannte die Gefahr über seine Worte nicht.
Zarra sprang hastig auf. Ein Bild, das man bei ihrem Alter und ihrem Körperbau nicht erwartet hätte, hastete zu Shar hinüber und schlug den Jungen mehrmals ins Gesicht.
Die Hand traf den jungen Halbdrow blitzschnell und heftig, so wild, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. In einem Moment wirkte er verwundert, dann ärgerte er sich kurzzeitig bis er schließlich beschämt den Kopf senkte und den Mund hielt. Immerhin war es nicht das erste und wohl auch keinesfalls die letzte Gelegenheit, dass ihn jemand schlug. Ob nun Zarra vor ihm, Nhaundar oder eine andere Person. Nur die Tatsache, dass die Drow so aufgebracht über Vhaeraun zu sein schien, erschreckte ihn ein wenig. Was war an dem Namen und dem Gott so schrecklich, dass er geschlagen werden musste? Selbst sein Herr hatte den Gottesnamen mehrmals in den Mund genommen und niemand wurde darüber wütend. Verzweifelt kaute er auf der Unterlippe und dachte darüber nach. Aber eine Antwort bekam er nicht. Stattdessen wünschte er sich sehnsüchtig, dass Zarra einfach einschlafen und er von hier verschwinden könnte. Sein Magen knurrte dabei immer noch hungrig vor sich hin.
Die alte Drow ignorierte Shar nun und zog sich nach seinem Glaubensbekenntnis auf ihren Platz zurück. Dort bebete sie vor Aufregung zu Lolth und flüsterte plötzlich seltsame Worte vor sich hin, die niemand verstand.
Shar wagte aus Neugier einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln und erkannte, dass Zarra irgendwie mit sich selbst sprach und fand dieses Verhalten verrückt. Er schüttelte den Kopf und versuchte erst mal still sitzen zu bleiben.
Nach langen Minuten des Wartens wurde es dem jungen Halbdrow langweilig und das monotone Singen der unverständlichen Sätze der Dunkelelfe taten ihr übriges, dass sich Shar immer sehnlicher wünschte, dass Zarra schlafen würde. Der innige Wunsch wurde immer dringlicher, dass er sich sogar an seinen Vater wandte.
„Vater?“, fragte er sich selbst und hoffte, dass eine Antwort kam.
„Mein Junge“, ertönte es in seinem Kopf, wie tausend Stimmen auf einmal.
„Kann Zarra nicht schlafen? Bitte, ich habe doch Hunger und ich esse keine Ratten“, flehte Shar stumm, versuchte aber stets ein wachsames Auge auf die Frau vor ihm zu haben.
Ein Lachen dröhnte durch ihn hindurch und es wirkte ganz so, als würde Handir sich köstlich amüsieren. Es dauerte einige Sekunden bis das Gelächter verebbte und Handir erneut dem jungen Halbdrow antwortete. Die Stimme klang abermals wie tausende Stimmen auf einmal von überall her und obwohl Shar so etwas nie von Handir kannte, spürte er dabei keine Angst, sondern Ehrfurcht. „Wünsch es dir aus tiefsten Herzen, schaue Zarra an und sie wird schlafen.“
Der Junge riss die Augen weit auf und freute sich über die Hilfe seines Vaters. Er nickte kurz mit dem Kopf, so als würde er Handir sehen können und dann konzentrierte er sich auf die alte Dunkelelfe. Als Beispiel nahm er sich Sorn. Er erinnerte sich daran, was sein Liebster stets zu tun pflegte, wenn er ihn von den Schmerzen befreite und ahmte den junge Priester auf unheimliche Art und Weise genau nach. Shar raffte seinen Oberkörper auf und hob eine Hand an die Brust, direkt an sein schlagendes Herz. In seinem Kopf stellte er sich vor, dass dort die schöne Kette seines Liebsten hing. Er sammelte seine Gedanken, hielt den Blickkontakt zu Zarra nun aufrecht und sagte sich stumm und aus tiefstem Herzen: „Ich wünsche mir, dass Zarra schläft und ich keine Ratten essen muss.“ Danach huschte augenblicklich ein Lächeln über seine Lippen.
Unerwartet strömte ein seltsames, aber dennoch angenehmes Gefühl durch Shar hindurch. Sein Herz klopfte aufgeregt, ein Kribbeln schoss durch seine Adern und dann schien es so, als würde ein inneres Feuer brennen. Es glühte alles um ihn herum auf und so schnell wie es kam war es auch schon zu Ende zu. Aufgeregt musterte der junge Halbdrow Zarra und kaum hatte er sich ein Bild gemacht, erkannte er, dass du Dunkelelfe ihre Augen schloss, ihr Kopf sank schlaff auf ihre Brust und im Bruchteil einer weiteren Sekunde schlief sie. Erstaunt beäugte Shar sein Gegenüber und ein weiteres Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
„Vater, Vater?“, rief er laut und überlegte gar nicht erst, dass Zarra dadurch hätte aufwachen können.
„Ich bin hier“, erklang die Antwort in seinem Kopf.
„Hat es funktioniert? Vater, kann ich es? Bin ich jetzt wie Sorn?“, fragte der junge Halbdrow hastig und konnte sein Blick nicht von der schlafenden Zarra nehmen und sein Werk bestaunen.
Ein erneutes Lachen durchströmte den Kopf des Jungen, doch diesmal nicht so laut und widerhallend, sondern gedämpfter. „Nein, du bist noch nicht wie Sorn, aber vielleicht kannst du es eines Tages so werden“, bemerkte Handirs Stimme.
Shar strahlte und wirkte überglücklich, dass alles zur vollsten Zufriedenheit verlaufen war und wie er noch so darüber nachdachte, meldete sich sein Magen zu Wort.
„Oh“, flüsterte er leise. „Ich muss etwas essen. Handir, kann ich gehen?“, wollte sich Shar vergewissern und versuchte dabei langsam vom Boden aufzustehen.
„Geh’ und kehre nicht wieder zurück. Ich werde wieder kommen und zusammen werden wir in der Zukunft viele Dinge bewirken.“
Doch der junge Halbdrow hörte nur noch mit einem halben Ohr zu. Der Hunger bemächtigte sich seiner ganz und gar und ohne einen Blick zurück zu werfen, wanderte er durch die kleine Höhle und suchte den Ausgang. Er musste auch nicht lange forschen und fand die Rampe, durch die er erst hier her gelangte. Shar sah kurz an sich herab, seufzte über die stinkende Kleidung und begann letztendlich mit dem Aufstieg. Nach nur wenigen Metern erreichte er den Einstieg und krabbelte auf allen Vieren heraus. Ohne sich genauer umzuschauen, drehte er der verrückten Dunkelelfe hoffentlich für immer den Rücken zu und lief los. Er irrte über die Müllhalde, an dem Ungeziefer, Spinnen und Abfall vorbei und versuchte erst einmal die Straße zu finden. Dort gab es lebende Wesen und hoffentlich auch Essen.

Glühend, rote Augen beobachteten Shar bei seiner Suche. Schallendes Gelächter hallte über den verlassenen Ort der Abfallgrube und dieser jemand hatte Schwierigkeiten, mit dem Lachen aufzuhören. Es war ein attraktiver, maskierter Dunkelelf mit schwarzer Lederrüstung, einem Waffengürtel mit Kurzschwert und Dolch. Lange, weiße Haare fielen ihm über die Schultern.
„Lauf, mein Junge. Lauf der Zukunft entgegen und vielleicht wirst du am Ende der Zeit deinem Vater begegnen“, schmunzelte der Dunkelelf und wand sich ab. Dabei schien er der Meinung einen der vergnüglichsten Tage auf der Materiellen Ebene verbracht zu haben.
Ein schwarzer Nebel umwaberte ihn wie ein Wirbelwind und drehte sich rasend schnell auf der Stelle. Dann war er verschwunden und zurück blieb nichts als Leere und Schatten.
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