Dem Wahnsinn so nah
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Disclaimer:
I do not own the Forgotten Realms books. I do not make any money from the writing of this story.
37. Kap. Ein neues Leben beginnt
37. Kapitel
Ein neues Leben beginnt
Shar verlor sich in den nächsten zwei folgenden Tagen und Nächten mit jedem Schritt mehr in den gefährlichen Straßen des Braeryn, mitten in der Stadt der Spinnenkönigin.
Kaum setzte der Junge einen Fuß auf die verschmutzen Gassen des härtesten Pflasters dieses bedrohlichsten Stadtteils, fühlte er sich plötzlich wieder alleine, hilflos und verloren. Alles wirkte befremdlich und so unwirklich, wie in einem schlimmen Traum. Doch immer noch besser, als bei der alten Drow Zarra zu bleiben, sagte er sich und versuchte sich damit Mut zu machen, was nicht so einfach war. Shar wanderte allerorts und nirgendwo hin und irrte ohne Anhaltspunkt durch Braeryn. Überall erstreckten sich kleine Passagen und Sackgassen, die von einer großen Hauptstraße nach links und rechts abbogen. Es stank erbärmlich und fast noch entsetzlicher als auf der Müllhalde. Diese Straße wurde nicht umsonst von den Bewohnern Menzoberranzans „Straße des Gestanks“ genannt. Heruntergekommene Wohnhäuser und stinkende Tavernen reihten sich aneinander. Lautes Stimmengewirr, Gelächter und Schreie hallten von allen Seiten auf die Straße und Shar begegnete hier mehr Lebewesen, als er sich jemals hätte vorstellen können. Hinzu gesellten sich lungernde Handwerker, Arbeiter, Hausierer, Schurken und viele Mitglieder von anderen, niederen Völker bewohnten den Straßenrand. Selbst elternlose, kleine Drowkinder tummelten sich hier oder da in Ecken herum.
Der junge Halbdrow erinnerte sich plötzlich an früher. Schon einmal, vor vielen, vielen Jahren musste sich Shar durch die Stadt Menzoberranzan kämpfen. Zu dieser Zeit schaute alles völlig anders aus, wunderte sich der Halbelf. Was der Junge jedoch nicht wusste, dass er für Nhaundar seine Botendienste im Stadtteil Ostmyr tätigte und Shar somit noch niemals in seinem Leben einen Fuß nach Braeryn gesetzt hatte. Woher sollte der Junge es auch wissen, nach fünfzig Jahren Isolation auf dem Anwesen Xarann.
Shar trug immer noch die zu einer Tunika zusammen gebundene Decke über der Schulter. Die Haut verdreckt, die Haare klebten vom getrocknetem Blut und die gräuliche Paste bedeckte beharrlich die Wunden, die langsam verheilten. Auch wenn Zarra an einem, milde ausgedrückt, schwachen Verstand zu Grunde ging, so besaß sie dennoch segensreiches Heilwissen. Shar hatte sie damit vor dem Schlimmsten gerettet.
Dies alles wusste Shar jedoch nicht, sondern empfand alles an sich einfach abstoßend. Er wollte sich waschen, andere Kleidung anziehen und was ihn schier verzweifeln ließ, war der unerträgliche Hunger und Durst. Sein Magen knurrte unablässig und nichts und niemand konnte er ausmachen, der ihm freiwillig etwas zu essen gab. Überall wo er hinkam sah man ihn seltsam und bedrohlich an. Er musste sich mehr als einmal verstecken, man fluchte oder stieß ihn unsanft weg. Shars Kehle war trocken, doch auch kein Wasser war in Sicht. Das einzige Nass was hier existierte, war ein kleines Rinnsal, das sich am Straßenrand seinen Weg bahnte. Hin und wieder, wenn er dachte, er würde verdursten, kniete er sich nieder und befeuchtete seine Lippen. Trinken wagte er das faule und vor allem dunkle Wasser nicht.
Shar stellte sich seinen Herrn vor, wie er ihn schlug, weil er stank und verschmutz war. Ihm kam alles in den Sinn, was Nhaundar niemals geduldet hatte. Doch wo konnte der Sklavenhändler nur sein, fragte er sich jede Minute aufs Neue. Die Umgebung wirkte so fremd und die Angst hier für immer alleine sein zu müssen, ergriff von Shar Besitz. Seine tiefblauen Augen huschten von einer Seite auf die andere und so versuchte er, unliebsame Begegnungen mit Dunkelelfen, Orks oder andere Lebewesen zu verhindern. Denn wenn er sich an eines erinnerte, dann war es die einfache Tatsache, dass es für ihn als Halbdrow und ohne Nhaundar auf der Straße gefährlich war. Im fielen die Worte seines Herrn ein, der ihn warnten, dass er niemals jemand auf der Straße anschauen durfte, stets zur Seite ausweichen und allem voran mit niemanden sprechen sollte, wenn er das doch tun würde, könnte es tödlich enden. Bei diesen Gedanken erschrak Shar innerlich, denn wie fand er dann nach Hause ohne nach dem Weg zu fragen? Es musste aber doch eine Möglichkeit geben, tröste sich der junge Halbdrow selbst, blieb dabei aber stets auf der Hut. Erschwerend kam hinzu, wenn er Handir fragte, kam keine Antwort.
Mittlerweile brach die zweite Nacht für den Jungen in den Straßen von Braeryn an. Noch immer quälte ihn der anhaltende Hunger und seine Augen trübten sich vor Erschöpfung. So hatte er sich seine Flucht von Zarra nicht vorgestellt und beinahe sehnte er sich nach der Gesellschaft der alten und hässlichen Dunkelelfe. Shar fühlte sich schwach, kraftloser als jemals zuvor und der Durst wurde beißend. Sehnsüchtig schaute er sich um und erkannte die vielen Fremden, die ihn hin und wieder mit einem abfälligen Blick bedachten. Aber niemand kümmerte sich um ihn oder machte Anstalten sich ihm auch nur zu nähern. Für die Bewohner dieses Stadtteils, ob Drow, Ork, Goblin, Grauzwerg oder eine andere Rasse, war Shar nur ein unbedeutender und verwahrloster Halbdrow. Aber der gerade mal 1,50 m große Halbelf hatte auch Glück. Er stank entsetzlich nach Abfall und trug sein Sklavenhalsband. So wollte auch niemand etwas von ihm. In ihren Augen stellte er niemanden da, der es wert wäre, dass man sich mit ihm beschäftigte.
Von Stunde zu Stunde schwanden dabei Shars Energiereserven und der Junge wagte es nicht einmal sich in eine dunkle Ecke niederzulassen. Er schien der Überzeugung, dass ihn an solch einem Platz Nhaundar niemals finden konnte und so beschloss der Junge, immer auf der Hauptstraße und bei den seltsamen Bewohnern zu bleiben.
Während er die Straße entlang lief riss ihn plötzlich lautes Rufen und Gerangel aus seiner verzweifelten Angst und er wurde neugierig. Eilig schaute sich der junge Halbdrow um und erkannte wenige Meter vor sich drei kleine Dunkelelfenkinder, die sich anschrieen und miteinander kämpften. Selbst in dieser auswegslosen Situation begann die Wissbegier an Shar zu nagen. Vielleicht haben sie Essen und Trinken, sagte er sich gutgläubig und schlich sich vorsichtig am Straßenrand entlang. Unmittelbar vor den Kindern blieb der Junge stehen und beobachtete die Szene.
„Vlondril, das habe ich gefunden“, beklagte sich eine dünne Kinderstimme eines Dunkelelfenjungen, der mit der Faust soeben nach einem kleinen Mädchen schlug.
„Nilomim hat Recht. Das ist unser Essen, Vlondril. Wir haben es gefunden“, warf ein zweiter Drowjunge ein.
Das kleine Mädchen - mit langen und verfilzten Haaren, die ihr über die Schultern fielen - trug am Leib nichts weiter, als ein dünnes und sehr zerschlissenes Kleid mit vielen kleinen Löchern, und stürzte sich in jenem Moment auf die beiden kleineren Jungen. Sie krallte sich an dessen Armen und Beinen fest und zusammen verloren sie alle das Gleichgewicht und fielen mit einem dumpfen Knall auf den felsenharten Boden. Ein undefinierter Schrei erklang aus dem umgestürzten Haufen.
„Ilmryn und Nilomim, das ist mein Essen und das nehmt ihr mir nicht. Nicht ihr“, schrie das Mädchen aufgebracht, dass beide Jungen mit Vlondril angesprochen hatten, und dabei begann sie nun mit den Fäusten auf die zwei unter ihr liegenden Dunkelelfenkinder einzuschlagen. Dabei flog etwas aus dem Knäuel der drei miteinander Kämpfenden heraus und landete in unmittelbarer Nähe vor Shars Füßen.
Der junge Halbdrow riss erschrocken die Augen auf. Shar blickte aufgeregt von den Kindern zu Boden und wieder zurück. Hatte er eben etwas von Essen gehört, fragte er sich und schritt auf das heruntergefallene Etwas zu. Vorsichtig ohne dass ihn jemand gleich bemerken konnte, beugte er sich nach unten, klaubte das Verlorenengegangene auf und hielt es sich direkt vor das Gesicht. Er hatte sich nicht verhört, denn in seiner Hand hielt er ein Stück Brot.
Shars tiefblaue Augen leuchteten vor Freude hell auf und er beäugte das Essen mit strahlendem Gesicht. Wie auf Kommando begann sein Magen zu knurren und er wollte schon herzhaft hinein beißen, hielt jedoch inne. Das war nicht sein Brot, das gehörte eigentlich den drei Dunkelelfen vor ihm, fiel ihm ein. Aber sie könnten ja teilen, überlegte der junge Halbdrow leichtgläubig und musterte augenblicklich die am Boden kämpfenden Kinder.
Vielleicht hätten einst Sorn, Nalfein oder Zaknafein, sogar Nhaundar dem Jungen erzählen sollen, dass es niemals gut sein konnte, gestohlenes Essen nicht zu teilen, stattdessen lieber seine Beine in die Hand zu nehmen und eilig zu fliehen. Aber Shar wusste es nun einmal nicht anders und solange er denken konnte, wurden seine Mahlzeiten immer geteilt. Entweder er bekam die Reste, wurde zwischendurch gefüttert oder das Essen wurde ihm einfach in die Hand gedrückt. Letzteres ähnelte doch sehr seinen Gewohnheiten und so versuchte Shar geduldig zu sein. Shars Warten schien sich zu lohnen. Nach einigen Minuten verebbte der Straßenkampf.
Der junge Halbdrow blieb auf der Stelle stehen und beobachtete stillschweigend weiter. Ilmryn, Nilomim und auch Vlondril standen auf, hatten einige Kratzer und Schrammen davon getragen, schienen jedoch keinen weiteren Groll gegeneinander zu hegen.
„Wo ist das Brot?“, fragte Ilmryn plötzlich und schaute sich hektisch um, weil er sich sicher war, dass das gestohlene Brot hier unmittelbar auf der Straße liegen musste.
„Du Idiot!“, fauchte Nilomim seinen Kumpan an, tat es ihm aber gleich nach und suchte fieberhaft nach ihrer Beute.
„Da ist es!“, rief Vlondril aufgeregt zu den beiden Jungen und deutete dabei auf Shar, wobei ihre Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten.
Der junge Halbdrow lächelte vorsichtig und hielt das gefundene Essen in der Hand nach oben, damit es alle sehen konnten. Er schluckte kurz und antwortete vorsichtig und mit leiser Stimme. „Es ist euch runter gefallen. Ich habe es aufgehoben und jetzt können wir teilen.“
Die drei Dunkelelfenkinder schienen ihren Ohren nicht trauen zu wollen. Vor Unglauben blickten sie sich gegenseitig an, schüttelten verblüfft ihre Köpfe, ihre roten Augen funkelten gefährlich auf und ihre Münder öffneten sich kurz bevor sie sie gleich wieder schlossen.
„Hat der Halbdrow etwas gesagt?“, fand Ilmryn seine Sprache als erster wieder und näherte sich langsam einen Schritt nach dem anderen Shar.
„Er hat unser Brot gestohlen“, platzten Nilomim und Vlondril gleichzeitig heraus und sie folgten ihrem Kumpan.
Shar spürte die plötzliche Gefahr und das seine vorgeschlagene Idee wahrscheinlich doch nicht so gut war, wie gedacht. Sein Lächeln verschwand und stattdessen lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Sein Herz begann schneller zu klopfen und er schaute sich vorsichtshalber einmal kurz um, ganz so, als ob noch andere Drow sich ihm nähern würden. Zum Glück war dies nicht der Fall. Dann schluckte er merklich und überlegte, was er jetzt tun könnte. Die Kinder wirkten bedrohlich und ähnelten in jenem Moment Yazston, der mit Gewalt alles bekam.
„Das … das … ich meine …“, stammelte der junge Halbdrow mit ängstlicher Stimme und fühlte sich unwohl.
„Wer bist du eigentlich?“, wollte die zornige Vlondril wissen und stand nun unmittelbar vor Shar und starrte leicht nach oben in seine tiefblauen Augen, der ein Stück größer war als sie.
„Mein Name ist Shar“, wisperte der Junge kaum hörbar und vergaß dabei sogar, dass er das gestohlene Brot immer noch in der Hand hielt.
Nilomim ergriff seine Chance, hechtete eilig an dem Dunkelelfenmädchen vorbei und entriss dem jungen Halbdrow die Beute.
Erschrocken riss Shar die Augen auf und verfolgte nervös, wie der Drowjunge zu seinem Kumpan zurücklief.
Vlondril wurde zornig und wollte sich keineswegs vor ihren Mitstreitern verspotten lassen. Immerhin überlebten alle Drei gemeinsam bereits einige Jahre auf den verschmutzen und äußerst gefährlichen Straßen von Braeryn und abgesehen von kleinen Zankereien hielten sie immer zusammen. Schon gar nicht durfte sie sich erlauben, sich von einem niederen Wesen wie einem Halbdrow, der mehr als erbärmlich ausschaute und am Halsband eindeutig als Sklave erkannt werden konnte, hier zu blamieren. Auch wenn sie nur ein Straßenmädchen war, so galten doch die gleichen nicht vorhandenen Rechte und rauen Sitten, wie in jedem anderen Armenviertel in jeder Stadt, ob im Unterreich oder auf der Oberfläche – Drow oder nicht. Das sich nun der fremde Halbdrow so ungeschickt einmischte, ließ sie immer wütender werden.
„Du bist ein Sklave“, zischte Vlondril und bedachte kurz Nilomim und Ilmryn mit einem kurzen Blick, die mit einem Nicken zu verstehen gaben, dass sie machen sollte, was auch immer sie zutun gedachte.
„Habe ich dir erlaubt zu sprechen, Sklave!“, spie Vlondril nun ungehalten Shar entgegen und erntete einen ängstlichen Blick ihres Gegenübers.
Der junge Halbdrow spürte die Gefahr nun immer näher rücken und wünschte sich nichts sehnlicher, als das sein Herr ihn beschützen würde. Er war so in seinem zwanghaften und demütigen Verhalten gefangen, dass er wusste, dass er nichts machen durfte. Auch wenn vor ihm Kinder standen, die eindeutig kleiner und vor allem jünger an Jahren waren, waren sie dennoch Dunkelelfen. Sein ganzes Leben hatte er den Elfen mit der schwarzen Haut gedient und gehorcht, getan was sie wünschten, dass er selbst jetzt nicht wusste, wie er handeln sollte. So senkte er seinen Kopf und biss sich auf die Unterlippe.
„Ich habe dich etwas gefragt, Sklave“, sprach Vlondril nun mit mehr Hass in der Stimme, als Shar es von Nhaundar oder Dantrag her kannte.
Der junge Halbdrow seufzte und sagte sich, dass er doch nur etwas zu Essen wollte und sie dabei das Brot teilen konnten. Doch plötzlich schien ihm alles über den Kopf zu wachsen und sein hagerer Körper fing an zu zittern.
Im selbem Moment hob Vlondril ihre kleine Hand und schlug mit ihrer ganzen Kraft Shar mitten ins Gesicht.
Einen Augenblick war der Junge überrascht und fühlte ein feuriges Brennen auf einer Wange, genau dort, wo das Mädchen ihn getroffen hatte. Furchtsam schaute er aus den Augenwinkeln zu dem Drowkind hinunter und wünschte sich, dass er ganz alleine sein könnte. Dann seufzte Shar leise und versuchte sich wenigstens zu entschuldigen. „Ich … ich … wollte …“
Im Bruchteil einer Sekunde stürzte sich Vlondril jedoch auf den schwachen Leib von Shar und ihr Schwung tat den Rest, dass beide das Gleichgewicht verloren und zusammen auf dem harten Boden aufkamen. Shar spürte einen dumpfen Schmerz und dann trommelten bereits schlagkräftige Fäuste auf ihn ein. Das Mädchen schlug ihn mehrmals ins Gesicht und auf die Brust und von weitem konnte der junge Halbdrow hören, wie die beiden Jungen sie dabei anfeuerten.
„Vater, Vater? Wo bist du?“, flehte Shar stumm in seinem Geist und wusste nicht, ob er sich nun verteidigen oder doch lieber einfach liegen bleiben sollte. Noch während er eindringlich auf eine Antwort hoffte, erklang ein lautes Geräusch. Ein Ton von einem Horn hallte unheilsvoll durch die Straßen. Das Drowmädchen ließ augenblicklich von Shar ab, riss ihre Augen vor Schrecken weit auf und einer der Junge schrie bange auf.
„Die Jagd!“, drang eine unbekannte Stimme an das Ohr des jungen Halbdrow.
Vlondril sprang hastig auf, würdigte den Sklaven keines Blickes mehr und eilte zu den beiden Jungen hinüber. Sie flüsterten sich etwas Undeutliches zu und sofort rannten sie gemeinsam in die gegenüber liegende Richtung davon.
Zurück blieb ein ängstlicher, auf dem Boden liegender Shar, der gar nichts verstand.
„Vater, wo bist du?“, fragte der junge Halbdrow flüsternd und setzte sich etwas schwerfällig auf den harten Felsenboden auf.
Er wartete verzweifelt auf eine Antwort, aber Handir blieb stumm. Seine Augen wanderten nervös von einer Seite auf die andere, doch was er erblickte, ließ ihn gleich von neuem erzittern. Ein Bild aus früheren Tagen schien sich vor ihm abzuspielen.
Alle hier lebenden Geschöpfe auf den Straßen stoben plötzlich wild auseinander. Sie drangen aus Sackgassen und Häuserecken. Dunkelelfen, Orks, Goblins, Menschen, Zwerge und andere, Shar unbekannte Wesen, schälten sich aus den Schatten und rannen in höchster Eile davon. Viele stürmten in Häuser und verriegelten die Türen. Andere, die zu spät kamen trommelten ängstlich gegen geschlossene Fenster und Hauseingänge und schrieen, man solle sie einlassen. Wenn das nichts brachte hasteten sie zum nächsten Haus und immer so weiter. Andere wiederum kletterten an Häuserwänden nach oben und versuchten in den oberen Stockwerken ihr Glück oder stiegen selbst auf die Dächer der herunter gekommenen Wohnungen. Lautes Aufschreien breitete sich von Sekunde zu Sekunde immer weiter aus, bis Shar es nicht mehr aushielt und beide Hände auf die Ohren legte und wirr das aufgeregte Treiben beobachtete.
Erneut brandete ein Ton eines Horns über die Straße und dann konnte der junge Halbdrow selbst durch die zugehaltenen Ohrmuscheln Rufe von Männern vernehmen.
Die ganze Situation erinnerte ihn lebhaft an die vielen Feste seines Herrn Nhaundar. „Die Jagd“ hatte der Sklavenhändler das Spektakel genannt und selbst Shar nahm einmal mit eigenem Leib daran teil. Er dachte nach und ihm kamen all die längst vergessenen Bilder in den Sinn.
Erst eingeschlossen in einer dunklen Kammer, dann freigelassen und der junge Halbdrow rannte um sein Leben und seine Seele. Mehrere Dunkelelfen konnten ihn jedoch zu fassen bekommen und bemächtigten sich seiner. Vergewaltigt, geschlagen und mit unsäglichen Schmerzen entkam er der Jagd und hatte seither zusammen mit Nhaundar und dessen Gästen bei jeder neuen Veranstaltung zugeschaut. Der Höhepunkt war jedoch stets etwas ganz Besonders. Eine Priesterin Lolths wurde vor allen Augen – auch vor Shars zaghaftem Gemüt – zu Tode gefoltert. Niemand anderer als Dantrag Baenre übernahm dies gerne und ergab sich in all seinen krankhaften Fantasien dem Sakrileg hin. Anschließend war es Shar, der sich um das leibliche Wohl des Waffenmeisters des ersten Hauses zu kümmern hatte, ob freiwillig oder gewaltsam.
Die Jagd in Braeryn war ein Beispiel für Nhaundars eigene Pläne gewesen, um sich mehr Kundschaft und Verbindungen zu Adelshäusern zu verschaffen, ob niedrig, mittel oder gar der Adel eines hohen Hauses in Menzoberranzan. Brutal und abwechslungsreich sollte es sein, wie bei jeder offiziellen Jagd in den Slums. Hier, mitten im Armenviertel der Stadt der Spinnenkönigin, stellte die Jagd ein traditionelles Ereignis da, dass dem Adel, vor allem den jungen männlichen Dunkelelfen aus hohen Häusern, einen Zeitvertreib gab. Der Unterschied hieran bestand in der Gefahr für alle. Die jungen Adeligen tranken und feierten und anschließend begaben sie sich bewaffnet, betrunken und zu allem fähig auf die Straßen des Braeryn und schlachteten gnadenlos alles und jeden ab, der sich vor ihre Waffen stellte. Jeder fiel einem Drow zum Opfer, selbst vor Dunkelelfen wurde bei der Jagd keine Rücksicht genommen. Zu Beginn ertönte stets ein lautes Hornsignal und danach sollte ein jeder um sein Leben rennen.
Shar beobachtete immer nervöser und besorgter, wie jeder davon rannte. Sein hagerer Körper bebte und die grausamen Szenen von Nhaundars Jagd liefen vor seinem geistigen Auge ab. Die Gefahr breitete sich allgegenwärtig um ihn herum aus und der junge Halbdrow begriff, dass er hier nicht bleiben konnte. Eilig versuchte der Junge auf die Beine zu kommen und blickte sich um. Nur wo sollte er sich verstecken? Damals bei seinem Herrn hatte er versucht in ein kleines Loch zu kriechen. Genau das sollte er nun auch tun. Shars Augen wanderten die Straße hinauf und hinunter und die Männerstimmen näherten sich seinem Standort. Dann, ohne groß nachzudenken, wand er sich nach vorne und rannte dicht am Straßenrand davon, so schnell, wie ihn seine schwachen Beine trugen. Viele Meter legte er zurück, wobei er öfter hastig über die Schulter schaute, um sich zu vergewissern, dass er nicht verfolgt wurde.
Nach qualvollen Minuten, die Shar wie eine Ewigkeit vorkamen, erreichte er eine Stelle, wo sich zwei Hauptstraßen kreuzten. Eine führte in den nächsten Ortsteil Ostmyr und zum Basar – und wenn der junge Halbdrow es gewusst hätte, sogar noch weiter, direkt in die Arme von Nhaundar Xarann nach Duthcloim. In die andere Richtung bahnte sich der Weg noch tiefer in die dunklen Gassen des Braeryn, bis zum See Donigarten. Die Zeit wurde knapp. Da rief plötzlich ein Drow laut hinter ihm auf.
„Da ist ein Halbdrow!“
Shar erschrak und rannte los ohne sich umzusehen. Der Junge dachte an das unterirdische Labyrinth von Nhaundar und an einen Unterschlupf. Er überquerte die Straße von links nach rechts und vor ihm tat sich plötzlich ein kleines Loch mitten in der Häuserwand auf. Es schien winzig, fast schon zu eng für ein Lebewesen wie den jungen Halbdrow. Doch er gab nicht auf. Die Angst um sein Leben begann im Inneren an ihm zu nagen und er wollte einfach in Sicherheit sein. Sich schon vorzustellen, hier alleine und ohne seinen Herrn bleiben zu müssen, niemand der ihm Hilfe anbot, ließ ihn schneller werden. Er erreichte das Versteckt, kniete hastig auf alle Viere nieder und kroch hinein. Es passte, Shar kam Stück für Stück vorwärts und wohl auf Grund seines mageren Körperbaus saß er plötzlich mitten in einem dunklen Loch in einer Häuserfront am Boden, umgeben von Schwärze und Kälte und konnte nach draußen schauen.
Shars Atem kam stoßweise und heftig von der schnellen und anstrengenden Flucht. Er versuchte seine Beine anzuwinkeln und rückte soweit zurück, bis er die Wand an seinem Rücken spürte. Doch er wurde immer noch nicht verschont. Glühend rote Augen näherten sich bedrohlich dem Loch und spähten hinein.
„Hier ist er verschwunden, Gelroos“, rief der Jemand und Shar erkannte, dass sich der Drow nun ebenfalls auf den Knien befand und zu seinem Opfer kriechen wollte.
Der Leib des Jungen begann erneut vor Angst zu beben und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der Dunkelelf ihn niemals erreichen würde.
„Komm’ raus, du elende Ratte!“, ertönte es von der Lochöffnung und der Fremde streckte sein Schwert bedrohlich Shar entgegen, aber zum Glück fehlten noch einige Zentimeter, um den Jungen treffen zu können.
„Verschwinde!“, schrie Shar aus Leibeskräften und zitternder Stimme und drängte sich immer dichter an die blanke Wand im Rücken.
Ein Lachen ertönte von dem Dunkelelf vor ihm und dieser begann sogleich noch schneller mit dem Langschwert den versteckten Halbdrow zu erreichen.
Noch während die Verzweiflung immer weiter von Shar Besitz ergriff, erinnerte er sich an den Wunsch, den er bei Zarra ausgesprochen hatte. Vielleicht konnte er ein zweites Mal sein Glück herausfordern, fragte er sich und ließ seinen Gedanken augenblicklich Taten folgen. Von Angst ausgezerrt, versuchte er dennoch die Augen zu schließen, legte sanft eine Hand an die Brust und bat stumm und eingehend: „Handir? Vater, hörst du mich? Ich wünsche mir, dass dieser fremde Dunkelelf verschwindet und nie wiederkehrt.“
Bereits wie beim ersten Mal durchströmte den jungen Halbdrow augenblicklich ein Gefühl von unbekanntem Ausmaß. Sein Herz begann zu rasen, sein Blut floss schnell und immer schneller durch ihn hindurch und ein angenehmes Kribbeln ließ seine Haut aufgeregt prickeln. Ein inneres Feuer brannte mit einem Mal aus ihm heraus und loderte wild und heftig bis Shar von einer fremden Macht erfüllt wurde. Mit einer Mischung aus Angst, Ehrfurcht und absoluter Faszination musterte der Junge, wie ein helles Licht sich vor seinen Augen formte ohne ihm zu schaden, der Fremde jedoch im selben Moment geblendet aufschrie und sich eilig zurückzog.
Shar verfolgte alles neugierig und schien dennoch überrascht, als das Schwert verschwand und die rot glühenden Augen nicht mehr zu sehen waren.
„Vater? Hast du ihn vertrieben?“, fragte Shar stumm und wartete auf eine Antwort.
„Mein Sohn“, erklang plötzlich die Antwort und dabei huschte ein erleichtertes Lächeln dem jungen Halbdrow über das ganze Gesicht.
„Vater!“, rief er nun laut, wurde jedoch abrupt von der inneren Stimme unterbrochen, als diese stürmisch und dröhnend in seinem Kopf widerhallte. „Sei still, kein Ton und warte hier, bis alles vorbei ist.“
„Ja“, wisperte Shar eingeschüchtert und hielt sich von der Heftigkeit der Antwort den Kopf.
Über zwei Stunden verharrte der Junge unter der Anweisung der inneren Stimme in seinem kleinen Versteck und rührte sich nicht. Auch wenn sein Wunsch in Erfüllung ging, die Heidenangst um sein Leben war dabei jederzeit allgegenwärtig. Sein Körper erschauerte stetig und es wirkte fast so, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Dies ließ er selbst jedoch nicht zu. Shar wusste durchaus, dass die Gefahr noch lange nicht gebannt war. Von Draußen hörte er lautes Gegröle, scheppernde Geräusche und immer wieder schrille und sterbende Schreie. Weitere Minuten verstrichen und wirkten auf den furchtsamen Halbdrow wie Tage und Wochen. Irgendwann vernahm er keinen Laut mehr von der Straße und er erschrak innerlich über die plötzlich eingetretene Stille.
„Vater?“, murmelte der Junge leise und wollte sicher gehen, dass Handir noch bei ihm war.
Ein gähnendes Schweigen breitete sich jedoch in seinem Geist aus und nichts und niemand machte Anstalten etwas sagen zu wollen.
„Vater?“, versuchte es Shar wiederum, doch erneut blieb die Stimme die Antwort schuldig.
Der junge Halbdrow seufzte und schaute nach links und rechts. Doch nur die Schwärze des Verstecks umgab ihn. Vor seinen Augen erstreckten sich der Ausgang und ein glimmendes Licht, das herein drang. Fieberhaft überlegte Shar, was er tun sollte und entschloss sich, einen Blick nach draußen zu wagen. Außerdem musste er doch nach seinem Herrn suchen und das würde ihm nicht gelingen, wenn er einfach hier wartete und nichts tat. So stöhnte der Junge ein letztes Mal auf und kroch Zentimeter für Zentimeter auf den Ausgang zu. Kurz davor hielt er jedoch inne und lauschte vorsichtshalber, dass er auch nichts überhört hatte. Aber wieder nur Stille.
Shar kam aus dem Loch in der Häuserwand gekrochen und landete als erstes mit dem Bauch in etwas Feuchtem. Erschrocken blickte er auf die Stelle mit dem plötzlichen Nass und erkannte im selbem Moment was der Grund dafür war. Eine große Blutlache breitete sich vor ihm aus und er schien mitten drin zu liegen.
„Nein!“, schrie der junge Halbdrow bestürzt auf und versuchte eilig aufzustehen. Doch dies gelang ihm nur schwer, denn das immer noch frische Blut hatte sich über seinen ganzen Körper verteilt und machte seine Hände, Knie und letztendlich die Füße glitschig.
Nach mehreren Versuchen hatte es Shar endlich geschafft und stand auf zwei schwankenden Beinen und suchte nach Halt. Als er sein Gleichgewicht gefunden hatte, trat er hastig zur Seite und auf den kalten Boden. Seinen Kopf wand er zu der Blutpfütze hin und er fragte sich, ob es sein eigenes sein könnte. Aber das schien nicht möglich, denn immerhin war er die ganze Zeit über in seinem Versteck geblieben und selbst das Schwert hatte ihn nicht berührt. Doch von wem konnte es stammen? Doch er riss sich selbst aus seinem Starren und Wundern heraus. Seine tiefblauen Augen wanderten von einer Seite auf die andere, um irgendwo ein Anzeichen eines Lebewesens zu entdecken. Er seufzte auf und die Stille und Ruhe machte Shar nur noch mehr Angst. Er war alleine. So versuchte der junge Halbdrow seinen ganzen Mut zusammen zu nehmen und tat langsam und bedächtig einen Schritt nach dem anderen. Immer auf der Hut, dass niemand ihn überraschend von hinten packen konnte.
So lief er bis zur Mitte der Kreuzung zurück und wohin er auch blickte war keine Seele zu finden. Alles wirkte wie ausgestorben. Seltsam, sagte sich Shar und blieb letztendlich stehen und überlegte, welche Richtung er nun einschlagen sollte. Auf der einen Seite ging es zurück zu den stinkenden Gassen mit den herunter gekommenen Häusern und den drei Dunkelelfenkindern. Wenn er in die gegenüber liegende Richtung sah, wirkte es freundlicher. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer und er machte sich auf den Weg in das Stadtviertel Ostmyr. Doch kaum war er einige Meter dem neuen Ziel entgegen gelaufen, stockte er plötzlich. Ein Stöhnen bedeutete ihm, dass er nicht so alleine war, wie er annahm. Nervös tastete der junge Halbdrow die nähere Umgebung mit den Augen ab und erkannte vor sich etwas liegen. Obwohl es eine Gefahr darstellen konnte, nahm die Neugier überhand und er lief vorsichtig auf das Geräusch zu. Gleich darauf erschrak Shar wiederholt. Vor ihm lagen drei Drowkinder auf dem Felsenboden. Zwei davon wirkten seltsam verdreht, über und über mit Blut verschmiert und rührten sich nicht mehr. Von einem dieser Kinder erklang erneut ein Stöhnen und Röcheln. Überrascht erkannte der Junge, dass es sich hierbei um das Mädchen handelte, welches ihn nur wenige Stunden zuvor auf den Boden geworfen und rücksichtslos geschlagen hatte. Das Stück Brot lag in unmittelbarer Nähe ihres Körpers.
Mit mattem Blick bedachte Vlondril den vor ihr stehenden Halbdrow und begann abermals auf sich aufmerksam zu machen. Ihr ganzer Körper wirkte taub und kalt und sie fühlte eine unerklärliche Angst. Schwach hob sie ihre kleine Hand und versuchte diese nach dem Jungen auszustrecken, damit er ihr helfen sollte.
Doch Shar sah im ersten Moment verwirrt und teilnahmslos zu. Er erkannte die Blutlache, die sich um das Dunkelelfenmädchen ausbreitete und wusste augenblicklich, dass sie im sterben lag. Denn nicht das erste Mal in seinem Leben hatte er solch einen Anblick mit ansehen müssen und das Ende war immer gleich. Nur wenige Monate zuvor stand Shar noch zusammen mit Nhaundar im Hof des Anwesens Xarann, als sein Herr Yazston die Befehle erteilte, alle unbrauchbaren Sklaven auf der Stelle die Kehle aufzuschlitzen. Diese Situation glich der damaligen. Wenn er sich noch weiter zurück erinnerte, dann erzeugten die grausamen Folterungsszenen von Dantrag Baenre zwar noch Entsetzen, aber Shar kannte sie viel zu gut am eigenen Leib, um jetzt Furcht um sein Leben zu hegen. Das Mädchen hatte mehrere große und kleine Schnittwunden an den Gliedmaßen, sowie im Gesicht und am Kopf davon getragen und verblutete langsam. Selbst wenn Shar es gekonnt hätte, wusste er nicht, ob er helfen sollte. Die Erinnerungen an sein unerträglichen Hunger und das Brot bemächtigten sich seiner und dieses Kind hatte ihm nichts gegeben. Aber Shar wäre nicht Shar, wenn er nicht wenigstens kurz darüber nachdachte. Hilfe holte er sich dabei bei Handir, den er stumm befragte.
„Handir? Vater? Was soll ich machen?“
Einen Moment herrschte Schweigen. Dann plötzlich hallte die Stimme Handirs wie Tausende unter einer durch den Kopf des jungen Halbdrow und er musste sich beide Hände auf die Ohren legen, so laut dröhnte es in seinem Inneren. „Nimm das Brot und gehe. Verschwinde von hier und lasse das Kind liegen.“
Einen Moment wirkte Shar erschrocken, lauschte jedoch aufmerksam den Worten seines Vaters. Dann nickte er lediglich und hielt sich an die Anweisungen. Eilig beugte er sich nach unten, klaubte das Stück Brot vom Boden auf und achtete sorgfaltig darauf, dass er dem Blut des Mädchens nicht zu nah kam.
Vlondril riss ihre Augen ungläubig auf. Eben dachte sie noch, der Halbdrow wolle ihr helfen, bereits eine Sekunde später achtete er nicht mehr auf sie und griff stattdessen nach der ergatterten Beute und missachtete sie völlig. Bereits einen Moment später wurde es Vlondril immer kälter. Alles um sie herum wurde dunkel und alsdann tat sie ihren letzten Atemzug.
Shar hatte jetzt nur noch Augen für das Brot. Augenblicklich begann sein Magen so laut zu knurren, dass er selbst darüber zusammenfuhr. Der Junge machte nun einen Schritt vorwärts, starrte fasziniert das Essen an und entfernte sich dabei immer mehr und mehr von den drei Kinderleichen. Ohne es zu merken überquerte er nun ohne Angst vor weiteren Gefahren die Straße.
Die Ruhe währte jedoch nicht lange. Er schlich gerade um eine kleine Häuserecke herum, da spürte er etwas an seinem Fuß. Alarmiert blieb der junge Halbdrow abrupt stehen, hätte nahezu seine Beute fallen gelassen und sein Blick schweifte suchend nach der Art der Behinderung hin und her. Erleichtert musterte der Junge doch nur eine weitere Leiche, die im Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt vor ihm auf dem Boden lag. Auch hier war Blut auf der Straße zu erkennen und im ersten Moment konnte er nicht sehen, ob es sich um einen Mann oder Frau handelte. Die schwarze Haut wies den Toten allerdings als Dunkelelf aus und bei näherem mustern sogar als ein Soldat. Angewidert, hier wohl niemals mehr dem Ekel und Gestank entkommen zu können, rümpfte Shar die Nase. Immerhin war er selbst noch überall am ganzen Körper mit dem fremden Blut beschmiert und die gräuliche Paste, wie die abgenutzte Decke, die er als Kleidung trug, stank unangenehm. Gerade als Shar sich eilig davon stehlen wollte, um endlich das heiß begehrte Brot gierig hinunter zu schlucken, kam ihm eine Idee. Er wand sich noch einmal dem Leichnam zu, fixierte die Kleidung genauer und erkannte, dass es sich hierbei um eine schwarze Lederhose, wie ein schwarzes Hemd handelte. Ganz ähnlich der Kleidung, die Nalfein gerne trug. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht und er wollte die Gelegenheit beim Schopfe packen. Shar beugte sich nach unten, achtete jedoch sorgsam darauf, dem Blut nicht so nahe zu kommen und fingerte mit seinen Händen an dem Hemd herum. Problemlos ließ es sich öffnen und bei näherem betrachten schien es gar nicht so beschmutzt zu sein. Der rote Lebenssaft strömte aus einer Kopfwunde und floss in die andere Richtung davon. Nun legte er das Brot vorsichtig, aber dennoch gleich griffbereit neben sich und zog dem toten Drow das Hemd aus. Danach tat er es mit der Hose gleich und am Ende hielt der junge Halbdrow beides vor sich in die Luft.
„Zieh’ es an, nimm’ das Brot und verschwinde“, ertönte plötzlich Handirs Stimme in dem Kopf des Jungen.
Shar wurde einen Moment völlig überrascht, dass er sich hektisch umschaute, bis er bemerkte, dass es sein Vater gewesen war, der ihm mit seiner Idee Recht gab. Der Junge nickte kurz und machte sich rasch daran, sein Urteil zu verwirklichen. Er riss sich regelrecht die Decke von Leib, schleuderte sie dabei unachtsam auf den toten Körper und streifte sich das Hemd über. Anschließend tat er das gleiche mit der Hose. Was er jedoch nicht bedachte, die Kleidung war zu groß. Die Ärmel des Hemdes ragten um eine Handlänge über seine Fingerspitzen darüber und die Hose schleifte ebenfalls viel zu lang auf dem Boden, dass er nicht einmal seine nackten Füße sehen konnte. Die Rettung schien aber nicht weit. Aus den Augenwinkeln erspähte Shar etwas Glänzendes. Ein Dolch war beim Ausziehen der Kleidung auf den Boden gefallen ohne dass der junge Halbdrow es mitbekommen hatte. Jetzt lag er unmittelbar in der Nähe des Brotes und schien ihn geradezu zu rufen. Eilig griff er danach und hielt ihn sich vor Augen. Die Klinge leuchtete und sobald er mit den Finger über die glatte Oberfläche strich durchströmte ihn ein angenehmes Kribbeln. Ob es nun von der Waffe herrührte oder durch die Euphorie, die sich in seinem Körper breit machte, das wusste er nicht. Zum ersten Mal seit dem grauvollen Erwachen bei der alten Dunkelelfe Zarra fühlte sich Shar weder schwach noch ängstlich, denn nun hatte er Kleidung am Leib und einen Dolch in der Hand.
Mit der Klinge schnitt er die Hemdsärmel und die Hosen kürzer und seine tiefblauen Augen leuchteten stolz, als er sein Werk musterte. Er fühlte sich wie Sorn und Nalfein, die mit ihrer Kleidung immer hübsch ausschauten und mit diesen Sachen kam er sich schon fast wie sein Liebster vor. Wenn das Nhaundar und Sorn nur sehen dann können sie stolz auf mich sein, sagte er zu sich selbst und nahm wieder sein Essen in die Hand. Der nackte, tote Körper unter ihm interessierte ihn nicht mehr. Jetzt musste er eilig verschwinden, wie es Handirs und auch sein eigener Wunsch war. Gerade wollte er einen Schritt tun, da glänzte es erneut. Verblüfft schaute Shar nochmals zur Leiche. Da lag tatsächlich noch etwas auf dem Boden. Es handelte sich um ein Schwert, genauer gesagt um ein Langschwert. Solch eines kannte er nur zu gut. Es ähnelte von der Machart denen, die Zaknafein stets zu tragen pflegte und schien ihm regelrecht zu zurufen. Schnell ging er darauf zu, versuchte das Schwert aufzuheben und merkte, dass es schwer war. Sogar fast zu schwer, als dass er es aufheben konnte. Was sollte er jetzt nur tun, fragte sich der junge Halbdrow und überlegte fieberhaft.
„Wickel es in die Decke und ziehe es hinter dir her. Es kann dir nützlich sein“, klang plötzlich der Rat in seinem Geist. Doch diesmal schrak Shar nicht zurück.
„Ja Vater“, antwortete er hastig und tat wie ihm befohlen.
Anschließend konnte der junge Halbdrow den Weg in sein neues Leben antreten. Doch dies wusste er nicht und schien der Überzeugung, dass er alsbald wieder zu seinem Herrn Nhaundar Xarann zurückkehrte.
Was sich in Wahrheit ereignete verbarg sich gänzlich vor Shars Kenntnis. Er gehörte an diesem Abend, mitten im gefährlichsten Stadtteil Braeryn, zu den wenig Überlebenden auf der Straße. Shar hatte es geschafft durch einen innigen Wunsch den bedrohlichen Dunkelelfen vor seinem Versteck in tausend kleine Teile zu zersprengen ohne zu ahnen, was wirklich geschah. Selbst einem toten, adligen Soldaten aus dem Haus Barrison Del’Armgo nahm er dessen Kleidung, Dolch und Langschwert ab und verschwand unwissentlich in einer kleinen Seitenstraße im Händlerviertel Ostmyr.
In einer kleinen Häuserecke fand Shar einen ruhigen und dennoch nicht abgeschiedenen Platz, wo er die entlang ziehende Hauptstraße überblicken konnte und verschlang gierig seine Mahlzeit. Sein Magen beruhigte sich und zum ersten Mal seit Tagen fühlte sich Shar endlich wohler und sogar die Erschöpfung holte ihn in jeder Beziehung ein. Das Langschwert hielt er dabei sicher verwahrt in der Decke neben seinem Körper und legte sorgsam eine Hand darauf. Niemand sollte ihm seinen Schatz wegnehmen dürfen.
Nur wenige Stunden Schlaf gönnte sich der junge Halbdrow selbst und schon schlich Shar erneut am Straßenrand davon, doch in eine andere Richtung. Sein Weg führte ihn weit von Braeryn fort. Er durchstreifte Ostmyr. Die Häuser wirkten weniger herunter gekommen, schienen gepflegt und alles in allem war alles freundlicher. Am Morgen erreichte er etwas, dass er niemals zuvor zu Gesicht bekam, noch dass er geahnt hätte, dass sich so etwas Wunderbares in Menzoberranzan befand. Seine Augen öffneten sich vor Unglauben und er blieb wie angewurzelt stehen.
Ein neues Leben beginnt
Shar verlor sich in den nächsten zwei folgenden Tagen und Nächten mit jedem Schritt mehr in den gefährlichen Straßen des Braeryn, mitten in der Stadt der Spinnenkönigin.
Kaum setzte der Junge einen Fuß auf die verschmutzen Gassen des härtesten Pflasters dieses bedrohlichsten Stadtteils, fühlte er sich plötzlich wieder alleine, hilflos und verloren. Alles wirkte befremdlich und so unwirklich, wie in einem schlimmen Traum. Doch immer noch besser, als bei der alten Drow Zarra zu bleiben, sagte er sich und versuchte sich damit Mut zu machen, was nicht so einfach war. Shar wanderte allerorts und nirgendwo hin und irrte ohne Anhaltspunkt durch Braeryn. Überall erstreckten sich kleine Passagen und Sackgassen, die von einer großen Hauptstraße nach links und rechts abbogen. Es stank erbärmlich und fast noch entsetzlicher als auf der Müllhalde. Diese Straße wurde nicht umsonst von den Bewohnern Menzoberranzans „Straße des Gestanks“ genannt. Heruntergekommene Wohnhäuser und stinkende Tavernen reihten sich aneinander. Lautes Stimmengewirr, Gelächter und Schreie hallten von allen Seiten auf die Straße und Shar begegnete hier mehr Lebewesen, als er sich jemals hätte vorstellen können. Hinzu gesellten sich lungernde Handwerker, Arbeiter, Hausierer, Schurken und viele Mitglieder von anderen, niederen Völker bewohnten den Straßenrand. Selbst elternlose, kleine Drowkinder tummelten sich hier oder da in Ecken herum.
Der junge Halbdrow erinnerte sich plötzlich an früher. Schon einmal, vor vielen, vielen Jahren musste sich Shar durch die Stadt Menzoberranzan kämpfen. Zu dieser Zeit schaute alles völlig anders aus, wunderte sich der Halbelf. Was der Junge jedoch nicht wusste, dass er für Nhaundar seine Botendienste im Stadtteil Ostmyr tätigte und Shar somit noch niemals in seinem Leben einen Fuß nach Braeryn gesetzt hatte. Woher sollte der Junge es auch wissen, nach fünfzig Jahren Isolation auf dem Anwesen Xarann.
Shar trug immer noch die zu einer Tunika zusammen gebundene Decke über der Schulter. Die Haut verdreckt, die Haare klebten vom getrocknetem Blut und die gräuliche Paste bedeckte beharrlich die Wunden, die langsam verheilten. Auch wenn Zarra an einem, milde ausgedrückt, schwachen Verstand zu Grunde ging, so besaß sie dennoch segensreiches Heilwissen. Shar hatte sie damit vor dem Schlimmsten gerettet.
Dies alles wusste Shar jedoch nicht, sondern empfand alles an sich einfach abstoßend. Er wollte sich waschen, andere Kleidung anziehen und was ihn schier verzweifeln ließ, war der unerträgliche Hunger und Durst. Sein Magen knurrte unablässig und nichts und niemand konnte er ausmachen, der ihm freiwillig etwas zu essen gab. Überall wo er hinkam sah man ihn seltsam und bedrohlich an. Er musste sich mehr als einmal verstecken, man fluchte oder stieß ihn unsanft weg. Shars Kehle war trocken, doch auch kein Wasser war in Sicht. Das einzige Nass was hier existierte, war ein kleines Rinnsal, das sich am Straßenrand seinen Weg bahnte. Hin und wieder, wenn er dachte, er würde verdursten, kniete er sich nieder und befeuchtete seine Lippen. Trinken wagte er das faule und vor allem dunkle Wasser nicht.
Shar stellte sich seinen Herrn vor, wie er ihn schlug, weil er stank und verschmutz war. Ihm kam alles in den Sinn, was Nhaundar niemals geduldet hatte. Doch wo konnte der Sklavenhändler nur sein, fragte er sich jede Minute aufs Neue. Die Umgebung wirkte so fremd und die Angst hier für immer alleine sein zu müssen, ergriff von Shar Besitz. Seine tiefblauen Augen huschten von einer Seite auf die andere und so versuchte er, unliebsame Begegnungen mit Dunkelelfen, Orks oder andere Lebewesen zu verhindern. Denn wenn er sich an eines erinnerte, dann war es die einfache Tatsache, dass es für ihn als Halbdrow und ohne Nhaundar auf der Straße gefährlich war. Im fielen die Worte seines Herrn ein, der ihn warnten, dass er niemals jemand auf der Straße anschauen durfte, stets zur Seite ausweichen und allem voran mit niemanden sprechen sollte, wenn er das doch tun würde, könnte es tödlich enden. Bei diesen Gedanken erschrak Shar innerlich, denn wie fand er dann nach Hause ohne nach dem Weg zu fragen? Es musste aber doch eine Möglichkeit geben, tröste sich der junge Halbdrow selbst, blieb dabei aber stets auf der Hut. Erschwerend kam hinzu, wenn er Handir fragte, kam keine Antwort.
Mittlerweile brach die zweite Nacht für den Jungen in den Straßen von Braeryn an. Noch immer quälte ihn der anhaltende Hunger und seine Augen trübten sich vor Erschöpfung. So hatte er sich seine Flucht von Zarra nicht vorgestellt und beinahe sehnte er sich nach der Gesellschaft der alten und hässlichen Dunkelelfe. Shar fühlte sich schwach, kraftloser als jemals zuvor und der Durst wurde beißend. Sehnsüchtig schaute er sich um und erkannte die vielen Fremden, die ihn hin und wieder mit einem abfälligen Blick bedachten. Aber niemand kümmerte sich um ihn oder machte Anstalten sich ihm auch nur zu nähern. Für die Bewohner dieses Stadtteils, ob Drow, Ork, Goblin, Grauzwerg oder eine andere Rasse, war Shar nur ein unbedeutender und verwahrloster Halbdrow. Aber der gerade mal 1,50 m große Halbelf hatte auch Glück. Er stank entsetzlich nach Abfall und trug sein Sklavenhalsband. So wollte auch niemand etwas von ihm. In ihren Augen stellte er niemanden da, der es wert wäre, dass man sich mit ihm beschäftigte.
Von Stunde zu Stunde schwanden dabei Shars Energiereserven und der Junge wagte es nicht einmal sich in eine dunkle Ecke niederzulassen. Er schien der Überzeugung, dass ihn an solch einem Platz Nhaundar niemals finden konnte und so beschloss der Junge, immer auf der Hauptstraße und bei den seltsamen Bewohnern zu bleiben.
Während er die Straße entlang lief riss ihn plötzlich lautes Rufen und Gerangel aus seiner verzweifelten Angst und er wurde neugierig. Eilig schaute sich der junge Halbdrow um und erkannte wenige Meter vor sich drei kleine Dunkelelfenkinder, die sich anschrieen und miteinander kämpften. Selbst in dieser auswegslosen Situation begann die Wissbegier an Shar zu nagen. Vielleicht haben sie Essen und Trinken, sagte er sich gutgläubig und schlich sich vorsichtig am Straßenrand entlang. Unmittelbar vor den Kindern blieb der Junge stehen und beobachtete die Szene.
„Vlondril, das habe ich gefunden“, beklagte sich eine dünne Kinderstimme eines Dunkelelfenjungen, der mit der Faust soeben nach einem kleinen Mädchen schlug.
„Nilomim hat Recht. Das ist unser Essen, Vlondril. Wir haben es gefunden“, warf ein zweiter Drowjunge ein.
Das kleine Mädchen - mit langen und verfilzten Haaren, die ihr über die Schultern fielen - trug am Leib nichts weiter, als ein dünnes und sehr zerschlissenes Kleid mit vielen kleinen Löchern, und stürzte sich in jenem Moment auf die beiden kleineren Jungen. Sie krallte sich an dessen Armen und Beinen fest und zusammen verloren sie alle das Gleichgewicht und fielen mit einem dumpfen Knall auf den felsenharten Boden. Ein undefinierter Schrei erklang aus dem umgestürzten Haufen.
„Ilmryn und Nilomim, das ist mein Essen und das nehmt ihr mir nicht. Nicht ihr“, schrie das Mädchen aufgebracht, dass beide Jungen mit Vlondril angesprochen hatten, und dabei begann sie nun mit den Fäusten auf die zwei unter ihr liegenden Dunkelelfenkinder einzuschlagen. Dabei flog etwas aus dem Knäuel der drei miteinander Kämpfenden heraus und landete in unmittelbarer Nähe vor Shars Füßen.
Der junge Halbdrow riss erschrocken die Augen auf. Shar blickte aufgeregt von den Kindern zu Boden und wieder zurück. Hatte er eben etwas von Essen gehört, fragte er sich und schritt auf das heruntergefallene Etwas zu. Vorsichtig ohne dass ihn jemand gleich bemerken konnte, beugte er sich nach unten, klaubte das Verlorenengegangene auf und hielt es sich direkt vor das Gesicht. Er hatte sich nicht verhört, denn in seiner Hand hielt er ein Stück Brot.
Shars tiefblaue Augen leuchteten vor Freude hell auf und er beäugte das Essen mit strahlendem Gesicht. Wie auf Kommando begann sein Magen zu knurren und er wollte schon herzhaft hinein beißen, hielt jedoch inne. Das war nicht sein Brot, das gehörte eigentlich den drei Dunkelelfen vor ihm, fiel ihm ein. Aber sie könnten ja teilen, überlegte der junge Halbdrow leichtgläubig und musterte augenblicklich die am Boden kämpfenden Kinder.
Vielleicht hätten einst Sorn, Nalfein oder Zaknafein, sogar Nhaundar dem Jungen erzählen sollen, dass es niemals gut sein konnte, gestohlenes Essen nicht zu teilen, stattdessen lieber seine Beine in die Hand zu nehmen und eilig zu fliehen. Aber Shar wusste es nun einmal nicht anders und solange er denken konnte, wurden seine Mahlzeiten immer geteilt. Entweder er bekam die Reste, wurde zwischendurch gefüttert oder das Essen wurde ihm einfach in die Hand gedrückt. Letzteres ähnelte doch sehr seinen Gewohnheiten und so versuchte Shar geduldig zu sein. Shars Warten schien sich zu lohnen. Nach einigen Minuten verebbte der Straßenkampf.
Der junge Halbdrow blieb auf der Stelle stehen und beobachtete stillschweigend weiter. Ilmryn, Nilomim und auch Vlondril standen auf, hatten einige Kratzer und Schrammen davon getragen, schienen jedoch keinen weiteren Groll gegeneinander zu hegen.
„Wo ist das Brot?“, fragte Ilmryn plötzlich und schaute sich hektisch um, weil er sich sicher war, dass das gestohlene Brot hier unmittelbar auf der Straße liegen musste.
„Du Idiot!“, fauchte Nilomim seinen Kumpan an, tat es ihm aber gleich nach und suchte fieberhaft nach ihrer Beute.
„Da ist es!“, rief Vlondril aufgeregt zu den beiden Jungen und deutete dabei auf Shar, wobei ihre Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten.
Der junge Halbdrow lächelte vorsichtig und hielt das gefundene Essen in der Hand nach oben, damit es alle sehen konnten. Er schluckte kurz und antwortete vorsichtig und mit leiser Stimme. „Es ist euch runter gefallen. Ich habe es aufgehoben und jetzt können wir teilen.“
Die drei Dunkelelfenkinder schienen ihren Ohren nicht trauen zu wollen. Vor Unglauben blickten sie sich gegenseitig an, schüttelten verblüfft ihre Köpfe, ihre roten Augen funkelten gefährlich auf und ihre Münder öffneten sich kurz bevor sie sie gleich wieder schlossen.
„Hat der Halbdrow etwas gesagt?“, fand Ilmryn seine Sprache als erster wieder und näherte sich langsam einen Schritt nach dem anderen Shar.
„Er hat unser Brot gestohlen“, platzten Nilomim und Vlondril gleichzeitig heraus und sie folgten ihrem Kumpan.
Shar spürte die plötzliche Gefahr und das seine vorgeschlagene Idee wahrscheinlich doch nicht so gut war, wie gedacht. Sein Lächeln verschwand und stattdessen lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Sein Herz begann schneller zu klopfen und er schaute sich vorsichtshalber einmal kurz um, ganz so, als ob noch andere Drow sich ihm nähern würden. Zum Glück war dies nicht der Fall. Dann schluckte er merklich und überlegte, was er jetzt tun könnte. Die Kinder wirkten bedrohlich und ähnelten in jenem Moment Yazston, der mit Gewalt alles bekam.
„Das … das … ich meine …“, stammelte der junge Halbdrow mit ängstlicher Stimme und fühlte sich unwohl.
„Wer bist du eigentlich?“, wollte die zornige Vlondril wissen und stand nun unmittelbar vor Shar und starrte leicht nach oben in seine tiefblauen Augen, der ein Stück größer war als sie.
„Mein Name ist Shar“, wisperte der Junge kaum hörbar und vergaß dabei sogar, dass er das gestohlene Brot immer noch in der Hand hielt.
Nilomim ergriff seine Chance, hechtete eilig an dem Dunkelelfenmädchen vorbei und entriss dem jungen Halbdrow die Beute.
Erschrocken riss Shar die Augen auf und verfolgte nervös, wie der Drowjunge zu seinem Kumpan zurücklief.
Vlondril wurde zornig und wollte sich keineswegs vor ihren Mitstreitern verspotten lassen. Immerhin überlebten alle Drei gemeinsam bereits einige Jahre auf den verschmutzen und äußerst gefährlichen Straßen von Braeryn und abgesehen von kleinen Zankereien hielten sie immer zusammen. Schon gar nicht durfte sie sich erlauben, sich von einem niederen Wesen wie einem Halbdrow, der mehr als erbärmlich ausschaute und am Halsband eindeutig als Sklave erkannt werden konnte, hier zu blamieren. Auch wenn sie nur ein Straßenmädchen war, so galten doch die gleichen nicht vorhandenen Rechte und rauen Sitten, wie in jedem anderen Armenviertel in jeder Stadt, ob im Unterreich oder auf der Oberfläche – Drow oder nicht. Das sich nun der fremde Halbdrow so ungeschickt einmischte, ließ sie immer wütender werden.
„Du bist ein Sklave“, zischte Vlondril und bedachte kurz Nilomim und Ilmryn mit einem kurzen Blick, die mit einem Nicken zu verstehen gaben, dass sie machen sollte, was auch immer sie zutun gedachte.
„Habe ich dir erlaubt zu sprechen, Sklave!“, spie Vlondril nun ungehalten Shar entgegen und erntete einen ängstlichen Blick ihres Gegenübers.
Der junge Halbdrow spürte die Gefahr nun immer näher rücken und wünschte sich nichts sehnlicher, als das sein Herr ihn beschützen würde. Er war so in seinem zwanghaften und demütigen Verhalten gefangen, dass er wusste, dass er nichts machen durfte. Auch wenn vor ihm Kinder standen, die eindeutig kleiner und vor allem jünger an Jahren waren, waren sie dennoch Dunkelelfen. Sein ganzes Leben hatte er den Elfen mit der schwarzen Haut gedient und gehorcht, getan was sie wünschten, dass er selbst jetzt nicht wusste, wie er handeln sollte. So senkte er seinen Kopf und biss sich auf die Unterlippe.
„Ich habe dich etwas gefragt, Sklave“, sprach Vlondril nun mit mehr Hass in der Stimme, als Shar es von Nhaundar oder Dantrag her kannte.
Der junge Halbdrow seufzte und sagte sich, dass er doch nur etwas zu Essen wollte und sie dabei das Brot teilen konnten. Doch plötzlich schien ihm alles über den Kopf zu wachsen und sein hagerer Körper fing an zu zittern.
Im selbem Moment hob Vlondril ihre kleine Hand und schlug mit ihrer ganzen Kraft Shar mitten ins Gesicht.
Einen Augenblick war der Junge überrascht und fühlte ein feuriges Brennen auf einer Wange, genau dort, wo das Mädchen ihn getroffen hatte. Furchtsam schaute er aus den Augenwinkeln zu dem Drowkind hinunter und wünschte sich, dass er ganz alleine sein könnte. Dann seufzte Shar leise und versuchte sich wenigstens zu entschuldigen. „Ich … ich … wollte …“
Im Bruchteil einer Sekunde stürzte sich Vlondril jedoch auf den schwachen Leib von Shar und ihr Schwung tat den Rest, dass beide das Gleichgewicht verloren und zusammen auf dem harten Boden aufkamen. Shar spürte einen dumpfen Schmerz und dann trommelten bereits schlagkräftige Fäuste auf ihn ein. Das Mädchen schlug ihn mehrmals ins Gesicht und auf die Brust und von weitem konnte der junge Halbdrow hören, wie die beiden Jungen sie dabei anfeuerten.
„Vater, Vater? Wo bist du?“, flehte Shar stumm in seinem Geist und wusste nicht, ob er sich nun verteidigen oder doch lieber einfach liegen bleiben sollte. Noch während er eindringlich auf eine Antwort hoffte, erklang ein lautes Geräusch. Ein Ton von einem Horn hallte unheilsvoll durch die Straßen. Das Drowmädchen ließ augenblicklich von Shar ab, riss ihre Augen vor Schrecken weit auf und einer der Junge schrie bange auf.
„Die Jagd!“, drang eine unbekannte Stimme an das Ohr des jungen Halbdrow.
Vlondril sprang hastig auf, würdigte den Sklaven keines Blickes mehr und eilte zu den beiden Jungen hinüber. Sie flüsterten sich etwas Undeutliches zu und sofort rannten sie gemeinsam in die gegenüber liegende Richtung davon.
Zurück blieb ein ängstlicher, auf dem Boden liegender Shar, der gar nichts verstand.
„Vater, wo bist du?“, fragte der junge Halbdrow flüsternd und setzte sich etwas schwerfällig auf den harten Felsenboden auf.
Er wartete verzweifelt auf eine Antwort, aber Handir blieb stumm. Seine Augen wanderten nervös von einer Seite auf die andere, doch was er erblickte, ließ ihn gleich von neuem erzittern. Ein Bild aus früheren Tagen schien sich vor ihm abzuspielen.
Alle hier lebenden Geschöpfe auf den Straßen stoben plötzlich wild auseinander. Sie drangen aus Sackgassen und Häuserecken. Dunkelelfen, Orks, Goblins, Menschen, Zwerge und andere, Shar unbekannte Wesen, schälten sich aus den Schatten und rannen in höchster Eile davon. Viele stürmten in Häuser und verriegelten die Türen. Andere, die zu spät kamen trommelten ängstlich gegen geschlossene Fenster und Hauseingänge und schrieen, man solle sie einlassen. Wenn das nichts brachte hasteten sie zum nächsten Haus und immer so weiter. Andere wiederum kletterten an Häuserwänden nach oben und versuchten in den oberen Stockwerken ihr Glück oder stiegen selbst auf die Dächer der herunter gekommenen Wohnungen. Lautes Aufschreien breitete sich von Sekunde zu Sekunde immer weiter aus, bis Shar es nicht mehr aushielt und beide Hände auf die Ohren legte und wirr das aufgeregte Treiben beobachtete.
Erneut brandete ein Ton eines Horns über die Straße und dann konnte der junge Halbdrow selbst durch die zugehaltenen Ohrmuscheln Rufe von Männern vernehmen.
Die ganze Situation erinnerte ihn lebhaft an die vielen Feste seines Herrn Nhaundar. „Die Jagd“ hatte der Sklavenhändler das Spektakel genannt und selbst Shar nahm einmal mit eigenem Leib daran teil. Er dachte nach und ihm kamen all die längst vergessenen Bilder in den Sinn.
Erst eingeschlossen in einer dunklen Kammer, dann freigelassen und der junge Halbdrow rannte um sein Leben und seine Seele. Mehrere Dunkelelfen konnten ihn jedoch zu fassen bekommen und bemächtigten sich seiner. Vergewaltigt, geschlagen und mit unsäglichen Schmerzen entkam er der Jagd und hatte seither zusammen mit Nhaundar und dessen Gästen bei jeder neuen Veranstaltung zugeschaut. Der Höhepunkt war jedoch stets etwas ganz Besonders. Eine Priesterin Lolths wurde vor allen Augen – auch vor Shars zaghaftem Gemüt – zu Tode gefoltert. Niemand anderer als Dantrag Baenre übernahm dies gerne und ergab sich in all seinen krankhaften Fantasien dem Sakrileg hin. Anschließend war es Shar, der sich um das leibliche Wohl des Waffenmeisters des ersten Hauses zu kümmern hatte, ob freiwillig oder gewaltsam.
Die Jagd in Braeryn war ein Beispiel für Nhaundars eigene Pläne gewesen, um sich mehr Kundschaft und Verbindungen zu Adelshäusern zu verschaffen, ob niedrig, mittel oder gar der Adel eines hohen Hauses in Menzoberranzan. Brutal und abwechslungsreich sollte es sein, wie bei jeder offiziellen Jagd in den Slums. Hier, mitten im Armenviertel der Stadt der Spinnenkönigin, stellte die Jagd ein traditionelles Ereignis da, dass dem Adel, vor allem den jungen männlichen Dunkelelfen aus hohen Häusern, einen Zeitvertreib gab. Der Unterschied hieran bestand in der Gefahr für alle. Die jungen Adeligen tranken und feierten und anschließend begaben sie sich bewaffnet, betrunken und zu allem fähig auf die Straßen des Braeryn und schlachteten gnadenlos alles und jeden ab, der sich vor ihre Waffen stellte. Jeder fiel einem Drow zum Opfer, selbst vor Dunkelelfen wurde bei der Jagd keine Rücksicht genommen. Zu Beginn ertönte stets ein lautes Hornsignal und danach sollte ein jeder um sein Leben rennen.
Shar beobachtete immer nervöser und besorgter, wie jeder davon rannte. Sein hagerer Körper bebte und die grausamen Szenen von Nhaundars Jagd liefen vor seinem geistigen Auge ab. Die Gefahr breitete sich allgegenwärtig um ihn herum aus und der junge Halbdrow begriff, dass er hier nicht bleiben konnte. Eilig versuchte der Junge auf die Beine zu kommen und blickte sich um. Nur wo sollte er sich verstecken? Damals bei seinem Herrn hatte er versucht in ein kleines Loch zu kriechen. Genau das sollte er nun auch tun. Shars Augen wanderten die Straße hinauf und hinunter und die Männerstimmen näherten sich seinem Standort. Dann, ohne groß nachzudenken, wand er sich nach vorne und rannte dicht am Straßenrand davon, so schnell, wie ihn seine schwachen Beine trugen. Viele Meter legte er zurück, wobei er öfter hastig über die Schulter schaute, um sich zu vergewissern, dass er nicht verfolgt wurde.
Nach qualvollen Minuten, die Shar wie eine Ewigkeit vorkamen, erreichte er eine Stelle, wo sich zwei Hauptstraßen kreuzten. Eine führte in den nächsten Ortsteil Ostmyr und zum Basar – und wenn der junge Halbdrow es gewusst hätte, sogar noch weiter, direkt in die Arme von Nhaundar Xarann nach Duthcloim. In die andere Richtung bahnte sich der Weg noch tiefer in die dunklen Gassen des Braeryn, bis zum See Donigarten. Die Zeit wurde knapp. Da rief plötzlich ein Drow laut hinter ihm auf.
„Da ist ein Halbdrow!“
Shar erschrak und rannte los ohne sich umzusehen. Der Junge dachte an das unterirdische Labyrinth von Nhaundar und an einen Unterschlupf. Er überquerte die Straße von links nach rechts und vor ihm tat sich plötzlich ein kleines Loch mitten in der Häuserwand auf. Es schien winzig, fast schon zu eng für ein Lebewesen wie den jungen Halbdrow. Doch er gab nicht auf. Die Angst um sein Leben begann im Inneren an ihm zu nagen und er wollte einfach in Sicherheit sein. Sich schon vorzustellen, hier alleine und ohne seinen Herrn bleiben zu müssen, niemand der ihm Hilfe anbot, ließ ihn schneller werden. Er erreichte das Versteckt, kniete hastig auf alle Viere nieder und kroch hinein. Es passte, Shar kam Stück für Stück vorwärts und wohl auf Grund seines mageren Körperbaus saß er plötzlich mitten in einem dunklen Loch in einer Häuserfront am Boden, umgeben von Schwärze und Kälte und konnte nach draußen schauen.
Shars Atem kam stoßweise und heftig von der schnellen und anstrengenden Flucht. Er versuchte seine Beine anzuwinkeln und rückte soweit zurück, bis er die Wand an seinem Rücken spürte. Doch er wurde immer noch nicht verschont. Glühend rote Augen näherten sich bedrohlich dem Loch und spähten hinein.
„Hier ist er verschwunden, Gelroos“, rief der Jemand und Shar erkannte, dass sich der Drow nun ebenfalls auf den Knien befand und zu seinem Opfer kriechen wollte.
Der Leib des Jungen begann erneut vor Angst zu beben und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der Dunkelelf ihn niemals erreichen würde.
„Komm’ raus, du elende Ratte!“, ertönte es von der Lochöffnung und der Fremde streckte sein Schwert bedrohlich Shar entgegen, aber zum Glück fehlten noch einige Zentimeter, um den Jungen treffen zu können.
„Verschwinde!“, schrie Shar aus Leibeskräften und zitternder Stimme und drängte sich immer dichter an die blanke Wand im Rücken.
Ein Lachen ertönte von dem Dunkelelf vor ihm und dieser begann sogleich noch schneller mit dem Langschwert den versteckten Halbdrow zu erreichen.
Noch während die Verzweiflung immer weiter von Shar Besitz ergriff, erinnerte er sich an den Wunsch, den er bei Zarra ausgesprochen hatte. Vielleicht konnte er ein zweites Mal sein Glück herausfordern, fragte er sich und ließ seinen Gedanken augenblicklich Taten folgen. Von Angst ausgezerrt, versuchte er dennoch die Augen zu schließen, legte sanft eine Hand an die Brust und bat stumm und eingehend: „Handir? Vater, hörst du mich? Ich wünsche mir, dass dieser fremde Dunkelelf verschwindet und nie wiederkehrt.“
Bereits wie beim ersten Mal durchströmte den jungen Halbdrow augenblicklich ein Gefühl von unbekanntem Ausmaß. Sein Herz begann zu rasen, sein Blut floss schnell und immer schneller durch ihn hindurch und ein angenehmes Kribbeln ließ seine Haut aufgeregt prickeln. Ein inneres Feuer brannte mit einem Mal aus ihm heraus und loderte wild und heftig bis Shar von einer fremden Macht erfüllt wurde. Mit einer Mischung aus Angst, Ehrfurcht und absoluter Faszination musterte der Junge, wie ein helles Licht sich vor seinen Augen formte ohne ihm zu schaden, der Fremde jedoch im selben Moment geblendet aufschrie und sich eilig zurückzog.
Shar verfolgte alles neugierig und schien dennoch überrascht, als das Schwert verschwand und die rot glühenden Augen nicht mehr zu sehen waren.
„Vater? Hast du ihn vertrieben?“, fragte Shar stumm und wartete auf eine Antwort.
„Mein Sohn“, erklang plötzlich die Antwort und dabei huschte ein erleichtertes Lächeln dem jungen Halbdrow über das ganze Gesicht.
„Vater!“, rief er nun laut, wurde jedoch abrupt von der inneren Stimme unterbrochen, als diese stürmisch und dröhnend in seinem Kopf widerhallte. „Sei still, kein Ton und warte hier, bis alles vorbei ist.“
„Ja“, wisperte Shar eingeschüchtert und hielt sich von der Heftigkeit der Antwort den Kopf.
Über zwei Stunden verharrte der Junge unter der Anweisung der inneren Stimme in seinem kleinen Versteck und rührte sich nicht. Auch wenn sein Wunsch in Erfüllung ging, die Heidenangst um sein Leben war dabei jederzeit allgegenwärtig. Sein Körper erschauerte stetig und es wirkte fast so, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Dies ließ er selbst jedoch nicht zu. Shar wusste durchaus, dass die Gefahr noch lange nicht gebannt war. Von Draußen hörte er lautes Gegröle, scheppernde Geräusche und immer wieder schrille und sterbende Schreie. Weitere Minuten verstrichen und wirkten auf den furchtsamen Halbdrow wie Tage und Wochen. Irgendwann vernahm er keinen Laut mehr von der Straße und er erschrak innerlich über die plötzlich eingetretene Stille.
„Vater?“, murmelte der Junge leise und wollte sicher gehen, dass Handir noch bei ihm war.
Ein gähnendes Schweigen breitete sich jedoch in seinem Geist aus und nichts und niemand machte Anstalten etwas sagen zu wollen.
„Vater?“, versuchte es Shar wiederum, doch erneut blieb die Stimme die Antwort schuldig.
Der junge Halbdrow seufzte und schaute nach links und rechts. Doch nur die Schwärze des Verstecks umgab ihn. Vor seinen Augen erstreckten sich der Ausgang und ein glimmendes Licht, das herein drang. Fieberhaft überlegte Shar, was er tun sollte und entschloss sich, einen Blick nach draußen zu wagen. Außerdem musste er doch nach seinem Herrn suchen und das würde ihm nicht gelingen, wenn er einfach hier wartete und nichts tat. So stöhnte der Junge ein letztes Mal auf und kroch Zentimeter für Zentimeter auf den Ausgang zu. Kurz davor hielt er jedoch inne und lauschte vorsichtshalber, dass er auch nichts überhört hatte. Aber wieder nur Stille.
Shar kam aus dem Loch in der Häuserwand gekrochen und landete als erstes mit dem Bauch in etwas Feuchtem. Erschrocken blickte er auf die Stelle mit dem plötzlichen Nass und erkannte im selbem Moment was der Grund dafür war. Eine große Blutlache breitete sich vor ihm aus und er schien mitten drin zu liegen.
„Nein!“, schrie der junge Halbdrow bestürzt auf und versuchte eilig aufzustehen. Doch dies gelang ihm nur schwer, denn das immer noch frische Blut hatte sich über seinen ganzen Körper verteilt und machte seine Hände, Knie und letztendlich die Füße glitschig.
Nach mehreren Versuchen hatte es Shar endlich geschafft und stand auf zwei schwankenden Beinen und suchte nach Halt. Als er sein Gleichgewicht gefunden hatte, trat er hastig zur Seite und auf den kalten Boden. Seinen Kopf wand er zu der Blutpfütze hin und er fragte sich, ob es sein eigenes sein könnte. Aber das schien nicht möglich, denn immerhin war er die ganze Zeit über in seinem Versteck geblieben und selbst das Schwert hatte ihn nicht berührt. Doch von wem konnte es stammen? Doch er riss sich selbst aus seinem Starren und Wundern heraus. Seine tiefblauen Augen wanderten von einer Seite auf die andere, um irgendwo ein Anzeichen eines Lebewesens zu entdecken. Er seufzte auf und die Stille und Ruhe machte Shar nur noch mehr Angst. Er war alleine. So versuchte der junge Halbdrow seinen ganzen Mut zusammen zu nehmen und tat langsam und bedächtig einen Schritt nach dem anderen. Immer auf der Hut, dass niemand ihn überraschend von hinten packen konnte.
So lief er bis zur Mitte der Kreuzung zurück und wohin er auch blickte war keine Seele zu finden. Alles wirkte wie ausgestorben. Seltsam, sagte sich Shar und blieb letztendlich stehen und überlegte, welche Richtung er nun einschlagen sollte. Auf der einen Seite ging es zurück zu den stinkenden Gassen mit den herunter gekommenen Häusern und den drei Dunkelelfenkindern. Wenn er in die gegenüber liegende Richtung sah, wirkte es freundlicher. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer und er machte sich auf den Weg in das Stadtviertel Ostmyr. Doch kaum war er einige Meter dem neuen Ziel entgegen gelaufen, stockte er plötzlich. Ein Stöhnen bedeutete ihm, dass er nicht so alleine war, wie er annahm. Nervös tastete der junge Halbdrow die nähere Umgebung mit den Augen ab und erkannte vor sich etwas liegen. Obwohl es eine Gefahr darstellen konnte, nahm die Neugier überhand und er lief vorsichtig auf das Geräusch zu. Gleich darauf erschrak Shar wiederholt. Vor ihm lagen drei Drowkinder auf dem Felsenboden. Zwei davon wirkten seltsam verdreht, über und über mit Blut verschmiert und rührten sich nicht mehr. Von einem dieser Kinder erklang erneut ein Stöhnen und Röcheln. Überrascht erkannte der Junge, dass es sich hierbei um das Mädchen handelte, welches ihn nur wenige Stunden zuvor auf den Boden geworfen und rücksichtslos geschlagen hatte. Das Stück Brot lag in unmittelbarer Nähe ihres Körpers.
Mit mattem Blick bedachte Vlondril den vor ihr stehenden Halbdrow und begann abermals auf sich aufmerksam zu machen. Ihr ganzer Körper wirkte taub und kalt und sie fühlte eine unerklärliche Angst. Schwach hob sie ihre kleine Hand und versuchte diese nach dem Jungen auszustrecken, damit er ihr helfen sollte.
Doch Shar sah im ersten Moment verwirrt und teilnahmslos zu. Er erkannte die Blutlache, die sich um das Dunkelelfenmädchen ausbreitete und wusste augenblicklich, dass sie im sterben lag. Denn nicht das erste Mal in seinem Leben hatte er solch einen Anblick mit ansehen müssen und das Ende war immer gleich. Nur wenige Monate zuvor stand Shar noch zusammen mit Nhaundar im Hof des Anwesens Xarann, als sein Herr Yazston die Befehle erteilte, alle unbrauchbaren Sklaven auf der Stelle die Kehle aufzuschlitzen. Diese Situation glich der damaligen. Wenn er sich noch weiter zurück erinnerte, dann erzeugten die grausamen Folterungsszenen von Dantrag Baenre zwar noch Entsetzen, aber Shar kannte sie viel zu gut am eigenen Leib, um jetzt Furcht um sein Leben zu hegen. Das Mädchen hatte mehrere große und kleine Schnittwunden an den Gliedmaßen, sowie im Gesicht und am Kopf davon getragen und verblutete langsam. Selbst wenn Shar es gekonnt hätte, wusste er nicht, ob er helfen sollte. Die Erinnerungen an sein unerträglichen Hunger und das Brot bemächtigten sich seiner und dieses Kind hatte ihm nichts gegeben. Aber Shar wäre nicht Shar, wenn er nicht wenigstens kurz darüber nachdachte. Hilfe holte er sich dabei bei Handir, den er stumm befragte.
„Handir? Vater? Was soll ich machen?“
Einen Moment herrschte Schweigen. Dann plötzlich hallte die Stimme Handirs wie Tausende unter einer durch den Kopf des jungen Halbdrow und er musste sich beide Hände auf die Ohren legen, so laut dröhnte es in seinem Inneren. „Nimm das Brot und gehe. Verschwinde von hier und lasse das Kind liegen.“
Einen Moment wirkte Shar erschrocken, lauschte jedoch aufmerksam den Worten seines Vaters. Dann nickte er lediglich und hielt sich an die Anweisungen. Eilig beugte er sich nach unten, klaubte das Stück Brot vom Boden auf und achtete sorgfaltig darauf, dass er dem Blut des Mädchens nicht zu nah kam.
Vlondril riss ihre Augen ungläubig auf. Eben dachte sie noch, der Halbdrow wolle ihr helfen, bereits eine Sekunde später achtete er nicht mehr auf sie und griff stattdessen nach der ergatterten Beute und missachtete sie völlig. Bereits einen Moment später wurde es Vlondril immer kälter. Alles um sie herum wurde dunkel und alsdann tat sie ihren letzten Atemzug.
Shar hatte jetzt nur noch Augen für das Brot. Augenblicklich begann sein Magen so laut zu knurren, dass er selbst darüber zusammenfuhr. Der Junge machte nun einen Schritt vorwärts, starrte fasziniert das Essen an und entfernte sich dabei immer mehr und mehr von den drei Kinderleichen. Ohne es zu merken überquerte er nun ohne Angst vor weiteren Gefahren die Straße.
Die Ruhe währte jedoch nicht lange. Er schlich gerade um eine kleine Häuserecke herum, da spürte er etwas an seinem Fuß. Alarmiert blieb der junge Halbdrow abrupt stehen, hätte nahezu seine Beute fallen gelassen und sein Blick schweifte suchend nach der Art der Behinderung hin und her. Erleichtert musterte der Junge doch nur eine weitere Leiche, die im Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt vor ihm auf dem Boden lag. Auch hier war Blut auf der Straße zu erkennen und im ersten Moment konnte er nicht sehen, ob es sich um einen Mann oder Frau handelte. Die schwarze Haut wies den Toten allerdings als Dunkelelf aus und bei näherem mustern sogar als ein Soldat. Angewidert, hier wohl niemals mehr dem Ekel und Gestank entkommen zu können, rümpfte Shar die Nase. Immerhin war er selbst noch überall am ganzen Körper mit dem fremden Blut beschmiert und die gräuliche Paste, wie die abgenutzte Decke, die er als Kleidung trug, stank unangenehm. Gerade als Shar sich eilig davon stehlen wollte, um endlich das heiß begehrte Brot gierig hinunter zu schlucken, kam ihm eine Idee. Er wand sich noch einmal dem Leichnam zu, fixierte die Kleidung genauer und erkannte, dass es sich hierbei um eine schwarze Lederhose, wie ein schwarzes Hemd handelte. Ganz ähnlich der Kleidung, die Nalfein gerne trug. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht und er wollte die Gelegenheit beim Schopfe packen. Shar beugte sich nach unten, achtete jedoch sorgsam darauf, dem Blut nicht so nahe zu kommen und fingerte mit seinen Händen an dem Hemd herum. Problemlos ließ es sich öffnen und bei näherem betrachten schien es gar nicht so beschmutzt zu sein. Der rote Lebenssaft strömte aus einer Kopfwunde und floss in die andere Richtung davon. Nun legte er das Brot vorsichtig, aber dennoch gleich griffbereit neben sich und zog dem toten Drow das Hemd aus. Danach tat er es mit der Hose gleich und am Ende hielt der junge Halbdrow beides vor sich in die Luft.
„Zieh’ es an, nimm’ das Brot und verschwinde“, ertönte plötzlich Handirs Stimme in dem Kopf des Jungen.
Shar wurde einen Moment völlig überrascht, dass er sich hektisch umschaute, bis er bemerkte, dass es sein Vater gewesen war, der ihm mit seiner Idee Recht gab. Der Junge nickte kurz und machte sich rasch daran, sein Urteil zu verwirklichen. Er riss sich regelrecht die Decke von Leib, schleuderte sie dabei unachtsam auf den toten Körper und streifte sich das Hemd über. Anschließend tat er das gleiche mit der Hose. Was er jedoch nicht bedachte, die Kleidung war zu groß. Die Ärmel des Hemdes ragten um eine Handlänge über seine Fingerspitzen darüber und die Hose schleifte ebenfalls viel zu lang auf dem Boden, dass er nicht einmal seine nackten Füße sehen konnte. Die Rettung schien aber nicht weit. Aus den Augenwinkeln erspähte Shar etwas Glänzendes. Ein Dolch war beim Ausziehen der Kleidung auf den Boden gefallen ohne dass der junge Halbdrow es mitbekommen hatte. Jetzt lag er unmittelbar in der Nähe des Brotes und schien ihn geradezu zu rufen. Eilig griff er danach und hielt ihn sich vor Augen. Die Klinge leuchtete und sobald er mit den Finger über die glatte Oberfläche strich durchströmte ihn ein angenehmes Kribbeln. Ob es nun von der Waffe herrührte oder durch die Euphorie, die sich in seinem Körper breit machte, das wusste er nicht. Zum ersten Mal seit dem grauvollen Erwachen bei der alten Dunkelelfe Zarra fühlte sich Shar weder schwach noch ängstlich, denn nun hatte er Kleidung am Leib und einen Dolch in der Hand.
Mit der Klinge schnitt er die Hemdsärmel und die Hosen kürzer und seine tiefblauen Augen leuchteten stolz, als er sein Werk musterte. Er fühlte sich wie Sorn und Nalfein, die mit ihrer Kleidung immer hübsch ausschauten und mit diesen Sachen kam er sich schon fast wie sein Liebster vor. Wenn das Nhaundar und Sorn nur sehen dann können sie stolz auf mich sein, sagte er zu sich selbst und nahm wieder sein Essen in die Hand. Der nackte, tote Körper unter ihm interessierte ihn nicht mehr. Jetzt musste er eilig verschwinden, wie es Handirs und auch sein eigener Wunsch war. Gerade wollte er einen Schritt tun, da glänzte es erneut. Verblüfft schaute Shar nochmals zur Leiche. Da lag tatsächlich noch etwas auf dem Boden. Es handelte sich um ein Schwert, genauer gesagt um ein Langschwert. Solch eines kannte er nur zu gut. Es ähnelte von der Machart denen, die Zaknafein stets zu tragen pflegte und schien ihm regelrecht zu zurufen. Schnell ging er darauf zu, versuchte das Schwert aufzuheben und merkte, dass es schwer war. Sogar fast zu schwer, als dass er es aufheben konnte. Was sollte er jetzt nur tun, fragte sich der junge Halbdrow und überlegte fieberhaft.
„Wickel es in die Decke und ziehe es hinter dir her. Es kann dir nützlich sein“, klang plötzlich der Rat in seinem Geist. Doch diesmal schrak Shar nicht zurück.
„Ja Vater“, antwortete er hastig und tat wie ihm befohlen.
Anschließend konnte der junge Halbdrow den Weg in sein neues Leben antreten. Doch dies wusste er nicht und schien der Überzeugung, dass er alsbald wieder zu seinem Herrn Nhaundar Xarann zurückkehrte.
Was sich in Wahrheit ereignete verbarg sich gänzlich vor Shars Kenntnis. Er gehörte an diesem Abend, mitten im gefährlichsten Stadtteil Braeryn, zu den wenig Überlebenden auf der Straße. Shar hatte es geschafft durch einen innigen Wunsch den bedrohlichen Dunkelelfen vor seinem Versteck in tausend kleine Teile zu zersprengen ohne zu ahnen, was wirklich geschah. Selbst einem toten, adligen Soldaten aus dem Haus Barrison Del’Armgo nahm er dessen Kleidung, Dolch und Langschwert ab und verschwand unwissentlich in einer kleinen Seitenstraße im Händlerviertel Ostmyr.
In einer kleinen Häuserecke fand Shar einen ruhigen und dennoch nicht abgeschiedenen Platz, wo er die entlang ziehende Hauptstraße überblicken konnte und verschlang gierig seine Mahlzeit. Sein Magen beruhigte sich und zum ersten Mal seit Tagen fühlte sich Shar endlich wohler und sogar die Erschöpfung holte ihn in jeder Beziehung ein. Das Langschwert hielt er dabei sicher verwahrt in der Decke neben seinem Körper und legte sorgsam eine Hand darauf. Niemand sollte ihm seinen Schatz wegnehmen dürfen.
Nur wenige Stunden Schlaf gönnte sich der junge Halbdrow selbst und schon schlich Shar erneut am Straßenrand davon, doch in eine andere Richtung. Sein Weg führte ihn weit von Braeryn fort. Er durchstreifte Ostmyr. Die Häuser wirkten weniger herunter gekommen, schienen gepflegt und alles in allem war alles freundlicher. Am Morgen erreichte er etwas, dass er niemals zuvor zu Gesicht bekam, noch dass er geahnt hätte, dass sich so etwas Wunderbares in Menzoberranzan befand. Seine Augen öffneten sich vor Unglauben und er blieb wie angewurzelt stehen.