Dem Wahnsinn so nah
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German › Books
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Disclaimer:
I do not own the Forgotten Realms books. I do not make any money from the writing of this story.
40. Kap. Elend
40. Kapitel
Elend
„Ugurth, du Hohlkopf!“, hallte eine wütende Dunkelelfenstimme über den Hinterhof des Spirituosenladens „Die schwarze Seele“ mitten im Händlerviertel Ostmyr von Menzobarranzan. Die Beleidigung wurde vom Besitzer jenes Ladens aus der Hintertür gerufen, während rot glühende Augen jeden Schritt von Ugurth überwachten.
Bei Ugurth handelte es sich um einen in die Jahre gekommenen Ork, der für den Spirituosenhändler Veszmyr Zolond arbeitete. Jedoch nicht als Sklave, sondern als freies Lebewesen, das sich bereits vor Jahrzehnten ins Unterreich zurückgezogen hatte, um hier und da Schwierigkeiten und äußerst unangenehme Clanzwistigkeiten aus dem Weg zu gehen. Oder einfacher gesagt, Ugurth war ein Feigling und versteckte sich in der Stadt der Spinnenkönigin. Über mehrere Städte und Handelskarawanen gelang der ältere Ork nach Menzoberranzan, blieb und fand eine Anstellung in dem kleinen, aber durchaus lohnenswerten Spirituosenladen „Die Schwarze Seele“.
Der Besitzer Vesmyr Zolond war ein rundlicher Drow von kleiner Statur. Er besaß kurzes weißes Haar, rote Augen und sein Gesicht wirkte leicht aufgedunsen, was nicht von seinen fast achthundert Jahren herrührte, sondern von seiner Lebensweise. Der Dunkelelf verriet niemanden etwas davon, aber hinter vorgehaltener Hand ging das Gerücht um, dass Veszmyr mehr als nur einmal am Tag an der eigenen Ware probierte und jeden Tropfen liebte. Hinzu kam seine Trägheit. Der Händler Zolond beschäftigte sich mit der Buchführung, den Einkauf von neuem Alkohol auf dem Basar oder altbekannte Karawanen von der Oberfläche und ließ es sich ansonsten gut und gerne auf einem bequemen Diwan gut gehen und beobachtete andere beim arbeiten. Natürlich kam das Essen nicht zu kurz und der Koch bereitete ihm stets köstliche Gaumenfreuden. Veszmyr hatte ja seine Mitarbeiter, die sich um die handwerklichen Dinge kümmerten, die im Laden anfielen, somit blieb ihm der gemütliche Teil des Lebens.
„Ugurth, die leeren Fässer, nicht die vollen. Beeil dich endlich, du Idiot! Aber bring den Sack erst rein und dann hole die Holzfässer“, schnaubte Veszmyr ungehalten über die Dummheit des Ork, der in die falsche Richtung davon schlurfen wollte. Anschließend seufzte er herzzerreißend und wünschte sich, nicht ständig von Schwachköpfen umgeben sein zu müssen.
„Ja, Herr“, brummte Ugurth eingeschnappt, machte sich in die entgegen gesetzte Richtung auf und lief dabei mit krummen Beinen über den Innenhof. Auf dem Rücken trug er einen schweren Getreidesack und verschwand augenblicklich damit in den Ladenräumen. Nur einige Minuten später kam der Ork wieder heraus und machte sich auf den Weg zu den leeren Weinfässern am Eingang zum Hof. Im Schlepptau befand sich nun ein Dunkelelf.
Der Dunkelelf hieß Hatch’nett. Er war ein muskulöser Drow von normaler Statur seiner Rasse, mit weißem langen Haar und roten Augen. Hatch’nett war fast schon dreihundert Jahre alt und ebenfalls ein Mitarbeiter des Händlers Veszmyr Zolond. Die schwere Arbeit von täglichem Kisten, Säcken und Fässer schleppen ließen ihn wie ein Krieger aussehen, doch in Wahrheit war er nur ein einfacher Drow, der sich sein Geld hier und anderswo verdiente. Selbst in einer Händlerkarawane versuchte er es vor Jahrzehnten, doch für die Gefahren des Unterreichs war er nicht der geeignete Schlag eines Dunkelelfen, ihm fehlte es an Kampfgeschick und vor allem an Mut. Somit teilte er sich die Feigheit des Orks und ließ es sich lieber an Ort und Stelle gut gehen. Immerhin reichte seine Entlohnung aus, um ein ordentliches Zimmer zu mieten, gut zu speisen und hin und wieder ein Spielchen Sava zu wagen. Die Frauen in gewissen Etablissement schienen ebenfalls nicht abgeneigt von Hatch’nett, der für sein Alter ein recht eindruckvolles Bild vorzuzeigen hatte. Alles in allem ein Elf, der für einen schmierigen Spirituosenhändler arbeitete und sich sein Leben nach dem niederen Standart gut verdiente.
Beide, Hatch’nett und Ugurth, liefen über den Innenhof „Der schwarzen Seele“ und seufzten über die noch so späte Arbeit. Ihr Murren half nicht viel. Veszmyr war gnadenlos und bezahlte nur, wenn am Abend alles nach Richtigkeit und Zeitplan erfolgt war. Ausgerechnet heute Morgen kam eine große Lieferung direkt von der Oberfläche an. Für die hier einkaufenden Kunden sehr angenehm, aber nicht für die Mitarbeiter des Ladens.
Ugurth rückte an zwei leeren Weinfässern heran und hob sich augenblicklich eins auf die Schulter. Hatch’nett trat neben ihm und wollte es ihm gleich tun. Doch der Drow hielt mitten in seiner Bewegung inne und starrte gebannt zu Boden. Seine Augen weiteten sich kurzzeitig, dann schien er sich wieder gefasst zu haben, aber er blieb still stehen.
„Was ist?“, wollte der Ork schwerfällig wissen, als er bemerkte, dass sich der Drow nicht mehr rührte.
„Wir haben Besuch“, erwiderte Hatch’nett geistesabwesend und schaute immer noch nach unten, wo er einen schlafenden jungen Halbdrow erblickte, der sich zusammengerollt zwischen den beiden leeren Holzfässern versteckt hatte.
„Was?“, fragte Ugurth sogleich hinter her und machte der Intelligenz seiner Rasse in jenem Moment alle Ehre, indem er einen dummen Gesichtsausdruck aufsetzte und mit fragendem Blick Hatch’nett anstarrte.
Der Drow seufzte, bedachte den Ork mit stechenden Augen und sprach laut. „Wir haben Besuch, wie man deutlich sehen kann. Und Veszmyr hat Recht, du bist ein Idiot.“
„Das ist eine Beleidigung“, entgegnete Ugurth und bleckte dabei seine beiden Stoßzähne, um mehr Eindruck zu hinterlassen.
„Du weißt doch nicht einmal was eine Beleidigung ist“, lachte Hatchn’nett leise und konnte im Gesicht des Orks erkennen, dass er mal wieder wahre Worte zu ihm gesprochen hatte, denn er schien gar nichts verstanden zu haben.
„Bei den Neun Höllen, was ist hier los? Steht nicht da wie die Ölgötzen und macht euch an die Arbeit, ihr Gesindel“, unterbrach die wütende Stimme von Veszmyr die Beiden im Hof. Er spähte aus der Tür heraus und erkannte lediglich seine zwei Mitarbeiter, die faul dastanden und etwas anstarrten.
„Heute treiben mich alle noch in den Wahnsinn“, schimpfte der Spirituosenhändler in sich hinein und war gänzlich abgeneigt weitere Verzögerungen zu dulden.
„Herr?“, rief Hatch’nett Veszmyr zu, drehte sich um und in seinen Augen spiegelte sich die Verwirrung wider.
„Was denn noch?“, machte Veszmyr seiner Wut mit zähneknirschender Stimme Luft und trat auf die Türschwelle. „Ich bezahle keine Faulpelze.“
„Herr?“, mischte sich der jüngere Dunkelelf erneut an den Händler und blickte dabei über die Schulter, um den schlafenden Jungen nochmals in Augenschein nehmen zu können, denn er hätte sich ja auch durchaus irren können und hatte alles nur geträumt. Hatte er nicht und ob das nun eine gute oder schlechte Nachricht für diesen Abend war oder nicht, er musste wenigstens seine Entdeckung kundtun. „Wir haben hier einen Besucher, Meister Zolond.“
„Dann sag’ das doch gleich“, brüllte Veszmyr wütend und stand binnen weniger Sekunden im Innenhof und bewegte sich für seinen Leibesumfang plötzlich schnell und zügig auf seine Mitarbeiter zu. „Wer ist es denn?“, erkundigte sich der Händler beim Gehen und schaute neugierig über seinen Besitz hinweg. Doch die Stirn legte sich in Falten, als er nichts weiter erkannte als das, was noch vor wenigen Minuten hier stand, alles, aber keinen Besucher oder gar Kunde.
„Das kann ich euch nicht sagen, er schläft“, antwortete Hatch’nett wahrheitsgemäß, wobei ihn ein ungutes Gefühl plötzlich einen unangenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ. Die Laune seines Herrn war heute bereits nicht die Beste und würde sich auch nicht über die unliebsame Entdeckung aufbessern lassen. Doch die Aussicht auf einen noch erholsamen Abend und ein weiteres Schäferstündchen mit dem weiblichen Geschlecht ließ den Drow hoffen, da er seinen Fund rechtzeitig gemeldet hatte und vielleicht auch zwei oder drei Kupfermünzen mehr erhalten könnte. Immerhin war er der Entdecker.
„Hör’ auf in Rätseln zu sprechen, sonst vergesse ich mich ganz und gar“, schnaubte Veszmyr und stand nun unmittelbar neben Hatch’nett und Ugurth. „Wo ist der Besuch und wer ist es?“, wollte der Händler wissen und bedachte dabei die Beiden mit funkelnden Adleraugen.
„Hier“, meldete sich der junge Drow zu Wort und unterstrich seine Aussage mit einer Handgeste, indem er auf den schlafenden Halbdrow am Boden deutete.
Veszmyrs Augen weiteten sich und sein Mund öffnete sich leicht. Welch eine Unverschämtheit, sagte er dabei zu sich selbst und augenblicklich stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase. Es roch widerlich nach Unrat, Abfall und getrocknetem Blut und so rümpfte er die Nase, starrte den Schlafenden an und blickte zurück zu seinen Arbeitern. „Wer ist das?“, fragte der Händler und ärgerte sich über die sinnlos vergeudete Zeit, anstatt hinter seinem Schreibtisch zu sitzen und die Tageseinnahmen zählen zu können.
„Ugurth weiß es nicht“, versuchte der Ork als erster zu erklären, hielt jedoch sofort wieder den Mund, als er von Veszmyr bedrohlich angestarrt wurde.
„Heute Morgen war er noch nicht da“, erwiderte nun Hatch’nett, der dem Blick seines Herrn auswich und wieder zum dem schlafenden Halbdrow hinunter sah.
„Bring’ das da weg! Sofort! Es stinkt widerlich und wahrscheinlich kann so ein Ding nicht mal reden“, knurrte der Spirituosenhändler böse und umklammerte nur eine Sekunde später seine Nase mit zwei Fingern und atmete nur noch durch den Mund.
Was die Drei vor sich beobachteten machte wirklich einen sehr erbärmlichen wie auch anstößigen Eindruck. Shar, der sich nach der unbeherrschenden Strafe Vhaerauns bis hier her schleppen konnte, lag zusammengekauert auf dem Boden und hatte die Augenlider geschlossen.
Natürlich ahnte der Junge nichts von seiner Bestrafung. Vielleicht auch das Heilsamste für ihn. Der Maskierte Fürst beschäftigte sich gegenwärtig mit seinem Groll und wartete einfach ab und der Anführer von Bregan D’aerthe musste nur auf ein Wort seines Gottes warten. Außerdem hatte Vhaeraun Zeit. Was bedeuten schon Tage, Wochen, Monate, wenn man weiß, dass Äonen vor und nach einem kommen werden. Er sah Shar als rohen Diamanten an. Ungeschliffen blieb er sein Geheimnis und wenn Vhaeraun sich wieder gefasst hatte, konnte sein Eroberungsfeldzug über die Oberfläche weiter geführt werden. Vorerst beschloss der Maskierte Fürst sich erstmal nicht um den Jungen zu kümmern, der seine Strafe bekommen hatte und er musste sich selbst erst wieder beruhigen, was bei seinem wechselhaften Verhalten nicht einfach war. Wenn Shar es schaffte ohne Grund Hals über Kopf vor seiner zukünftigen Bestimmung wegzulaufen, dann würde er es auch einige Zeit ohne Stütze überleben können. Das war Vhaerauns Beschluss.
Und dann gab es nur noch den jungen Soldaten Quev’eaonar, der sich bei seiner Rückkehr lediglich wunderte, dass seine neuste Informationsquelle plötzlich unauffindbar war. Wenigstens gelang es ihm das Langschwert zu bergen und vergaß den jungen Halbdrow danach schnell wieder.
Währenddessen lag Shars hagerer Körper versteckt zwischen zwei Weinfässer im Hof des Händlers Veszmyr Zolond und schlief. Mittlerweile zitterte sein Leib nicht mehr und die Schmerzen schienen verschwunden zu sein. Doch zum Leidwesen des Jungen hatte er sich den ungünstigsten Platz herausgesucht, den er nur finden konnte.
Veszmyr, Hatch’nett und Ugurth schauten zum einen wütend, der andere neugierig und der dritte verwirrt auf ihren Fund und selbst der Ork roch den scheußlichen Gestank, der ihm in die Nase stieg. Shars ehemalige lange weiße und vor allem wunderschön anzusehende Haarpracht, klebte blutverschmiert an der Kopfhaut und wirkte total verflitzt. Außerdem roch er nach der Müllhalde, auf der der Junge erwacht war. Sein Gesicht war von dem Abenteuer der Jagd im gefährlichen Stadtteil Braeryn dunkel verrußt und mit roten Blutspritzern übersäht und der Dreck der Straße klebte daran. Selbst die Kleidung von der Straße war mit Schmutz beschmiert und wo keine Kleidung die Haut bedeckte, konnte man die gräulich, stinkende Heilpaste der alten, verrückten Lolthpriesterin erkennen. Das gekürzte Hemd und die Hose rundeten das jämmerliche Bild noch ab. Alles viel zu groß und in den Augen der drei ganz offensichtlich auch noch gestohlen. Als letztes erkannten sie das eiserne Sklavenhalsband und an einem zerrissenen Ärmel schaute das Brandzeichen unter den Tätowierungen von Nhaundar Xarann hervor. Gute Nachrichten oder schlechte, dass konnte niemand in diesem Moment sagen, denn sie kannten den schmierigen Sklavenhändler Nhaundar Xarann nicht.
„Das ist ein Halbdrow“, fand Hatch’nett als erster seine Stimme wieder und runzelte nun verwundert die Stirn. „Er ist nur verschmutz … das ist kein Dunkelelf“, erklärte er seinen Fund augenblicklich genauer. Dabei fragte er sich, wie es dem Jungen gelungen war, sich hier zu verstecken. Alleine schon die Tatsache, dass er ein Mischling war, brachte ihn zum nachdenken. Nur einige Male begegnete er selbst einem Halbdrow – und dann lediglich auf der Straße - und nun, da er direkt vor sich einen sah, wurde er auf eine ungewöhnliche Weise neugierig und konnte sich seine Gefühle aber nicht erklären.
„Das sehe ich auch, Dummkopf. Geh’ mir mit dem Ding weg“, ärgerte sich Veszmyr und wich einige Schritte nach hinten aus, um den Geruch nicht mehr einatmen zu müssen. „Bring’ ihn um und werfe ihn dann irgendwo in eine Ecke.“
„Aber … aber“, begann Hatch’nett zu stottern, denn sein unnatürliches Interesse wuchs an dem verwahrlosten Kind, je länger er es beobachtete. Der Junge schlief und schien nichts von alldem mitzubekommen.
„Du sollst nicht denken sondern tun was ich dir sage. Der verpestet mir hier alles und wenn ein Kunde hier entlang läuft und das sieht, dann wird auch dein Lohn gekürzt“, schrie Veszmyr nun endgültig erbost. Er schnaubte noch einige Male, machte auf dem Absatz kehrt und lief über den Hof zurück in seine Geschäftsräume, dabei dachte er nach.
Er fragte sich, was solch eine Missgeburt ausgerechnet hier auf seinem Hof zu suchen hatte. Eigentlich müsste er tot sein, dachte Veszmyr, besonders wenn man ihn anschaute und vor allem roch. Die Drow fackeln nicht lange mit herrenlosen Sklaven und erst recht nicht, wenn es sich um ein Bastardkind wie einen Halbdrow handelte. Noch während der Spirituosenhändler sich darüber Gedanken machte, kam ihm eine Idee. Dieser Junge hatte wohl tatsächlich keinen Herr und Meister und war somit auch an keinen Dunkelelfen gebunden. Das machte ihn im gleichen Moment zu Freiwild und das stand allen zur Verfügung, somit auch ihm. Eine kostenlose Arbeitskraft mehr für Veszmyr und die brachte Geld in seine Kasse ohne etwas getan zu haben. Darüber hinaus war der Halbelf jederzeit ersetzbar. Auf einen Versuch käme es an und solange der Halbdrow sich weit wie möglich von ihm aufhielt, musste er ihn nicht sehen und konnte sich auf seine Geschäfte konzentrieren. Dass der Junge ein Brandzeichen am Arm trug störte ihn dabei noch weniger, denn ansonsten hätte dessen ehemaliger Herr besser auf ihn aufpassen sollen. Damit wurde der Beschluss von Veszmyr Zolond eindeutig von ihm selbst angenommen und der Spirituosenhändler grinste plötzlich von einem Ohr zum anderen. Er blieb vor der Tür stehen, wirbelte zu Hatch’nett herum und sprach laut und deutlich, damit auch ihn jeder verstehen konnte.
„Ich habe beschlossen das Ding da zu behalten“, begann Veszmyr und wedelte im gleichen Moment mit einer Hand zu Shar hinüber, um jede aufkommende Frage – über welches Ding er denn sprach - im Keim zu ersticken und sprach weiter. „Hatch’nett, kette ihn da vorne an der Wand an und achte drauf, dass sie nicht so kurz, aber auch nicht so lang ist. Er wird für mich arbeiten. Das Ding darf heute Nacht schlafen und ab morgen wird es die alten Flaschen und Fässer reinigen. Damit habt ihr zwei mehr Zeit, um euch um die anderen Dinge zu kümmern. Bevor ich es vergesse, wasch ihn vorher, Hatch’nett. Und zieh’ ihm diese Lupen aus. Am besten verbrenne sie und nimm’ dem Ding die Haare ab. Ich will kein Ungeziefer in meinem Hof.“
Nach seinen Ausführungen drehte sich Veszmyr Zolond augenblicklich zur Tür herum und verschwand im Inneren des Gebäudes ohne weitere Worte zu verlieren.
Hatch’nett und Ugurth blieben zurück und tauschten fragende Blicke aus. Doch keiner der beiden konnte in den Augen des anderen eine genaue Gefühlsregung ablesen. Aber es wirkte so, als wäre der Ork recht froh über diese neue Botschaft und grunzte kurz. Dann wand sich Ugurth ab und tat endlich das, was er schon die ganze Zeit über tun wollte, er trug das leere Weinfass in die Geschäftsräume „Der schwarzen Seele“.
Nun waren nur noch der Drow und Shar auf dem Hof. Hatch’nett seufzte und verstand sich und seine plötzlich aufkommenden Gefühle nicht mehr. Natürlich würde er die Entscheidung von Veszmyr Zolond niemals anzweifeln, immerhin handelte es sich bei diesem Dunkelelfen um seinen Geldgeber. Doch die Härte mit der der Spirituosenhändler an die Sache ging, ließ den jüngeren Drow merkwürdigerweise schlucken. Aus den Augenwinkeln beobachtete der Elf, wie der Junge immer noch schlief und nach dem Aussehen zu beurteilen, dies schon lange nicht mehr getan haben musste. Denn bei der lauten Stimme des Händlers wäre der größte Rothé aus seinem Schlaf hoch geschreckt. Der Rest wirkte nicht minder zufrieden stellend. Hatch’nett kam sogar der Gedanke, dass der junge Halbdrow wohl besser bedient gewesen wäre, wenn er bereits tot wäre. Vielleicht schien auch dessen ehemaliger Herr die gleiche Idee gehegt zu haben oder noch einfacherer, der Kleine war vor ihm davon gelaufen. Letzteres sehr gefährlich, wenn man in der Gesellschaft von mordgierigen Dunkelelfen lebte und überleben wollte. Diese Entscheidung ging ihn aber nun nichts an und so versuchte Hatch’nett Veszmyr loyal ergeben zu sein und sich an die etwas ungewöhnliche Aufgabe heran zu wagen. Er konnte den Jungen nicht einfach anketten, zuerst musste man ihn wecken und dann verkünden, was sein weiteres Schicksal sein würde. Dabei entfuhr dem Drow ein Seufzen ohne dass er es zu merken schien.
Hatch’nett beugte sich über den schlafenden Körper und rüttelte erst sachte und nach mehreren, nicht erfolgreichen, Versuchen etwas heftiger an den schmalen Schultern. Dann plötzlich passierte etwas.
Shar erwachte. Seine Sinne wollten jedoch gleich wieder schwinden und er musste sich anstrengen nicht wieder einzuschlafen. Mehrere Male blinzelte der Junge bis er seine tiefblauen Augen aufhalten konnte. Die Kopfschmerzen und all die anderen Qualen schienen verschwunden, selbst der undurchdringliche Nebel war nicht mehr auszumachen. Doch Shar erschrak. Er merkte, dass er auf dem Boden lag und über ihn starrten ihn zwei rote Augen ausdruckslos an. Der Fremde trug sein weißes Haar offen, wirkte aber trotz muskulösen Körperbaus weder Furcht einflössend noch bedrohlich, aber er war eindeutig als Dunkelelf zuerkennen. Der junge Halbdrow fragte sich, wer dies sein könnte und wo er sich befand.
„Du musst aufwachen“, erklang die erleichterte Stimme des Fremden über Shar, dessen Gesichtausdruck jedoch nichts sagend blieb.
Der Junge schluckte daraufhin und spürte, wie seine Kehle völlig ausgetrocknet war. Er schluckte abermals, um seinen trockenen Hals zu beruhigen, der kratzte, und dann begann er mit krächzender Stimme zu stammeln. „Wo … wo bin … ich?“
„Du bist im Hinterhof von Veszmyr Zolond und seinem Geschäft“, kam die knappe Antwort von Hatch’nett, der einige Mühe hatte, die Frage zu verstehen. „Kannst du aufstehen?“, erkundigte er sich gleich darauf und überlegte fieberhaft wie er dem Jungen nun sein neues Schicksal erklären sollte.
Shar nickte, richtete sich in eine sitzende Position auf und anschließend bedachte er den Fremden neugierig und mit fragendem Blick.
Hatch’nett erkannte die unausgesprochenen Fragen und beschloss, dass man an dem Schicksal des Halbdrow nichts ändern konnte, vor allem er nicht. Das Beste wäre jetzt einfach die Wahrheit zu sagen. Doch der Kloß in seinem Hals wuchs und je länger er von den unschuldigen Augen gemustert wurde, desto schwerer fiel es ihm. Verdammt noch mal, verfluchte er sich selbst und seufzte erneut. Er leckte sich über die trocken gewordenen Lippen und begann sein Gegenüber streng anzuschauen.
„Ich muss dir etwas sagen“, begann er dann einfach. „Du bist jetzt das Eigentum von Veszmyr Zolond, Spirituosenhändler in Ostmyr und wirst ab sofort für ihn arbeiten. Du wirst hier im Hof leben und tun was er dir sagt. Hast du verstanden?“
Shars Augen weiteten sich bei jedem gesprochenen Wort vor Unglauben und er dachte doch tatsächlich er hätte sich verhört. Sein Herz klopfte plötzlich wild und ängstlich in seiner Brust. Das Blut floss kalt und heiß durch seine Adern und ein kalter Schauer jagte vom Nacken her über den ganzen Körper und nahm von ihm Besitz. Shar begann zu zittern. Der Fremde musste sich irren, sagte sich der junge Halbdrow. Sein Herr war und ist Nhaundar und dieser suchte doch nach ihm. Außerdem wusste der Junge nicht einmal wer Veszmyr Zolond war und erschwerend kam hinzu, dass er mit dem Stadtteil Ostmyr nichts anfangen konnte. Er wusste ja nicht einmal wo sich Nhaundar Xarann finden ließ. Aber er konnte nichts sagen, denn der Schock saß tief und so schwieg er, anstatt nach Nhaundar zu fragen. Plötzlich spürte Shar, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen und alles über ihm zusammen brechen wollte. Wieso schien alles nur so schwer? Nach dem Verschwinden Sorns und dessen Zwillingsbruder Nalfein hatte sich sein ganzes Leben so schlagartig verändert und nichts und niemand machte Anstalten etwas erklären zu wollen. Das seltsame Verhalten seines Herrn, der nicht zu ihm kam und dann die gefährlichen Straßen von Menzoberranzan, taten ihr übriges, um dem Jungen Angst einzujagen. Shar wollte augenblicklich zurück zu Nhaundar, sogar zurück zu Dantrag, Zaknafein und vielleicht wäre er sogar freiwillig zu Yazston zurückgekehrt. Überall hin nur hier wollte und konnte er nicht bleiben. Nahm dieser Alptraum kein Ende oder war dies überhaupt kein Traum? Vielleicht war das auch alles das Leben nach dem Tod, so wie es ihm Sorn einst einmal erzählt hatte. Aber darin war alles nicht so düster und aussichtslos beschrieben worden, wie er sich gerade fühlte. Dann erinnerte er sich an die letzte Rettung, seinen Vater. Wenn Handir ihm nicht helfen konnte, dann gebe es wohl niemanden mehr. Eilig rief er im Kopf nach Handir. Immer und immer wieder, während er mit seinen tiefblauen Augen in die seines Gegenübers starrte und die Tränen jetzt ungehindert über seine Wangen rannen, aber es erfolgte keine Antwort.
Hatch’nett empfand erneut ein seltsames Gefühl beim Anblick der Verzweiflung und er konnte sich das alles nicht erklären. Er gab sich selbst nicht die Schuld, er hatte ihn immerhin nur gefunden. Wenn er den Halbdrow nicht gesehen hätte, dann wäre es Ugurth gewesen. Somit musste er lediglich noch versuchen den Jungen freiwillig zum mitmachen zwingen, bevor er Gewalt anwendete. Letzteres allerdings eher ungern. Dabei beschlich Hatch’nett ein Gedanke, der durchaus ausführbar schien. Der Drow musste versuchen ruhig und sachlich zu reden und vielleicht würde dann die Angst ein wenig von seinem Gegenüber abfallen. Zum Glück, dass der hagerer Körper des jungen Halbdrow nicht ausschaute, als könnte er sich großartig wehren, denn er wollte ihn bei Problemen nur widerwillig verletzten.
„Mein Name lautet übrigens Hatch’nett. Ich arbeite für Veszmyr und Ugurth wirst du spätestens morgen auch kennen lernen. Du brauchst keine Furcht zu haben. Ich soll dich waschen und …“, da brach der Dunkelelf plötzlich ab und schwieg. Er wollte nicht unbedingt gleich erwähnen, dass er denn Jungen nach dem Waschen anketten sollte. Und wenn der Junge dabei anfing zu schreien oder sich zu wehren, dann würde das schon genug Aufsehen erregen.
Shar hörte zu und doch wieder nicht. Immer flehentlicher rief er in seinem Kopf nach Handir, aber nur Stille antwortete ihm. Sein Vater konnte ihn doch nicht einfach alleine lassen, verzweifelte der junge Halbdrow und die Tränen rannen ungehemmt über das verschmutzte Gesicht, während er das Gefühl verspürte, in ein tiefes Loch ohne Boden zu fallen.
Viele Minuten konnte Shar nichts tun, noch nahm er um sich herum etwas wahr. Hatch’netts Geduld wurde absolut auf die Probe gestellt. Dann reichte es auch ihm. Er griff nach unten, nahm einen Arm des Jungen und zog ihn daran nach oben. „Komm’ mit und ich wasch dich erst einmal“, erklärte er dem Halbdrow mit befehlendem Unterton.
Zusammen liefen sie über den Innenhof und fanden in der Nähe des Hintereingangs eine Stelle - die Wasserstelle, wo die Flaschen und Fässer ausgewaschen wurden, um sie für den nächsten Einsatz herzurichten - und Hatch’nett machte sich ans Werk. Er stellte sich den Jungen so, dass er ihn stets im Auge behielt und füllte nebenher einige Eimer mit kaltem Wasser. Dass der Kleine fliehen wollte, konnte er sich nicht vorstellen, dazu sah er viel zu fertig mit den Nerven aus. Der eigentliche Grund für Shars Verzweiflung blieb für ihn im Ungewissen. Anschließend reihte er die gefüllten Eimer auf und riss an der stinkenden und blutverschmierten Kleidung. Was Hatch’nett erblickte, ließ den Drow einen Moment innehalten. Der Leib sah völlig abgemagert aus, überall erkannte er kleine und große Narben, die sich Shar in den letzten Tagen zugezogen hatte. Sie waren aber alle bereits am verheilen und das lag an der Tatsache, dass Zarras Heilpaste half. Was ihn jedoch stutzig machte waren die Schlangentätowierungen auf Oberarme und Brust. Sie hatten kaum Schaden genommen und schienen wohl auch einst wunderschön gewesen zu sein, sagte sich Hatch’nett. Aber mit dem ganzen Dreck und Ruß der Straße nur ein seltsames Gebilde auf der Haut eines Halbdrow. Doch wer würde ein Bastardkind nur so herausputzen? Nur jemand mit Geld und Einfluss. Vielleicht eines der Adelshäuser oder sogar ein sehr gut betuchter Händler, womöglich ein Sklavenhändler, dachte der Dunkelelf darüber nach. Wahrscheinlich der ehemalige Besitzer dieses Sklaven. Doch letztendlich, wieso sollte er sich über solch eine sinnlose Tatsache den Kopf zerbrechen? Er handelte im Auftrag von Vezmyr und dafür würde er auch schließlich bezahlt werden. Ohne weitere Gedanken hob er einen Eimer nach dem anderen an und übergoss Shar mit kaltem Wasser.
Man musste dem jungen Halbdrow hoch anrechnen, dass er die Zähne zusammen biss, obwohl das Nass ihm auf der Haut brannte. Widerstandslos ließ Shar sich von oben bis unten waschen. So kannte er es von Dipree und machte daher keine unangenehmen Anstalten sich dagegen zur Wehr zu setzten, denn ein kleines Fünkchen in ihm wollte es ebenfalls. Erstaunlicherweise blieb der Junge selbst dann ruhig, als Hatch’nett ein Messer zog und ihm die langen und einst so wunderschönen Haare ungerade abschnitt, um die verklebten Stellen zu entfernen. Nun reichten die weißen Haare nur noch bis zu den Schultern, wo sie doch zuvor weit bis zu den Knien wuchsen. Shar wirkte dabei gleichgültig, denn innerlich flehte er immer noch nach einer Antwort von Handir und wollte nicht aufgeben. Noch einmal wurde er mit kaltem Wasser übergossen und am Ende ließ er sich anstandslos eine viel zu große und geflickte Wollhose, sowie in ein gelöchertes Hemd stecken. Beides Kleidungsstücke von Hatch’nett, der sie hier als Ersatz aufbewahrt hatte. Nun einmal kamen sie zum Einsatz, denn angezogen hätte er sie wohl doch nie. Nun lag es an dem Dunkelelfen die Sachen zu kürzen und wenig später stand ein bibbernder junger Halbdrow an der Wasserstelle und schaute ganz aus, was seine Herkunft versprach. Man erkannte die helle Haut, kurze weiße Haare und ein doch recht ansehnliches Bild von einem Sklaven, wenn man von den Narben mal absah.
Als er dann den Jungen ankettete und eigentlich spätestens jetzt mit einem lautstarken Protest gerechnet hatte, wurde er jedoch sehr überrascht. Alle Gegenwehr oder lautstarke Schreie blieben aus und Shar ließ sich widerstandslos abführen. Hatch’nett hatte hierzu eine eiserne Kette an dem bereits vorhandene Halsband von Shar befestigt und diese dann nur einige Schritte weiter an einem Hacken in der Wand angebracht. Dort setzte sich Shar einfach auf den Boden, wo früher einmal ein Goblinsklave festgehalten wurde. Jetzt blieben dem Jungen nur wenige Meter Freiraum, um sich bewegen zu können. Hatch’nett fand allerdings das willige Verhalten des Jungen seltsam, weil er weder etwas sagte, noch etwas tat, sondern einfach nur das ausführte, was er befehligt bekam. Nun kam der Dunkelelf ins grübeln und beschloss ab dem morgigen Tag ein Auge auf den Sklaven zu haben. Still und heimlich, aber dennoch wollte er mehr über den Jungen wissen. Zum Abschluss gab der Drow Shar noch einen Eimer Wasser für den Durst, nur mit Essen konnte er nicht dienen. So musste der Junge bis zum nächsten Tag warten. Hatch’nett bezweifelte nämlich sehr, dass Veszmyr auch nur einen Moment an die Anwesenheit seines neusten Zuwachses denken würde. Besonders nicht in der anrückenden Nacht, wenn der Händler gerne auf sich selbst prostete.
Der nächste Morgen kam mit schnellen Schritten heran geeilt. Shar verbrachte die ganze Nacht angekettet im Innenhof und weinte laut, mal leise, aber immer so, dass niemand auf ihn aufmerksam werden konnte. Er weilte ganz in der Nähe der Wasserstelle, wo der Boden über und über mit Flaschen voll gestellt war und sogar ein leeres Fass stand hier und brachte ein wenig Abgeschiedenheit und verdeckte ihn zusätzlich ein bisschen. Sein Vater antwortete immer noch nicht und die Verzweiflung über diese Tatsache nahm völlig von seinem hageren Körper Besitz. Er zitterte wie Espenlaub und wünschte sich sehnsüchtig zurück zu Nhaundar, Sorn, Nalfein und Zaknafein. Zu all den Drow, die in seinen Augen das darstellten, was er sein ganzes Leben her kannte, nämlich Sicherheit. Besonders bei Nhaundar Xarann, seinen Herrn. Vergessen waren plötzlich alle Erinnerungen an Erniedrigung, Schmerz und die Tatsache, dass Nhaundar Shar dem Waffenmeister Dantrag Baenre persönlich übergab. Der Junge fragte sich, wieso Nhaundar nicht nach ihm suchte. Vielleicht war ihm aber auch etwas Schreckliches passiert und er konnte ihn deswegen nirgendwo finden? Wenn sein Herr nur wüsste, wo er war, dann würde er kommen und ihn holen und zurück nach Hause bringen, überlegte Shar naiv weiter. Oder alle suchten nach ihm und fanden ihn, weil er hier in diesem dunklen Hof festsaß. Wenn er nur selbst wüsste, wo er hier war. Doch je mehr Gedanken sich durch seinen schlaflosen Geist schlichen, desto verwirrter wurde er am Ende. Letztendlich holten ihn die Ereignisse des Tages und die Bestrafung Vhaerauns wieder ein, so dass er die Lider schloss und einschlief.
Am Morgen weckte ihn Hatch’nett, der ihm ein Stück trockenes Brot reichte. Anschließend erklärte er Shar seine Aufgabe. Eigentlich eine einfache, aber durchaus anstrengend genug, um an den restlichen, körperlichen Kräften des dürren Leibs zu zerren. Der junge Halbdrow sollte den ganzen Tag leere Flasche säubern, die Fässer von innen reinigen und dann wieder alles von vorne. Der Junge seufzte konnte sich jedoch nicht zur Wehr setzen. Er kannte die Rolle eines Sklaven und die bestand darin brav und gehorsam zu sein. Ganz so, wie es ihm auch sein Vater beibrachte.
Gleich am ersten Tag lernte Shar auch Ugurth kennen und hassen. Orks waren selbst bei Nhaundar nicht an der Tagesordnung, höchstens als Arbeitersklaven, die von seinem Herrn weiter verkauft wurden. Doch dieser Ork war anders. Er wirkte auf das zarte Wesen des jungen Halbdrow beklemmend und dessen trüben Augen beobachteten ihn immer dann gefährlich, wenn Ugurth sich sicher war, der Junge würde nichts bemerken. Doch Shar spürte die Blicke auf seiner Haut und sagte zu sich selbst, dass er dem Ork nicht zu nahe kommen sollte.
Hatch’nett dagegen schien anders zu sein. Er war weder brutal noch gefährlich, aber dafür kriecherisch und unselbstständig. Aber immerhin handelte sich auch bei ihm einen Dunkelelfen und so musste Shar Vorsicht wahren. Wenigstens schafften es beide, sich heimlich ein wenig zu unterhalten, wobei Shar recht Unbedeutendes von sich gab. Hatch’nett erfuhr jedoch den Namen des Jungen. Alles andere verhüllte selbst Shar in Schweigen. Der Drow wusste es jedoch besser, denn die Zeit lief ihnen nicht davon. Es war der erste Tag und viele weitere würde schon bald folgen und er konnte seine Neugier befriedigen.
Gegen Mittag lernte Shar Veszmyr Zolond kennen und wusste augenblicklich, dass er vor diesem Drow mehr zu befürchten haben musste, als vor Dantrag Baenre. Während der Waffenmeister drohend und bedrängt seine Spielchen mit Shar trieb, hielt ihn jedoch dessen Sucht nach den körperlichen Freunden von einer übereilten Tötung des Jungen ab. Sein neuer Herr, wie er sich bei dem jungen Halbdrow vorstellte, scherte sich nicht das Geringste um das körperliche Wohl seines neuen Sklaven. Dabei offenbarte Veszmyr ohne mit der Wimper zu zucken sogar, das Shar jederzeit ersetzbar war, egal in welchem Zustand – tot oder lebendig. Hauptsache der Junge erledigte seine Aufgaben zur absoluten Zufriedenheit. Ferner offenbarte der Spirituosenhändler seinem Sklaven, dass er nur Essen und Trinken erhielt, wenn er sein Sold für den Tag schaffte. Ansonsten sollte er hungern und dursten, um die Arbeitsmoral zu steigern. Die Nächte sollte Shar in einem heruntergekommenen Holzfass verbringen. Das Holz wirkte bereits jetzt morsch und es stank schrecklich nach Weinbrand. Die eiserne Kette, an der das Sklavenhalsband des jungen Halbdrow befestigt wurde, war an einer Wand im Innenhof angebracht und schenkte Shar nur einige Meter Bewegungsfreiheit. Das Tor zur Straße und der Eingang ins Innere des Ladens wurden ihm durch die kurze Kette verweigert. Veszmyr wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Zum einen wusste der Dunkelelf nun, dass er dem Halbdrow nicht unnötig über den Weg lief und gleichzeitig, dass einer der näheren Nachbarn und Konkurrenten nicht erkannten, dass bei ihm ein Bastard arbeitete. So konnte sich der Händler sicher sein, dass niemand den Halbdrow, zumindest am Anfang, zu Gesicht bekam. Zur weiteren Freude von Veszmyr roch der Junge auch nicht mehr wie ein Abfallhaufen und verbrachte die meiste Zeit mit dem Wasser, das ihn sauber hielt. Ein Pluspunkt für sein Geschäft, welches somit auch von unliebsamem Ungeziefer verschont blieb.
Aus dem ersten Tag wurde der zweite und folgte auf dem Fuße. Shar musste schwer arbeiten und sogar noch mehr als vor Jahren im Haushalt seines Herrn Nhaundar Xarann. Der junge Halbdrow bekam von dem Ork leere Weinfässer gebracht und Kiste über Kiste leerer Flaschen in allen Größen und Formen. Anschließend hatte er die Eimer mit Wasser zu füllen und bekam Lappen und Bürste in die Hand gedrückt und musste putzen. Zum Glück waren seine Finger dünn und lang, dass er bei den ersten fünfzig Flaschen noch flink vorankam. Danach ging es schleppender voran. Die Müdigkeit und der Hunger plagten ihn und er hoffte, dass er sich wenigstens für einen Moment ausruhen konnte. Das wurde jedoch von der ständigen Kontrolle von Ugurth und Veszmyr verhindert. Vor allem von dem Ork, der geheimnisvoll zwischen der Wasserstelle, dem restlichen Innenhof und den Geschäftsräumen hin und her schlurfte. Hacht’nett ließ sich kaum blicken und wenn er es tat, dann nur um die bereits gesäuberten Flaschen abzuholen. Ansonsten herrschte Schweigen, außer wenn Veszmyr Zolond wieder einmal sein Ärger an Ugurth oder Hatch’nett ausließ und herum schrie. Um den jungen Halbdrow kümmerte er sich nicht, es zählte nur das Ergebnis und darüber konnte er sich noch nicht beklagen.
Am zweiten Abend nach getaner Arbeit lag Shar zusammengerollt in dem erbärmlichen Weinfass und rieb sich die Hände. Sie waren rau, rot und die Gelenke taten ihm weh. Eine leichte Überanstrengung kündigte sich an, auch wenn der Junge nicht so recht wusste, was es zu sein schien. Aber die Schmerzen spürte er deutlich, genauso wie die Schwäche seines Körpers. Vor einer Stunde hatte er einen Becher Wasser und etwas seltsam Aussehendes von Hatch’nett gebracht bekommen, bevor dieser sich bis zum nächsten Morgen verabschiedete. Shar aß es, weil der Hunger es hinein trieb, aber er wollte nicht wissen was es gewesen war. Es roch nach verfaultem Fleisch, sah leicht grünlich aus und schmeckte wie schimmeliges Brot. Es handelte sich hierbei um den kläglichen Rest einer bereits älteren Mahlzeit Veszmyr Zolonds, besser gesagt um ein Stück leicht verdorbenen Bratens, der ausrangiert werden musste und eher einem Tier gerecht wurde.
Doch genau das war es, gerade gut genug für den Sklaven, dachte sich der Händler dabei. Wenn das Halbblut ihm schon gleich bei der ersten Begegnung durch seinen Geruch die Nase verpestete, dann sollte das Essen genau richtig sein, um ihm den Status bei seinem neuen Herrn klar zu machen.
Mittlerweile wurde es allmählich Nacht. Das Licht von Narbondel sank immer tiefer und bald würde es von neuem ansteigen und den neuen Tag in der Stadt der Spinnenkönig ankündigen. Shar lag jedoch in seiner Lagerstatt und atmete den stechenden Duft des vorhergehenden Inhalts ein und musste öfters husten, denn der Geruch reizte seinen Hals. Der alte Weinbrandgeruch stieg ihm die Nase und ließ ihn hin und wieder auch niesen. Aber immer noch besser, als draußen auf dem kalten Boden schlafen zu müssen, sagte er zu sich selbst und versuchte sich so Mut zu machen. Doch seine eigentlichen Gedanken kreisten um ganz andere Dinge. Shar wünschte sich während seiner Arbeit lieber Treppen zu schruppen, in der Küche zu helfen oder wenn es sein musste, erneut Botschaften des Sklavenhändlers zu überbringen. Ganz so, wie in der Anfangszeit, wo es auch noch Handir gab. Und das Schlimmste für ihn war, dass sein Vater ihm immer noch nicht antwortete. In jeder Minute in der er sich heimlich von seiner Arbeit erholte, so, dass niemand ihn beobachten konnte, bat der junge Halbdrow um eine kurze Antwort. Doch es herrschte Stille und ein bedrückendes Gefühl, das tief aus dem Herzen wuchs, sagte Shar, dass er plötzlich ganz auf sich selbst gestellt war. Nhaundar kam nicht, auch kein anderer Drow, den er gekannt hatte. Der Junge vermisste Sorn und dessen herzliche Umarmungen. Er wünschte sich ein Wiedersehen mit Zaknafein und stellte sich Nalfein vor, mit dem er zusammen am Tisch saß. Der Zwillingsbruder seines Liebsten spielte und er durfte Süßigkeiten essen. Shar dachte sogar an Dantrag und wäre sogar bereit gewesen, hier und auf der Stelle sich vor ihm demütigen zu lassen, wenn nur alles wie vorher sein könnte. Der schrecklichste Gedanke, den der junge Halbdrow bei all seinen Erinnerungen hegte, brachte ihn erneut zum weinen. Er war doch stets brav und gehorsam, all die Zeit über und würde es auch hier sein, wenn nur Handir wieder bei ihm wäre, was aber nicht geschah.
Was am Anfang noch Selbstschutz von Shars Seele darstellte, hatte sich seit dem Aufenthalt in Eryndlyn und bei dem Hohepriester Tarlyn Myt’tarlyl verstärkt und gleichzeitig verändert. Zuvor hörte der Junge die Stimme in seinem Inneren. Er schien der Meinung, dass es sich dabei um seinen Vater handelte, doch dabei waren es stets nur die Erinnerungen an Handir. Die Worte des Mondelfen, die er seinem Sohn mit auf den Weg gegeben hatte. Anschließend hatte Vhaeraun sich diese Tatsache zu Nutze gemacht und sich in den Kopf des jungen Halbdrow geschlichen. Noch nicht einmal aus Boshaftigkeit, sondern einfach nur wegen Mittel zum Zweck und das sogar mit Erfolg, abgesehen von dem unglücklichen Vorfall, der Shar hierher verschlug. Da dem Jungen jedoch diese einfache Erkenntnis fehlte und er von einer auf die andere Minute von der Stimme seines Vaters abgekapselt wurde, verstand er die Welt nicht mehr.
Irgendwann im Laufe dieser Nacht holte die Erschöpfung den Jungen ein und er fiel in einen traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen wurde er von Hatch’nett geweckt und alles begann von vorne. Abermals brachte der Dunkelelf dem jungen Halbdrow ein Stück Brot mit. Nicht das Frischeste, aber wenigstens etwas, wodurch Shar nicht gleich vor Entkräftung aufgeben musste. Das würde Tod bedeuten und nicht nur durch Veszmyrs grobe Behandlungen, sondern schon auf Grund der schwachen körperlichen Verfassung des Jungen.
Auf seltsame Art und Weise fand Hatch’nett etwas in dem Kleinen, dass ihn so handeln ließ. Doch keinem konnte er von seinen Gefühlen erzählen, noch es wagen, jemanden daraufhin anzusprechen, erst Recht nicht den Jungen selbst. Er wusste nur, dass es nicht richtig war, so mit Shar umzuspringen, ob nun Halbdrow oder nicht. Vielleicht auch ein Charakterzug eines Feiglings, dachte sich der fast dreihundert Jahre alte Drow. Er selbst würde augenblicklich aufgeben und sich nicht so behandeln lassen. Dabei vergaß Hatch’nett, dass er von Dunkelelfen geschätzt wurde, weil er der mörderischen Rasse angehörte. Ob nun als Kämpfer oder Arbeiter, er war ein reinrassiger Drow. Dass Shar es von Geburt an gewöhnt war, als Sklave zu Leben, dass kam ihm überhaupt nicht in den Sinn. Obwohl ihm bei seinen ganzen Überlegungen auch dieser Gedanke hätte kommen können. Nun ja, wie gesagt, Hatch’nett war nicht umsonst an diese Anstellung gekommen. Aber wenigstens handelte es sich um eine Person, die in den Augen des jungen Halbdrow, ein wenig Hilfe gab und wenn es sich auch nur um ein Stück Brot handelte.
Bei Ugurth sah die Sache schon völlig anders aus. Nachdem sich der Ork an den neuen Sklaven gewöhnt hatte und ansonsten auch nicht viel Klugheit an den Tag legte, verbrachte er seine Pausen heimlich im Hof und beobachtete den schuftenden Jungen. Da Veszmyr seine Zeit mit seinen gewohnten Aufgaben zubrachte, Hatch’nett im Laden half und Ugurth eigentlich immer für das schwere Schleppen der Säcke, Fässer, Kisten und allem anderen zuständig war, ein ganz normales Verhalten, nach außen hin. Oder auch nicht? Denn was niemand von Ugurth wusste, er bevorzugte das männliche Geschlecht lieber, als das Weibliche. Dabei schien ihm egal um welche Rasse es sich handelte. Mit seiner Vorliebe ging er jedoch nicht prahlen und vor allem nicht vor seinem Arbeitgeber. Ugurth wusste gut und vielleicht zu gut, dass er hier ein leichtes Opfer für seine eigenen Phantasien gefunden hatte. Niemand würde es interessieren und wenn, dann war Shar lediglich ein Sklave und dazu noch ein Halbdrow, wehrlos und angekettet. Er erkannte die Erschöpfung des Jungen von Stunde zu Stunde. Selbst die geschwollenen Gelenke, die durch das kalte Wasser aufgedunsen und gereizt waren, fielen dem Ork auf. Manchmal hatte Ugurth doch mehr Verstand, als einem lieb sein mochte und wusste, der Halbdrow würde immer schwächer werden. Noch ein weiterer Gedanke begann in seinem Kopf zu wachsen. Er musste nur versuchen ihn in die Tat umzusetzen und genau das wollte er heute Nacht auch tun. Dabei stahl sich ein hinterhältiges Grinsen auf das ansonsten so hässliche Gesicht des Ork und entblößte dabei die beiden gelben Stoßzähne, die ihm unappetitlich links und rechts aus dem Unterkiefer wuchsen. Veszmyr Zolond und Hatch’nett argwöhnten nichts davon und würden es wohl auch nie erfahren. Jetzt hieß es für Ugurth einfach nur abwarten und sich für die Nacht rüsten.
Shar ahnte von alldem nichts und selbst dann hätte er nichts dagegen tun können.
Elend
„Ugurth, du Hohlkopf!“, hallte eine wütende Dunkelelfenstimme über den Hinterhof des Spirituosenladens „Die schwarze Seele“ mitten im Händlerviertel Ostmyr von Menzobarranzan. Die Beleidigung wurde vom Besitzer jenes Ladens aus der Hintertür gerufen, während rot glühende Augen jeden Schritt von Ugurth überwachten.
Bei Ugurth handelte es sich um einen in die Jahre gekommenen Ork, der für den Spirituosenhändler Veszmyr Zolond arbeitete. Jedoch nicht als Sklave, sondern als freies Lebewesen, das sich bereits vor Jahrzehnten ins Unterreich zurückgezogen hatte, um hier und da Schwierigkeiten und äußerst unangenehme Clanzwistigkeiten aus dem Weg zu gehen. Oder einfacher gesagt, Ugurth war ein Feigling und versteckte sich in der Stadt der Spinnenkönigin. Über mehrere Städte und Handelskarawanen gelang der ältere Ork nach Menzoberranzan, blieb und fand eine Anstellung in dem kleinen, aber durchaus lohnenswerten Spirituosenladen „Die Schwarze Seele“.
Der Besitzer Vesmyr Zolond war ein rundlicher Drow von kleiner Statur. Er besaß kurzes weißes Haar, rote Augen und sein Gesicht wirkte leicht aufgedunsen, was nicht von seinen fast achthundert Jahren herrührte, sondern von seiner Lebensweise. Der Dunkelelf verriet niemanden etwas davon, aber hinter vorgehaltener Hand ging das Gerücht um, dass Veszmyr mehr als nur einmal am Tag an der eigenen Ware probierte und jeden Tropfen liebte. Hinzu kam seine Trägheit. Der Händler Zolond beschäftigte sich mit der Buchführung, den Einkauf von neuem Alkohol auf dem Basar oder altbekannte Karawanen von der Oberfläche und ließ es sich ansonsten gut und gerne auf einem bequemen Diwan gut gehen und beobachtete andere beim arbeiten. Natürlich kam das Essen nicht zu kurz und der Koch bereitete ihm stets köstliche Gaumenfreuden. Veszmyr hatte ja seine Mitarbeiter, die sich um die handwerklichen Dinge kümmerten, die im Laden anfielen, somit blieb ihm der gemütliche Teil des Lebens.
„Ugurth, die leeren Fässer, nicht die vollen. Beeil dich endlich, du Idiot! Aber bring den Sack erst rein und dann hole die Holzfässer“, schnaubte Veszmyr ungehalten über die Dummheit des Ork, der in die falsche Richtung davon schlurfen wollte. Anschließend seufzte er herzzerreißend und wünschte sich, nicht ständig von Schwachköpfen umgeben sein zu müssen.
„Ja, Herr“, brummte Ugurth eingeschnappt, machte sich in die entgegen gesetzte Richtung auf und lief dabei mit krummen Beinen über den Innenhof. Auf dem Rücken trug er einen schweren Getreidesack und verschwand augenblicklich damit in den Ladenräumen. Nur einige Minuten später kam der Ork wieder heraus und machte sich auf den Weg zu den leeren Weinfässern am Eingang zum Hof. Im Schlepptau befand sich nun ein Dunkelelf.
Der Dunkelelf hieß Hatch’nett. Er war ein muskulöser Drow von normaler Statur seiner Rasse, mit weißem langen Haar und roten Augen. Hatch’nett war fast schon dreihundert Jahre alt und ebenfalls ein Mitarbeiter des Händlers Veszmyr Zolond. Die schwere Arbeit von täglichem Kisten, Säcken und Fässer schleppen ließen ihn wie ein Krieger aussehen, doch in Wahrheit war er nur ein einfacher Drow, der sich sein Geld hier und anderswo verdiente. Selbst in einer Händlerkarawane versuchte er es vor Jahrzehnten, doch für die Gefahren des Unterreichs war er nicht der geeignete Schlag eines Dunkelelfen, ihm fehlte es an Kampfgeschick und vor allem an Mut. Somit teilte er sich die Feigheit des Orks und ließ es sich lieber an Ort und Stelle gut gehen. Immerhin reichte seine Entlohnung aus, um ein ordentliches Zimmer zu mieten, gut zu speisen und hin und wieder ein Spielchen Sava zu wagen. Die Frauen in gewissen Etablissement schienen ebenfalls nicht abgeneigt von Hatch’nett, der für sein Alter ein recht eindruckvolles Bild vorzuzeigen hatte. Alles in allem ein Elf, der für einen schmierigen Spirituosenhändler arbeitete und sich sein Leben nach dem niederen Standart gut verdiente.
Beide, Hatch’nett und Ugurth, liefen über den Innenhof „Der schwarzen Seele“ und seufzten über die noch so späte Arbeit. Ihr Murren half nicht viel. Veszmyr war gnadenlos und bezahlte nur, wenn am Abend alles nach Richtigkeit und Zeitplan erfolgt war. Ausgerechnet heute Morgen kam eine große Lieferung direkt von der Oberfläche an. Für die hier einkaufenden Kunden sehr angenehm, aber nicht für die Mitarbeiter des Ladens.
Ugurth rückte an zwei leeren Weinfässern heran und hob sich augenblicklich eins auf die Schulter. Hatch’nett trat neben ihm und wollte es ihm gleich tun. Doch der Drow hielt mitten in seiner Bewegung inne und starrte gebannt zu Boden. Seine Augen weiteten sich kurzzeitig, dann schien er sich wieder gefasst zu haben, aber er blieb still stehen.
„Was ist?“, wollte der Ork schwerfällig wissen, als er bemerkte, dass sich der Drow nicht mehr rührte.
„Wir haben Besuch“, erwiderte Hatch’nett geistesabwesend und schaute immer noch nach unten, wo er einen schlafenden jungen Halbdrow erblickte, der sich zusammengerollt zwischen den beiden leeren Holzfässern versteckt hatte.
„Was?“, fragte Ugurth sogleich hinter her und machte der Intelligenz seiner Rasse in jenem Moment alle Ehre, indem er einen dummen Gesichtsausdruck aufsetzte und mit fragendem Blick Hatch’nett anstarrte.
Der Drow seufzte, bedachte den Ork mit stechenden Augen und sprach laut. „Wir haben Besuch, wie man deutlich sehen kann. Und Veszmyr hat Recht, du bist ein Idiot.“
„Das ist eine Beleidigung“, entgegnete Ugurth und bleckte dabei seine beiden Stoßzähne, um mehr Eindruck zu hinterlassen.
„Du weißt doch nicht einmal was eine Beleidigung ist“, lachte Hatchn’nett leise und konnte im Gesicht des Orks erkennen, dass er mal wieder wahre Worte zu ihm gesprochen hatte, denn er schien gar nichts verstanden zu haben.
„Bei den Neun Höllen, was ist hier los? Steht nicht da wie die Ölgötzen und macht euch an die Arbeit, ihr Gesindel“, unterbrach die wütende Stimme von Veszmyr die Beiden im Hof. Er spähte aus der Tür heraus und erkannte lediglich seine zwei Mitarbeiter, die faul dastanden und etwas anstarrten.
„Heute treiben mich alle noch in den Wahnsinn“, schimpfte der Spirituosenhändler in sich hinein und war gänzlich abgeneigt weitere Verzögerungen zu dulden.
„Herr?“, rief Hatch’nett Veszmyr zu, drehte sich um und in seinen Augen spiegelte sich die Verwirrung wider.
„Was denn noch?“, machte Veszmyr seiner Wut mit zähneknirschender Stimme Luft und trat auf die Türschwelle. „Ich bezahle keine Faulpelze.“
„Herr?“, mischte sich der jüngere Dunkelelf erneut an den Händler und blickte dabei über die Schulter, um den schlafenden Jungen nochmals in Augenschein nehmen zu können, denn er hätte sich ja auch durchaus irren können und hatte alles nur geträumt. Hatte er nicht und ob das nun eine gute oder schlechte Nachricht für diesen Abend war oder nicht, er musste wenigstens seine Entdeckung kundtun. „Wir haben hier einen Besucher, Meister Zolond.“
„Dann sag’ das doch gleich“, brüllte Veszmyr wütend und stand binnen weniger Sekunden im Innenhof und bewegte sich für seinen Leibesumfang plötzlich schnell und zügig auf seine Mitarbeiter zu. „Wer ist es denn?“, erkundigte sich der Händler beim Gehen und schaute neugierig über seinen Besitz hinweg. Doch die Stirn legte sich in Falten, als er nichts weiter erkannte als das, was noch vor wenigen Minuten hier stand, alles, aber keinen Besucher oder gar Kunde.
„Das kann ich euch nicht sagen, er schläft“, antwortete Hatch’nett wahrheitsgemäß, wobei ihn ein ungutes Gefühl plötzlich einen unangenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ. Die Laune seines Herrn war heute bereits nicht die Beste und würde sich auch nicht über die unliebsame Entdeckung aufbessern lassen. Doch die Aussicht auf einen noch erholsamen Abend und ein weiteres Schäferstündchen mit dem weiblichen Geschlecht ließ den Drow hoffen, da er seinen Fund rechtzeitig gemeldet hatte und vielleicht auch zwei oder drei Kupfermünzen mehr erhalten könnte. Immerhin war er der Entdecker.
„Hör’ auf in Rätseln zu sprechen, sonst vergesse ich mich ganz und gar“, schnaubte Veszmyr und stand nun unmittelbar neben Hatch’nett und Ugurth. „Wo ist der Besuch und wer ist es?“, wollte der Händler wissen und bedachte dabei die Beiden mit funkelnden Adleraugen.
„Hier“, meldete sich der junge Drow zu Wort und unterstrich seine Aussage mit einer Handgeste, indem er auf den schlafenden Halbdrow am Boden deutete.
Veszmyrs Augen weiteten sich und sein Mund öffnete sich leicht. Welch eine Unverschämtheit, sagte er dabei zu sich selbst und augenblicklich stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase. Es roch widerlich nach Unrat, Abfall und getrocknetem Blut und so rümpfte er die Nase, starrte den Schlafenden an und blickte zurück zu seinen Arbeitern. „Wer ist das?“, fragte der Händler und ärgerte sich über die sinnlos vergeudete Zeit, anstatt hinter seinem Schreibtisch zu sitzen und die Tageseinnahmen zählen zu können.
„Ugurth weiß es nicht“, versuchte der Ork als erster zu erklären, hielt jedoch sofort wieder den Mund, als er von Veszmyr bedrohlich angestarrt wurde.
„Heute Morgen war er noch nicht da“, erwiderte nun Hatch’nett, der dem Blick seines Herrn auswich und wieder zum dem schlafenden Halbdrow hinunter sah.
„Bring’ das da weg! Sofort! Es stinkt widerlich und wahrscheinlich kann so ein Ding nicht mal reden“, knurrte der Spirituosenhändler böse und umklammerte nur eine Sekunde später seine Nase mit zwei Fingern und atmete nur noch durch den Mund.
Was die Drei vor sich beobachteten machte wirklich einen sehr erbärmlichen wie auch anstößigen Eindruck. Shar, der sich nach der unbeherrschenden Strafe Vhaerauns bis hier her schleppen konnte, lag zusammengekauert auf dem Boden und hatte die Augenlider geschlossen.
Natürlich ahnte der Junge nichts von seiner Bestrafung. Vielleicht auch das Heilsamste für ihn. Der Maskierte Fürst beschäftigte sich gegenwärtig mit seinem Groll und wartete einfach ab und der Anführer von Bregan D’aerthe musste nur auf ein Wort seines Gottes warten. Außerdem hatte Vhaeraun Zeit. Was bedeuten schon Tage, Wochen, Monate, wenn man weiß, dass Äonen vor und nach einem kommen werden. Er sah Shar als rohen Diamanten an. Ungeschliffen blieb er sein Geheimnis und wenn Vhaeraun sich wieder gefasst hatte, konnte sein Eroberungsfeldzug über die Oberfläche weiter geführt werden. Vorerst beschloss der Maskierte Fürst sich erstmal nicht um den Jungen zu kümmern, der seine Strafe bekommen hatte und er musste sich selbst erst wieder beruhigen, was bei seinem wechselhaften Verhalten nicht einfach war. Wenn Shar es schaffte ohne Grund Hals über Kopf vor seiner zukünftigen Bestimmung wegzulaufen, dann würde er es auch einige Zeit ohne Stütze überleben können. Das war Vhaerauns Beschluss.
Und dann gab es nur noch den jungen Soldaten Quev’eaonar, der sich bei seiner Rückkehr lediglich wunderte, dass seine neuste Informationsquelle plötzlich unauffindbar war. Wenigstens gelang es ihm das Langschwert zu bergen und vergaß den jungen Halbdrow danach schnell wieder.
Währenddessen lag Shars hagerer Körper versteckt zwischen zwei Weinfässer im Hof des Händlers Veszmyr Zolond und schlief. Mittlerweile zitterte sein Leib nicht mehr und die Schmerzen schienen verschwunden zu sein. Doch zum Leidwesen des Jungen hatte er sich den ungünstigsten Platz herausgesucht, den er nur finden konnte.
Veszmyr, Hatch’nett und Ugurth schauten zum einen wütend, der andere neugierig und der dritte verwirrt auf ihren Fund und selbst der Ork roch den scheußlichen Gestank, der ihm in die Nase stieg. Shars ehemalige lange weiße und vor allem wunderschön anzusehende Haarpracht, klebte blutverschmiert an der Kopfhaut und wirkte total verflitzt. Außerdem roch er nach der Müllhalde, auf der der Junge erwacht war. Sein Gesicht war von dem Abenteuer der Jagd im gefährlichen Stadtteil Braeryn dunkel verrußt und mit roten Blutspritzern übersäht und der Dreck der Straße klebte daran. Selbst die Kleidung von der Straße war mit Schmutz beschmiert und wo keine Kleidung die Haut bedeckte, konnte man die gräulich, stinkende Heilpaste der alten, verrückten Lolthpriesterin erkennen. Das gekürzte Hemd und die Hose rundeten das jämmerliche Bild noch ab. Alles viel zu groß und in den Augen der drei ganz offensichtlich auch noch gestohlen. Als letztes erkannten sie das eiserne Sklavenhalsband und an einem zerrissenen Ärmel schaute das Brandzeichen unter den Tätowierungen von Nhaundar Xarann hervor. Gute Nachrichten oder schlechte, dass konnte niemand in diesem Moment sagen, denn sie kannten den schmierigen Sklavenhändler Nhaundar Xarann nicht.
„Das ist ein Halbdrow“, fand Hatch’nett als erster seine Stimme wieder und runzelte nun verwundert die Stirn. „Er ist nur verschmutz … das ist kein Dunkelelf“, erklärte er seinen Fund augenblicklich genauer. Dabei fragte er sich, wie es dem Jungen gelungen war, sich hier zu verstecken. Alleine schon die Tatsache, dass er ein Mischling war, brachte ihn zum nachdenken. Nur einige Male begegnete er selbst einem Halbdrow – und dann lediglich auf der Straße - und nun, da er direkt vor sich einen sah, wurde er auf eine ungewöhnliche Weise neugierig und konnte sich seine Gefühle aber nicht erklären.
„Das sehe ich auch, Dummkopf. Geh’ mir mit dem Ding weg“, ärgerte sich Veszmyr und wich einige Schritte nach hinten aus, um den Geruch nicht mehr einatmen zu müssen. „Bring’ ihn um und werfe ihn dann irgendwo in eine Ecke.“
„Aber … aber“, begann Hatch’nett zu stottern, denn sein unnatürliches Interesse wuchs an dem verwahrlosten Kind, je länger er es beobachtete. Der Junge schlief und schien nichts von alldem mitzubekommen.
„Du sollst nicht denken sondern tun was ich dir sage. Der verpestet mir hier alles und wenn ein Kunde hier entlang läuft und das sieht, dann wird auch dein Lohn gekürzt“, schrie Veszmyr nun endgültig erbost. Er schnaubte noch einige Male, machte auf dem Absatz kehrt und lief über den Hof zurück in seine Geschäftsräume, dabei dachte er nach.
Er fragte sich, was solch eine Missgeburt ausgerechnet hier auf seinem Hof zu suchen hatte. Eigentlich müsste er tot sein, dachte Veszmyr, besonders wenn man ihn anschaute und vor allem roch. Die Drow fackeln nicht lange mit herrenlosen Sklaven und erst recht nicht, wenn es sich um ein Bastardkind wie einen Halbdrow handelte. Noch während der Spirituosenhändler sich darüber Gedanken machte, kam ihm eine Idee. Dieser Junge hatte wohl tatsächlich keinen Herr und Meister und war somit auch an keinen Dunkelelfen gebunden. Das machte ihn im gleichen Moment zu Freiwild und das stand allen zur Verfügung, somit auch ihm. Eine kostenlose Arbeitskraft mehr für Veszmyr und die brachte Geld in seine Kasse ohne etwas getan zu haben. Darüber hinaus war der Halbelf jederzeit ersetzbar. Auf einen Versuch käme es an und solange der Halbdrow sich weit wie möglich von ihm aufhielt, musste er ihn nicht sehen und konnte sich auf seine Geschäfte konzentrieren. Dass der Junge ein Brandzeichen am Arm trug störte ihn dabei noch weniger, denn ansonsten hätte dessen ehemaliger Herr besser auf ihn aufpassen sollen. Damit wurde der Beschluss von Veszmyr Zolond eindeutig von ihm selbst angenommen und der Spirituosenhändler grinste plötzlich von einem Ohr zum anderen. Er blieb vor der Tür stehen, wirbelte zu Hatch’nett herum und sprach laut und deutlich, damit auch ihn jeder verstehen konnte.
„Ich habe beschlossen das Ding da zu behalten“, begann Veszmyr und wedelte im gleichen Moment mit einer Hand zu Shar hinüber, um jede aufkommende Frage – über welches Ding er denn sprach - im Keim zu ersticken und sprach weiter. „Hatch’nett, kette ihn da vorne an der Wand an und achte drauf, dass sie nicht so kurz, aber auch nicht so lang ist. Er wird für mich arbeiten. Das Ding darf heute Nacht schlafen und ab morgen wird es die alten Flaschen und Fässer reinigen. Damit habt ihr zwei mehr Zeit, um euch um die anderen Dinge zu kümmern. Bevor ich es vergesse, wasch ihn vorher, Hatch’nett. Und zieh’ ihm diese Lupen aus. Am besten verbrenne sie und nimm’ dem Ding die Haare ab. Ich will kein Ungeziefer in meinem Hof.“
Nach seinen Ausführungen drehte sich Veszmyr Zolond augenblicklich zur Tür herum und verschwand im Inneren des Gebäudes ohne weitere Worte zu verlieren.
Hatch’nett und Ugurth blieben zurück und tauschten fragende Blicke aus. Doch keiner der beiden konnte in den Augen des anderen eine genaue Gefühlsregung ablesen. Aber es wirkte so, als wäre der Ork recht froh über diese neue Botschaft und grunzte kurz. Dann wand sich Ugurth ab und tat endlich das, was er schon die ganze Zeit über tun wollte, er trug das leere Weinfass in die Geschäftsräume „Der schwarzen Seele“.
Nun waren nur noch der Drow und Shar auf dem Hof. Hatch’nett seufzte und verstand sich und seine plötzlich aufkommenden Gefühle nicht mehr. Natürlich würde er die Entscheidung von Veszmyr Zolond niemals anzweifeln, immerhin handelte es sich bei diesem Dunkelelfen um seinen Geldgeber. Doch die Härte mit der der Spirituosenhändler an die Sache ging, ließ den jüngeren Drow merkwürdigerweise schlucken. Aus den Augenwinkeln beobachtete der Elf, wie der Junge immer noch schlief und nach dem Aussehen zu beurteilen, dies schon lange nicht mehr getan haben musste. Denn bei der lauten Stimme des Händlers wäre der größte Rothé aus seinem Schlaf hoch geschreckt. Der Rest wirkte nicht minder zufrieden stellend. Hatch’nett kam sogar der Gedanke, dass der junge Halbdrow wohl besser bedient gewesen wäre, wenn er bereits tot wäre. Vielleicht schien auch dessen ehemaliger Herr die gleiche Idee gehegt zu haben oder noch einfacherer, der Kleine war vor ihm davon gelaufen. Letzteres sehr gefährlich, wenn man in der Gesellschaft von mordgierigen Dunkelelfen lebte und überleben wollte. Diese Entscheidung ging ihn aber nun nichts an und so versuchte Hatch’nett Veszmyr loyal ergeben zu sein und sich an die etwas ungewöhnliche Aufgabe heran zu wagen. Er konnte den Jungen nicht einfach anketten, zuerst musste man ihn wecken und dann verkünden, was sein weiteres Schicksal sein würde. Dabei entfuhr dem Drow ein Seufzen ohne dass er es zu merken schien.
Hatch’nett beugte sich über den schlafenden Körper und rüttelte erst sachte und nach mehreren, nicht erfolgreichen, Versuchen etwas heftiger an den schmalen Schultern. Dann plötzlich passierte etwas.
Shar erwachte. Seine Sinne wollten jedoch gleich wieder schwinden und er musste sich anstrengen nicht wieder einzuschlafen. Mehrere Male blinzelte der Junge bis er seine tiefblauen Augen aufhalten konnte. Die Kopfschmerzen und all die anderen Qualen schienen verschwunden, selbst der undurchdringliche Nebel war nicht mehr auszumachen. Doch Shar erschrak. Er merkte, dass er auf dem Boden lag und über ihn starrten ihn zwei rote Augen ausdruckslos an. Der Fremde trug sein weißes Haar offen, wirkte aber trotz muskulösen Körperbaus weder Furcht einflössend noch bedrohlich, aber er war eindeutig als Dunkelelf zuerkennen. Der junge Halbdrow fragte sich, wer dies sein könnte und wo er sich befand.
„Du musst aufwachen“, erklang die erleichterte Stimme des Fremden über Shar, dessen Gesichtausdruck jedoch nichts sagend blieb.
Der Junge schluckte daraufhin und spürte, wie seine Kehle völlig ausgetrocknet war. Er schluckte abermals, um seinen trockenen Hals zu beruhigen, der kratzte, und dann begann er mit krächzender Stimme zu stammeln. „Wo … wo bin … ich?“
„Du bist im Hinterhof von Veszmyr Zolond und seinem Geschäft“, kam die knappe Antwort von Hatch’nett, der einige Mühe hatte, die Frage zu verstehen. „Kannst du aufstehen?“, erkundigte er sich gleich darauf und überlegte fieberhaft wie er dem Jungen nun sein neues Schicksal erklären sollte.
Shar nickte, richtete sich in eine sitzende Position auf und anschließend bedachte er den Fremden neugierig und mit fragendem Blick.
Hatch’nett erkannte die unausgesprochenen Fragen und beschloss, dass man an dem Schicksal des Halbdrow nichts ändern konnte, vor allem er nicht. Das Beste wäre jetzt einfach die Wahrheit zu sagen. Doch der Kloß in seinem Hals wuchs und je länger er von den unschuldigen Augen gemustert wurde, desto schwerer fiel es ihm. Verdammt noch mal, verfluchte er sich selbst und seufzte erneut. Er leckte sich über die trocken gewordenen Lippen und begann sein Gegenüber streng anzuschauen.
„Ich muss dir etwas sagen“, begann er dann einfach. „Du bist jetzt das Eigentum von Veszmyr Zolond, Spirituosenhändler in Ostmyr und wirst ab sofort für ihn arbeiten. Du wirst hier im Hof leben und tun was er dir sagt. Hast du verstanden?“
Shars Augen weiteten sich bei jedem gesprochenen Wort vor Unglauben und er dachte doch tatsächlich er hätte sich verhört. Sein Herz klopfte plötzlich wild und ängstlich in seiner Brust. Das Blut floss kalt und heiß durch seine Adern und ein kalter Schauer jagte vom Nacken her über den ganzen Körper und nahm von ihm Besitz. Shar begann zu zittern. Der Fremde musste sich irren, sagte sich der junge Halbdrow. Sein Herr war und ist Nhaundar und dieser suchte doch nach ihm. Außerdem wusste der Junge nicht einmal wer Veszmyr Zolond war und erschwerend kam hinzu, dass er mit dem Stadtteil Ostmyr nichts anfangen konnte. Er wusste ja nicht einmal wo sich Nhaundar Xarann finden ließ. Aber er konnte nichts sagen, denn der Schock saß tief und so schwieg er, anstatt nach Nhaundar zu fragen. Plötzlich spürte Shar, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen und alles über ihm zusammen brechen wollte. Wieso schien alles nur so schwer? Nach dem Verschwinden Sorns und dessen Zwillingsbruder Nalfein hatte sich sein ganzes Leben so schlagartig verändert und nichts und niemand machte Anstalten etwas erklären zu wollen. Das seltsame Verhalten seines Herrn, der nicht zu ihm kam und dann die gefährlichen Straßen von Menzoberranzan, taten ihr übriges, um dem Jungen Angst einzujagen. Shar wollte augenblicklich zurück zu Nhaundar, sogar zurück zu Dantrag, Zaknafein und vielleicht wäre er sogar freiwillig zu Yazston zurückgekehrt. Überall hin nur hier wollte und konnte er nicht bleiben. Nahm dieser Alptraum kein Ende oder war dies überhaupt kein Traum? Vielleicht war das auch alles das Leben nach dem Tod, so wie es ihm Sorn einst einmal erzählt hatte. Aber darin war alles nicht so düster und aussichtslos beschrieben worden, wie er sich gerade fühlte. Dann erinnerte er sich an die letzte Rettung, seinen Vater. Wenn Handir ihm nicht helfen konnte, dann gebe es wohl niemanden mehr. Eilig rief er im Kopf nach Handir. Immer und immer wieder, während er mit seinen tiefblauen Augen in die seines Gegenübers starrte und die Tränen jetzt ungehindert über seine Wangen rannen, aber es erfolgte keine Antwort.
Hatch’nett empfand erneut ein seltsames Gefühl beim Anblick der Verzweiflung und er konnte sich das alles nicht erklären. Er gab sich selbst nicht die Schuld, er hatte ihn immerhin nur gefunden. Wenn er den Halbdrow nicht gesehen hätte, dann wäre es Ugurth gewesen. Somit musste er lediglich noch versuchen den Jungen freiwillig zum mitmachen zwingen, bevor er Gewalt anwendete. Letzteres allerdings eher ungern. Dabei beschlich Hatch’nett ein Gedanke, der durchaus ausführbar schien. Der Drow musste versuchen ruhig und sachlich zu reden und vielleicht würde dann die Angst ein wenig von seinem Gegenüber abfallen. Zum Glück, dass der hagerer Körper des jungen Halbdrow nicht ausschaute, als könnte er sich großartig wehren, denn er wollte ihn bei Problemen nur widerwillig verletzten.
„Mein Name lautet übrigens Hatch’nett. Ich arbeite für Veszmyr und Ugurth wirst du spätestens morgen auch kennen lernen. Du brauchst keine Furcht zu haben. Ich soll dich waschen und …“, da brach der Dunkelelf plötzlich ab und schwieg. Er wollte nicht unbedingt gleich erwähnen, dass er denn Jungen nach dem Waschen anketten sollte. Und wenn der Junge dabei anfing zu schreien oder sich zu wehren, dann würde das schon genug Aufsehen erregen.
Shar hörte zu und doch wieder nicht. Immer flehentlicher rief er in seinem Kopf nach Handir, aber nur Stille antwortete ihm. Sein Vater konnte ihn doch nicht einfach alleine lassen, verzweifelte der junge Halbdrow und die Tränen rannen ungehemmt über das verschmutzte Gesicht, während er das Gefühl verspürte, in ein tiefes Loch ohne Boden zu fallen.
Viele Minuten konnte Shar nichts tun, noch nahm er um sich herum etwas wahr. Hatch’netts Geduld wurde absolut auf die Probe gestellt. Dann reichte es auch ihm. Er griff nach unten, nahm einen Arm des Jungen und zog ihn daran nach oben. „Komm’ mit und ich wasch dich erst einmal“, erklärte er dem Halbdrow mit befehlendem Unterton.
Zusammen liefen sie über den Innenhof und fanden in der Nähe des Hintereingangs eine Stelle - die Wasserstelle, wo die Flaschen und Fässer ausgewaschen wurden, um sie für den nächsten Einsatz herzurichten - und Hatch’nett machte sich ans Werk. Er stellte sich den Jungen so, dass er ihn stets im Auge behielt und füllte nebenher einige Eimer mit kaltem Wasser. Dass der Kleine fliehen wollte, konnte er sich nicht vorstellen, dazu sah er viel zu fertig mit den Nerven aus. Der eigentliche Grund für Shars Verzweiflung blieb für ihn im Ungewissen. Anschließend reihte er die gefüllten Eimer auf und riss an der stinkenden und blutverschmierten Kleidung. Was Hatch’nett erblickte, ließ den Drow einen Moment innehalten. Der Leib sah völlig abgemagert aus, überall erkannte er kleine und große Narben, die sich Shar in den letzten Tagen zugezogen hatte. Sie waren aber alle bereits am verheilen und das lag an der Tatsache, dass Zarras Heilpaste half. Was ihn jedoch stutzig machte waren die Schlangentätowierungen auf Oberarme und Brust. Sie hatten kaum Schaden genommen und schienen wohl auch einst wunderschön gewesen zu sein, sagte sich Hatch’nett. Aber mit dem ganzen Dreck und Ruß der Straße nur ein seltsames Gebilde auf der Haut eines Halbdrow. Doch wer würde ein Bastardkind nur so herausputzen? Nur jemand mit Geld und Einfluss. Vielleicht eines der Adelshäuser oder sogar ein sehr gut betuchter Händler, womöglich ein Sklavenhändler, dachte der Dunkelelf darüber nach. Wahrscheinlich der ehemalige Besitzer dieses Sklaven. Doch letztendlich, wieso sollte er sich über solch eine sinnlose Tatsache den Kopf zerbrechen? Er handelte im Auftrag von Vezmyr und dafür würde er auch schließlich bezahlt werden. Ohne weitere Gedanken hob er einen Eimer nach dem anderen an und übergoss Shar mit kaltem Wasser.
Man musste dem jungen Halbdrow hoch anrechnen, dass er die Zähne zusammen biss, obwohl das Nass ihm auf der Haut brannte. Widerstandslos ließ Shar sich von oben bis unten waschen. So kannte er es von Dipree und machte daher keine unangenehmen Anstalten sich dagegen zur Wehr zu setzten, denn ein kleines Fünkchen in ihm wollte es ebenfalls. Erstaunlicherweise blieb der Junge selbst dann ruhig, als Hatch’nett ein Messer zog und ihm die langen und einst so wunderschönen Haare ungerade abschnitt, um die verklebten Stellen zu entfernen. Nun reichten die weißen Haare nur noch bis zu den Schultern, wo sie doch zuvor weit bis zu den Knien wuchsen. Shar wirkte dabei gleichgültig, denn innerlich flehte er immer noch nach einer Antwort von Handir und wollte nicht aufgeben. Noch einmal wurde er mit kaltem Wasser übergossen und am Ende ließ er sich anstandslos eine viel zu große und geflickte Wollhose, sowie in ein gelöchertes Hemd stecken. Beides Kleidungsstücke von Hatch’nett, der sie hier als Ersatz aufbewahrt hatte. Nun einmal kamen sie zum Einsatz, denn angezogen hätte er sie wohl doch nie. Nun lag es an dem Dunkelelfen die Sachen zu kürzen und wenig später stand ein bibbernder junger Halbdrow an der Wasserstelle und schaute ganz aus, was seine Herkunft versprach. Man erkannte die helle Haut, kurze weiße Haare und ein doch recht ansehnliches Bild von einem Sklaven, wenn man von den Narben mal absah.
Als er dann den Jungen ankettete und eigentlich spätestens jetzt mit einem lautstarken Protest gerechnet hatte, wurde er jedoch sehr überrascht. Alle Gegenwehr oder lautstarke Schreie blieben aus und Shar ließ sich widerstandslos abführen. Hatch’nett hatte hierzu eine eiserne Kette an dem bereits vorhandene Halsband von Shar befestigt und diese dann nur einige Schritte weiter an einem Hacken in der Wand angebracht. Dort setzte sich Shar einfach auf den Boden, wo früher einmal ein Goblinsklave festgehalten wurde. Jetzt blieben dem Jungen nur wenige Meter Freiraum, um sich bewegen zu können. Hatch’nett fand allerdings das willige Verhalten des Jungen seltsam, weil er weder etwas sagte, noch etwas tat, sondern einfach nur das ausführte, was er befehligt bekam. Nun kam der Dunkelelf ins grübeln und beschloss ab dem morgigen Tag ein Auge auf den Sklaven zu haben. Still und heimlich, aber dennoch wollte er mehr über den Jungen wissen. Zum Abschluss gab der Drow Shar noch einen Eimer Wasser für den Durst, nur mit Essen konnte er nicht dienen. So musste der Junge bis zum nächsten Tag warten. Hatch’nett bezweifelte nämlich sehr, dass Veszmyr auch nur einen Moment an die Anwesenheit seines neusten Zuwachses denken würde. Besonders nicht in der anrückenden Nacht, wenn der Händler gerne auf sich selbst prostete.
Der nächste Morgen kam mit schnellen Schritten heran geeilt. Shar verbrachte die ganze Nacht angekettet im Innenhof und weinte laut, mal leise, aber immer so, dass niemand auf ihn aufmerksam werden konnte. Er weilte ganz in der Nähe der Wasserstelle, wo der Boden über und über mit Flaschen voll gestellt war und sogar ein leeres Fass stand hier und brachte ein wenig Abgeschiedenheit und verdeckte ihn zusätzlich ein bisschen. Sein Vater antwortete immer noch nicht und die Verzweiflung über diese Tatsache nahm völlig von seinem hageren Körper Besitz. Er zitterte wie Espenlaub und wünschte sich sehnsüchtig zurück zu Nhaundar, Sorn, Nalfein und Zaknafein. Zu all den Drow, die in seinen Augen das darstellten, was er sein ganzes Leben her kannte, nämlich Sicherheit. Besonders bei Nhaundar Xarann, seinen Herrn. Vergessen waren plötzlich alle Erinnerungen an Erniedrigung, Schmerz und die Tatsache, dass Nhaundar Shar dem Waffenmeister Dantrag Baenre persönlich übergab. Der Junge fragte sich, wieso Nhaundar nicht nach ihm suchte. Vielleicht war ihm aber auch etwas Schreckliches passiert und er konnte ihn deswegen nirgendwo finden? Wenn sein Herr nur wüsste, wo er war, dann würde er kommen und ihn holen und zurück nach Hause bringen, überlegte Shar naiv weiter. Oder alle suchten nach ihm und fanden ihn, weil er hier in diesem dunklen Hof festsaß. Wenn er nur selbst wüsste, wo er hier war. Doch je mehr Gedanken sich durch seinen schlaflosen Geist schlichen, desto verwirrter wurde er am Ende. Letztendlich holten ihn die Ereignisse des Tages und die Bestrafung Vhaerauns wieder ein, so dass er die Lider schloss und einschlief.
Am Morgen weckte ihn Hatch’nett, der ihm ein Stück trockenes Brot reichte. Anschließend erklärte er Shar seine Aufgabe. Eigentlich eine einfache, aber durchaus anstrengend genug, um an den restlichen, körperlichen Kräften des dürren Leibs zu zerren. Der junge Halbdrow sollte den ganzen Tag leere Flasche säubern, die Fässer von innen reinigen und dann wieder alles von vorne. Der Junge seufzte konnte sich jedoch nicht zur Wehr setzen. Er kannte die Rolle eines Sklaven und die bestand darin brav und gehorsam zu sein. Ganz so, wie es ihm auch sein Vater beibrachte.
Gleich am ersten Tag lernte Shar auch Ugurth kennen und hassen. Orks waren selbst bei Nhaundar nicht an der Tagesordnung, höchstens als Arbeitersklaven, die von seinem Herrn weiter verkauft wurden. Doch dieser Ork war anders. Er wirkte auf das zarte Wesen des jungen Halbdrow beklemmend und dessen trüben Augen beobachteten ihn immer dann gefährlich, wenn Ugurth sich sicher war, der Junge würde nichts bemerken. Doch Shar spürte die Blicke auf seiner Haut und sagte zu sich selbst, dass er dem Ork nicht zu nahe kommen sollte.
Hatch’nett dagegen schien anders zu sein. Er war weder brutal noch gefährlich, aber dafür kriecherisch und unselbstständig. Aber immerhin handelte sich auch bei ihm einen Dunkelelfen und so musste Shar Vorsicht wahren. Wenigstens schafften es beide, sich heimlich ein wenig zu unterhalten, wobei Shar recht Unbedeutendes von sich gab. Hatch’nett erfuhr jedoch den Namen des Jungen. Alles andere verhüllte selbst Shar in Schweigen. Der Drow wusste es jedoch besser, denn die Zeit lief ihnen nicht davon. Es war der erste Tag und viele weitere würde schon bald folgen und er konnte seine Neugier befriedigen.
Gegen Mittag lernte Shar Veszmyr Zolond kennen und wusste augenblicklich, dass er vor diesem Drow mehr zu befürchten haben musste, als vor Dantrag Baenre. Während der Waffenmeister drohend und bedrängt seine Spielchen mit Shar trieb, hielt ihn jedoch dessen Sucht nach den körperlichen Freunden von einer übereilten Tötung des Jungen ab. Sein neuer Herr, wie er sich bei dem jungen Halbdrow vorstellte, scherte sich nicht das Geringste um das körperliche Wohl seines neuen Sklaven. Dabei offenbarte Veszmyr ohne mit der Wimper zu zucken sogar, das Shar jederzeit ersetzbar war, egal in welchem Zustand – tot oder lebendig. Hauptsache der Junge erledigte seine Aufgaben zur absoluten Zufriedenheit. Ferner offenbarte der Spirituosenhändler seinem Sklaven, dass er nur Essen und Trinken erhielt, wenn er sein Sold für den Tag schaffte. Ansonsten sollte er hungern und dursten, um die Arbeitsmoral zu steigern. Die Nächte sollte Shar in einem heruntergekommenen Holzfass verbringen. Das Holz wirkte bereits jetzt morsch und es stank schrecklich nach Weinbrand. Die eiserne Kette, an der das Sklavenhalsband des jungen Halbdrow befestigt wurde, war an einer Wand im Innenhof angebracht und schenkte Shar nur einige Meter Bewegungsfreiheit. Das Tor zur Straße und der Eingang ins Innere des Ladens wurden ihm durch die kurze Kette verweigert. Veszmyr wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Zum einen wusste der Dunkelelf nun, dass er dem Halbdrow nicht unnötig über den Weg lief und gleichzeitig, dass einer der näheren Nachbarn und Konkurrenten nicht erkannten, dass bei ihm ein Bastard arbeitete. So konnte sich der Händler sicher sein, dass niemand den Halbdrow, zumindest am Anfang, zu Gesicht bekam. Zur weiteren Freude von Veszmyr roch der Junge auch nicht mehr wie ein Abfallhaufen und verbrachte die meiste Zeit mit dem Wasser, das ihn sauber hielt. Ein Pluspunkt für sein Geschäft, welches somit auch von unliebsamem Ungeziefer verschont blieb.
Aus dem ersten Tag wurde der zweite und folgte auf dem Fuße. Shar musste schwer arbeiten und sogar noch mehr als vor Jahren im Haushalt seines Herrn Nhaundar Xarann. Der junge Halbdrow bekam von dem Ork leere Weinfässer gebracht und Kiste über Kiste leerer Flaschen in allen Größen und Formen. Anschließend hatte er die Eimer mit Wasser zu füllen und bekam Lappen und Bürste in die Hand gedrückt und musste putzen. Zum Glück waren seine Finger dünn und lang, dass er bei den ersten fünfzig Flaschen noch flink vorankam. Danach ging es schleppender voran. Die Müdigkeit und der Hunger plagten ihn und er hoffte, dass er sich wenigstens für einen Moment ausruhen konnte. Das wurde jedoch von der ständigen Kontrolle von Ugurth und Veszmyr verhindert. Vor allem von dem Ork, der geheimnisvoll zwischen der Wasserstelle, dem restlichen Innenhof und den Geschäftsräumen hin und her schlurfte. Hacht’nett ließ sich kaum blicken und wenn er es tat, dann nur um die bereits gesäuberten Flaschen abzuholen. Ansonsten herrschte Schweigen, außer wenn Veszmyr Zolond wieder einmal sein Ärger an Ugurth oder Hatch’nett ausließ und herum schrie. Um den jungen Halbdrow kümmerte er sich nicht, es zählte nur das Ergebnis und darüber konnte er sich noch nicht beklagen.
Am zweiten Abend nach getaner Arbeit lag Shar zusammengerollt in dem erbärmlichen Weinfass und rieb sich die Hände. Sie waren rau, rot und die Gelenke taten ihm weh. Eine leichte Überanstrengung kündigte sich an, auch wenn der Junge nicht so recht wusste, was es zu sein schien. Aber die Schmerzen spürte er deutlich, genauso wie die Schwäche seines Körpers. Vor einer Stunde hatte er einen Becher Wasser und etwas seltsam Aussehendes von Hatch’nett gebracht bekommen, bevor dieser sich bis zum nächsten Morgen verabschiedete. Shar aß es, weil der Hunger es hinein trieb, aber er wollte nicht wissen was es gewesen war. Es roch nach verfaultem Fleisch, sah leicht grünlich aus und schmeckte wie schimmeliges Brot. Es handelte sich hierbei um den kläglichen Rest einer bereits älteren Mahlzeit Veszmyr Zolonds, besser gesagt um ein Stück leicht verdorbenen Bratens, der ausrangiert werden musste und eher einem Tier gerecht wurde.
Doch genau das war es, gerade gut genug für den Sklaven, dachte sich der Händler dabei. Wenn das Halbblut ihm schon gleich bei der ersten Begegnung durch seinen Geruch die Nase verpestete, dann sollte das Essen genau richtig sein, um ihm den Status bei seinem neuen Herrn klar zu machen.
Mittlerweile wurde es allmählich Nacht. Das Licht von Narbondel sank immer tiefer und bald würde es von neuem ansteigen und den neuen Tag in der Stadt der Spinnenkönig ankündigen. Shar lag jedoch in seiner Lagerstatt und atmete den stechenden Duft des vorhergehenden Inhalts ein und musste öfters husten, denn der Geruch reizte seinen Hals. Der alte Weinbrandgeruch stieg ihm die Nase und ließ ihn hin und wieder auch niesen. Aber immer noch besser, als draußen auf dem kalten Boden schlafen zu müssen, sagte er zu sich selbst und versuchte sich so Mut zu machen. Doch seine eigentlichen Gedanken kreisten um ganz andere Dinge. Shar wünschte sich während seiner Arbeit lieber Treppen zu schruppen, in der Küche zu helfen oder wenn es sein musste, erneut Botschaften des Sklavenhändlers zu überbringen. Ganz so, wie in der Anfangszeit, wo es auch noch Handir gab. Und das Schlimmste für ihn war, dass sein Vater ihm immer noch nicht antwortete. In jeder Minute in der er sich heimlich von seiner Arbeit erholte, so, dass niemand ihn beobachten konnte, bat der junge Halbdrow um eine kurze Antwort. Doch es herrschte Stille und ein bedrückendes Gefühl, das tief aus dem Herzen wuchs, sagte Shar, dass er plötzlich ganz auf sich selbst gestellt war. Nhaundar kam nicht, auch kein anderer Drow, den er gekannt hatte. Der Junge vermisste Sorn und dessen herzliche Umarmungen. Er wünschte sich ein Wiedersehen mit Zaknafein und stellte sich Nalfein vor, mit dem er zusammen am Tisch saß. Der Zwillingsbruder seines Liebsten spielte und er durfte Süßigkeiten essen. Shar dachte sogar an Dantrag und wäre sogar bereit gewesen, hier und auf der Stelle sich vor ihm demütigen zu lassen, wenn nur alles wie vorher sein könnte. Der schrecklichste Gedanke, den der junge Halbdrow bei all seinen Erinnerungen hegte, brachte ihn erneut zum weinen. Er war doch stets brav und gehorsam, all die Zeit über und würde es auch hier sein, wenn nur Handir wieder bei ihm wäre, was aber nicht geschah.
Was am Anfang noch Selbstschutz von Shars Seele darstellte, hatte sich seit dem Aufenthalt in Eryndlyn und bei dem Hohepriester Tarlyn Myt’tarlyl verstärkt und gleichzeitig verändert. Zuvor hörte der Junge die Stimme in seinem Inneren. Er schien der Meinung, dass es sich dabei um seinen Vater handelte, doch dabei waren es stets nur die Erinnerungen an Handir. Die Worte des Mondelfen, die er seinem Sohn mit auf den Weg gegeben hatte. Anschließend hatte Vhaeraun sich diese Tatsache zu Nutze gemacht und sich in den Kopf des jungen Halbdrow geschlichen. Noch nicht einmal aus Boshaftigkeit, sondern einfach nur wegen Mittel zum Zweck und das sogar mit Erfolg, abgesehen von dem unglücklichen Vorfall, der Shar hierher verschlug. Da dem Jungen jedoch diese einfache Erkenntnis fehlte und er von einer auf die andere Minute von der Stimme seines Vaters abgekapselt wurde, verstand er die Welt nicht mehr.
Irgendwann im Laufe dieser Nacht holte die Erschöpfung den Jungen ein und er fiel in einen traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen wurde er von Hatch’nett geweckt und alles begann von vorne. Abermals brachte der Dunkelelf dem jungen Halbdrow ein Stück Brot mit. Nicht das Frischeste, aber wenigstens etwas, wodurch Shar nicht gleich vor Entkräftung aufgeben musste. Das würde Tod bedeuten und nicht nur durch Veszmyrs grobe Behandlungen, sondern schon auf Grund der schwachen körperlichen Verfassung des Jungen.
Auf seltsame Art und Weise fand Hatch’nett etwas in dem Kleinen, dass ihn so handeln ließ. Doch keinem konnte er von seinen Gefühlen erzählen, noch es wagen, jemanden daraufhin anzusprechen, erst Recht nicht den Jungen selbst. Er wusste nur, dass es nicht richtig war, so mit Shar umzuspringen, ob nun Halbdrow oder nicht. Vielleicht auch ein Charakterzug eines Feiglings, dachte sich der fast dreihundert Jahre alte Drow. Er selbst würde augenblicklich aufgeben und sich nicht so behandeln lassen. Dabei vergaß Hatch’nett, dass er von Dunkelelfen geschätzt wurde, weil er der mörderischen Rasse angehörte. Ob nun als Kämpfer oder Arbeiter, er war ein reinrassiger Drow. Dass Shar es von Geburt an gewöhnt war, als Sklave zu Leben, dass kam ihm überhaupt nicht in den Sinn. Obwohl ihm bei seinen ganzen Überlegungen auch dieser Gedanke hätte kommen können. Nun ja, wie gesagt, Hatch’nett war nicht umsonst an diese Anstellung gekommen. Aber wenigstens handelte es sich um eine Person, die in den Augen des jungen Halbdrow, ein wenig Hilfe gab und wenn es sich auch nur um ein Stück Brot handelte.
Bei Ugurth sah die Sache schon völlig anders aus. Nachdem sich der Ork an den neuen Sklaven gewöhnt hatte und ansonsten auch nicht viel Klugheit an den Tag legte, verbrachte er seine Pausen heimlich im Hof und beobachtete den schuftenden Jungen. Da Veszmyr seine Zeit mit seinen gewohnten Aufgaben zubrachte, Hatch’nett im Laden half und Ugurth eigentlich immer für das schwere Schleppen der Säcke, Fässer, Kisten und allem anderen zuständig war, ein ganz normales Verhalten, nach außen hin. Oder auch nicht? Denn was niemand von Ugurth wusste, er bevorzugte das männliche Geschlecht lieber, als das Weibliche. Dabei schien ihm egal um welche Rasse es sich handelte. Mit seiner Vorliebe ging er jedoch nicht prahlen und vor allem nicht vor seinem Arbeitgeber. Ugurth wusste gut und vielleicht zu gut, dass er hier ein leichtes Opfer für seine eigenen Phantasien gefunden hatte. Niemand würde es interessieren und wenn, dann war Shar lediglich ein Sklave und dazu noch ein Halbdrow, wehrlos und angekettet. Er erkannte die Erschöpfung des Jungen von Stunde zu Stunde. Selbst die geschwollenen Gelenke, die durch das kalte Wasser aufgedunsen und gereizt waren, fielen dem Ork auf. Manchmal hatte Ugurth doch mehr Verstand, als einem lieb sein mochte und wusste, der Halbdrow würde immer schwächer werden. Noch ein weiterer Gedanke begann in seinem Kopf zu wachsen. Er musste nur versuchen ihn in die Tat umzusetzen und genau das wollte er heute Nacht auch tun. Dabei stahl sich ein hinterhältiges Grinsen auf das ansonsten so hässliche Gesicht des Ork und entblößte dabei die beiden gelben Stoßzähne, die ihm unappetitlich links und rechts aus dem Unterkiefer wuchsen. Veszmyr Zolond und Hatch’nett argwöhnten nichts davon und würden es wohl auch nie erfahren. Jetzt hieß es für Ugurth einfach nur abwarten und sich für die Nacht rüsten.
Shar ahnte von alldem nichts und selbst dann hätte er nichts dagegen tun können.