Dem Wahnsinn so nah
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Disclaimer:
I do not own the Forgotten Realms books. I do not make any money from the writing of this story.
42. Kap. Die Karten werden neu gemischt
42. Kapitel
Die Karten werden neu gemischt
Die Schwärze der Nacht legte sich wie ein undurchdringlicher Schleier um eine kleine versteckte Höhle des Unterreiches. Ein attraktiver Dunkelelf mit weißen langen Haaren, schwarzer Lederrüstung, Kurzschwert und Dolch mit dunklen Klingen im Waffengürtel, durchschritt soeben diese Finsternis. Er trug eine Halbmaske und seine roten Augen funkelten in der Dunkelheit. Vhaeraun hielt den schwachen Körper von Shar auf den Armen und wusste, die Zeit wurde knapp.
Die Wut des Gottes war gerade rechtzeitig verraucht und er hatte mit einer seiner tausend Facetten den schwindenden Lebensmut des Jungen gespürt. Nach der Strafe durch die Gedankenpeitsche hatte sich der Maskierte Fürst nicht mehr um das Wohlbefinden des Halbdrow gesorgt, noch sich dafür interessiert. Seine Getreuen mussten und sollten erst lernen zu folgen und zu gehorchen, um ihm im Anschluss dienlich zu sein. Immerhin handelte es sich bei dem Maskierten Fürsten um eine chaotisch böse Gottheit.
Vhaerauns Wille und der Umstand, endlich einen neuen und treuen Auserwählten gefunden zu haben – auch wenn Shar sich niemals darüber bewusst war – wollte er ihn zuerst auf den steinigen Weg der Läuterung schicken. Wer vor seiner Bestimmung davon lief, sollte auch die Konsequenzen kennen. Genauso wie die Tatsache, auch die unangenehmsten Seiten des Lebens überwinden zu können. Dabei vergaß Vhaeraun, dass der junge Halbdrow zurzeit ohne Führer war. Solange sich Sorn Dalael um das Wohlbefinden Shars gekümmert hatte, war die Ordnung im Chaos einigermaßen sicher gestellt, doch nun lagen die Veränderungen klar auf der Hand und Vhaeraun kümmerte sich selbst darum, aber er war nicht wirklich liebreizend dabei. Lange Zeit grübelte der Maskierte Fürst vor sich hin und schob und wendete die Ereignisse von eine in die andere Richtung, überlegte, welche ihm den meisten Nutzen brachte und während er wütend und grübelnd da saß, überließ er Shar einfach dem Schicksal ohne an die Folgen zu denken.
Doch auf seltsame Art und Weise schien er überhaupt nicht mit dem Elend des Jungen gerechnet zu haben. Als er das Desaster im Innenhof des widerlichen, alten Drow bemerkte, musste er einschreiten. Nach fast zehn Tagen packte ihn so wieder die Neugier und mit Schrecken stellte er die auswegslose Situation des Jungen fest. In den ersten Sekunden ärgerlich über die unerwartete Wandlung, hatte sich das aufbrausende Gemüt Vhaerauns wieder gemeldet. Er bekam sich jedoch schnell wieder in den Griff. Das langsame Dahinsiechen des Jungen war niemals beabsichtigt gewesen. Als Vhaeraun sich auf den jungen Halbdrow fokussiert, wusste er, dass er seine Zukunftspläne nicht gefährden durfte, tot benötigte er keinen Auserwählten. In einem hintersten Teil seiner Existenz gestand sich sogar der Maskierte Fürst ein, dass er mehr Vorsicht walten lassen musste. So beschloss der Sohn der Spinnenkönigin sich vorerst persönlich an dem Verlauf von Shars Schicksal zu beteiligen. Den Anfang machte er, als er im gleichen Augenblick, als Hatch’nett das Messer holte, er den Jungen zu sich holte.
Nun schritt Vhaeraun mit dem immer schwächer werdenden jungen Halbdrow, der nicht mehr bei Bewusstsein war, auf den Armen durch eine kleine Höhle, unmittelbar in der Nähe des Klauenspaltes und dem Hauptquartier von Bregan D’aerthe und seines Sohnes Jarlaxle. Alles geschah in absoluter Heimlichkeit und ohne das Wissen eines Dritten. Vhaeraun wählte den sicheren Weg und einen abgeschiedenen Ort aus, der nur durch den gähnenden Abgrund erreichbar war. Ringsherum wurde die Nische von mehreren Metern massivem Fels umschlossen und selbst Shar wäre niemals so dumm, sich durch das Erklimmen scharfer und tödlicher Felsvorsprünge von hier nach oben zu kämpfen. Vorerst wäre dies sowieso nicht möglich, denn der Junge lag im sterben, wenn nicht bald Hilfe kam.
In der Mitte der kleinen Höhle angekommen, legte Vhaeraun den abgemagerten Halbdrow auf den Boden und konnte sich selbst eines Seufzen nicht erwähren. Vielleicht trug er tatsächlich eine Mitschuld an diesem Dilemma, aber diesen Gedanken schob er weit weg. Stattdessen musste er nun versuchen sich in Geduld zu üben – keine große Stärke von ihm - und sobald Shar wieder einigermaßen gesund und kräftig war, stand seine erste, große Aufgabe an. Er musste erzogen werden und lernen, sich alleine zu behaupten. Die Erziehung des Jungen sollte von Jemand mit Kompetenz und Mut erfolgen und vor allem von einem Dunkelelfen, der sich auf der neutralen Seite sah. Somit kein korrupter und selbstverliebter Sklavenhändler oder Waffenmeister und auch keine widerlichen Anhänger seiner Mutter. Den Priester und sein Bruder benötigte er für andere, viel wichtigere Dinge.
„Ausnahmsweise überlasse ich dir gerne deine stinkenden Wanzen, die sich Lolthanhänger nennen, Hure, die sich Mutter schimpft“, sagte Vhaeraun sarkastisch und ein Lächeln huschte über sein halbverdecktes Gesicht.
Aber nun kam Shar an erster Stelle. Der Maskierte Fürst beugte sich zu dem sterbenden Körper hinunter und beobachtete mit einer Mischung aus Neugier und Freude seine eigene Zukunft.
„Eines Tages wirst du deinen Platz kennen und all die anderen werden treu auf deiner Seite stehen. Nicht einmal Handir hätte dir solche eine Position zugedacht und er freut sich zu wissen, dass ich dich für diese Aufgabe auserkoren habe. Du kannst stolz auf deinen Vater sein, der mir wahrhaft treu zur Seite steht.“
Daraufhin erhob Vhaeraun eine Hand, ließ den schwarzen Lederhandschuh mit einem einzigen Gedanken verschwinden und beobachtete wenige Lidschläge die eigene, obsidiane Haut. Im Bruchteil von Sekunden und durch einen einzigen Gedanken verwandelten sich seine Hand und der Arm plötzlich. Die feste Oberfläche wurde durchscheinender. Der Maskierte Fürst versetzte ein Teil seiner rechten Hand und Arm in die Schattenebene, woraus er seine Kraft schöpfte, während der Rest seiner Existenz auf der Materiellen Ebene weilte. Mit dem Schattenarm griff er damit in den Brustkorb von Shar und drang bis zum Herzen vor. Seine Schattenhand legte sich um das kaum noch schlagende Herz und Vhaeraun nahm das Schwinden des Lebens in sich auf.
„Du wirst nicht sterben, nicht solange ich dich brauche“, sagte der Sohn Lolths und konzentrierte sich auf den Rhythmus des Herzens.
Augenblicklich durchströmte den Gott eine ihm wohl vertraute Energie und er übertrug einen Bruchteil auf den jungen Halbdrow. Die Kraft durchflutete das schwache Herz und brachte es von neuem zum kräftigen Schlagen. Von einem Moment zum anderen bäumte sich Shars Körper auf und fiel entspannt auf den Boden zurück. Es war vollbracht, denn Vhaeraun zog seine Schattenhand zurück und beobachtete den Jungen und wie sich dessen Brustkorb langsam und stetig hob und senkte. Der Atem kam ruhig und genauso ruhig klopfte das Herz tief im Inneren von Shar und er war erfüllt mit einem Tropfen von Vhaerauns Essens.
Einige Minuten verstrichen ohne dass etwas geschah, bis der junge Halbdrow ganz überraschend die Augen aufschlug. Noch war er schwach und sah alles durch einen nebelhaften Schleier. Es war alles dunkel um ihn herum, aber nicht finster genug, um nicht doch etwas erkennen zu können. Shars Verstand handelte noch träge, aber mit seinen Augen erkannte er jemanden über sich. Eines wusste er sofort, er war nicht mehr in diesem Hinterhof, auch nicht bei dem widerlichen Drow, dem Ork und Hatch’nett. Allein bei diesem Gedanken wirkte er froh und brachte ein zaghaftes Lächeln zustande.
Der Maskierte Fürst kniete neben dem Jungen und musterte ihn neugierig, wie ein kleines Kind, dass etwas Neues entdeckt hatte.
So ist es recht, dachte sich der Drowgott und schmunzelte. Dann entzündete er in einigen Metern Entfernung durch seine göttliche Kraft und mit einem einzigen Gedanken ein Feuer. Es wurde durch Magie gespeist und die Flammen erhellten die kleine Höhle ein wenig. Der Halbdrow sollte sich hier wohl fühlen und vor allem wieder gesund werden. Vhaerauns Silhouette wurde dabei an eine Felswand geworfen und er wirkte in jenem Moment wie ein ganz normaler Drow.
„V … V …“, versuchte Shar zu sprechen, als er den Schatten an der Wand wahrnahm, aber seine dünne Stimme versagte und er seufzte nur kurz auf. Noch konnte er nicht alles sehen und kaum sprechen, aber er wusste, er war nicht alleine und brauchte keine Angst zu haben.
„Du sollst nicht sprechen sondern dich ausruhen“, verkündete Vhaeraun laut ohne gedanklich mit dem Jungen in Kontakt zu treten.
Der junge Halbdrow vernahm augenblicklich diese Stimme und spürte zwar die Schwäche und die Müdigkeit, aber er schien davon überzeugt, dass Handir gerade mit ihm gesprochen hatte. Handir war hier bei ihm und war zu ihm zurückgekehrt. Er würde ihn immer erkennen, sagte sich Shar. Sein Herz schlug bei diesem Gedanken schneller und die Freude über diese unerwartete Begegnung ließ Shar plötzlich über das ganze Gesicht strahlen. Die Tränen traten ihm in die Augen und er weinte. Weinte vor Freude und vor Ehrfurcht ohne zu wissen, dass diese Ehrfurcht seinem Gott galt. Dann, völlig unerwartet für Vhaeraun, suchte der Junge nach der Hand seines angeblichen Vaters und fand sie sogleich. Er griff zu und hielt sie fest in der eigenen. Vhaeraun starrte in jenem Moment den Halbdrow verdutzt an und schon bekam dieser nichts mehr mit. Shar schwelgte so sehr in seiner Wiedersehensfreude, dass er beruhigt in einen tiefen und erholsamen Schlaf glitt. Einzig und alleine die Stimme und die Anwesenheit seines angeblichen Vaters spendeten ihm Trost, schenkten ihm eine innere Kraft und überwältigten ihn am Ende. Sein Vater war bei ihm, was sollte nun schon passieren. Vhaeraun begann dabei zu lächeln.
„Schlafe und ruhe dich aus. Du musst zu Kräften kommen und dann wartet ein neues Leben auf dich“, meinte der Maskierte Fürst ruhig.
Vhaeraun gratulierte sich selbst und schmunzelte dabei immer breiter. Auf eine merkwürdige Art und Weise berührte ihn das noch unschuldige Wesen des Jungen und er konnte dafür keine Erklärung finden, wieso, weshalb und warum. Shar wirkte tatsächlich wie ein roher Diamant, der bald bereit schien, geschliffen zu werden. Jetzt galt es noch jemanden zu finden, der sich Seiner annahm und der dabei mehr Köpfchen beweisen würden, als so manch ein anderer. Sich selbst schloss er natürlich aus. So erhob sich der attraktive Dunkelelf, ließ den jungen Halbdrow schlafend zurück und schritt auf eine der massiven Felswände zu. Ein Teil seiner Existenz konzentrierte er dabei auf Shar, damit er jederzeit wusste, wann er erwachte und er zurückkehren sollte. Dann umwaberte ein schwarzer Nebel seine noch dunklere Silhouette und bereits einen Augenblick später durchschritt Vhaeraun die Wand wie Luft und war verschwunden.
Einige Minuten später und viele hundert Meter weiter oben, über dem Klauenspalt und über den Dächern der Stadt Menzoberranzan, spazierte der Maskierte Fürst durch die Luft, wie andere auf festem Boden. Er schien zu schweben und gleichzeitig zu fliegen und dann doch wieder nicht. Die Sohlen der Lederstiefel berührten hier und da die Dachfirste und Dächer der Häuser. Doch niemand konnte ihn sehen. Vhaeraun bewegte sich in der Schattenebene und beobachte mit Interesse das Geschehen in den engen Gassen und Straßen von Ostmyr. Ein Negativbild dessen, was sich hier zutrug. Sein Blick wanderte neugierig von einer Richtung in die andere und es wirkte ganz so, als würde er sich amüsieren. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht und dann nahm er plötzlich auf einem hohen Dachfirst Platz und beobachtete weiter. Die rot glühenden Augen blickten hinunter zum Basar.
Hier in diesem Bezirk wurde offen gehandelt. Praktisch alle Völker Faerûns konnte man vorfinden, entweder als Händler oder Sklaven. Auf dem Basar war alles erhältlich und ungeachtete der Preise und Dienstleistungen aller Art wurde hier erworben und verkauft. Ein Ort wo Vhaeraun als erstes suchen wollte. Immerhin wurde das Angebot durch die ausgefallenen Rassen größer und reizvoller. Doch ein Dunkelelf sollte es sein. Jemand der sich des Jungen annahm und dabei noch ein kluges Köpfchen bewies. Die Erziehung sollte perfekt werden, auch wenn sie Jahre zu spät erfolgte. Was wäre ein Auserwählter des Maskierten Fürsten, wenn er sich nicht seiner Aufgaben in der Zukunft stellen konnte. Dummköpfe gab es genug und Shar bewies manchmal doch mehr Verstand, als es vielleicht den Eindruck machte. Abgesehen von dem katastrophalen Erlebnis der letzten Tage, das Vhaeraun eilig aus den eigenen Gedanken verbannte, überlegte er weiter. Es musste ein Drow mit Fähigkeiten sein, das sich dem Dogma des Maskierten Fürsten als gerecht erwies. Jemand der das Chaos kannte, die Gesellschaft der Dunkelelfen verstand, alle möglichen Tricks beherrschte und sich mit Diebstahl auskannte und der aus der männlichen Dunkelelfenschicht stammte. Außerdem sollte dieser jemand die Aktivitäten auf der Oberfläche verstehen. So schweifte der Blick aufgeregt über die Masse am Boden. Kein leichtes Unterfangen, nicht einmal wenn man ein Gott ist. Aber eine Entscheidung musste fallen, wenn auch langsam. Der Sohn Lolths drang in die Erinnerungen und Gedanken der herumwuselnden Drowmänner ein und wog sorgfältig ab. Da erspähte Vhaeraun plötzlich einen Dunkelelfen der alles in sich vereinte, was er nur zu wünschen hoffte, und er wunderte sich, den Drow hier zu finden. Immerhin war der Maskierte Fürst nicht allmächtig.
Ein noch recht junger Drow schlich sich im Schatten einer Häuserecke, am Rand des Basars, herum. Wenn man ihn besser gesehen hätte, wäre manch einer wohl auf die Idee gekommen er könnte zu jung sein. Mit seinen 250 Jahren war er jedoch ein erwachsener Dunkelelf, der sich als Assassine seinen Lebensunterhalt verdiente. Der Mann hieß Malag’edorl, stammte ursprünglich aus der Stadt Sshamath - die Stadt der dunklen Gewebe. Er lebte schon einige Jahre in Menzoberranzan und bewohnte ein bescheidenes Zimmer am Rand von Ostmyr, direkt am Basar. Malag’edorl besaß weiße, lange Haare, die er sich zu einem Zopf zusammen gebunden hatte, trug schwarze Lederhosen und dazu ein dünnes, schwarzes Hemd. Ein schwarzer Umhang aus einem edlen Stoff verhüllte den meisten Teil seiner Statur und somit auch seine Waffen. Ein Dolch und Kurzschwert prangten in einem Waffengürtel und hier und dort versteckte er noch viele weitere Klingen, die er gerne zum Einsatz brachte. Rote Augen glimmten in der dunklen Ecke auf und Vhaeraun erkannte darin grüne Flecken, die ihn in seiner Abstammung gleich außergewöhnlich machten. Außerdem las er in dessen Erinnerungen, dass der Assassine sogar bereits mehrmals auf der Oberfläche gewesen war und ihn – den Maskierten Fürsten - anbetete.
Der Maskierte Gott der Nacht durchstreifte daraufhin weitere Erinnerungen von Malag’edorl und spürte die tiefe Verbundenheit zu ihm und schon seine Eltern beteten Vhaeraun an. Wenn er noch tiefer in das Innere dessen Seins blickte, dann wusste er, er hatte soeben einen geeigneten Kandidaten gefunden. Schon freute sich der Sohn Lolths, da drängte sich gleichzeitig eine weitere, noch stärkere Präsenz in sein Bewusstsein. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte er irritiert und verstand es selbst nicht. Dann konzentrierte sich eine der tausend Facetten auf die neue Gegenwart und ein weiteres Lächeln huschte über die attraktiven Züge des Gottes. Er hatte soeben einen zweiten Anwärter gefunden und jemand, der sich durchaus lohnte. Zwei Drow mit einem Schlag und Vhaeraun gratulierte sich für diesen Zufall.
Jetzt hieß es nur noch abwarten und sich vorerst auf den jungen Halbdrow zu konzentrieren und die beiden Anwärter nicht aus dem Bewusstsein zu verlieren. Shar sollte genesen, anschließend sich ein dickes Fell zulegen, um alleine auf den Straßen von Menzoberranzan überleben können. Wenn ihm das gelang, war er wahrlich das Wesen, dass Vhaeraun für seine Zukunft mehr als dienlich wäre. Diesmal würde der Maskierte Fürst mehr Aufmerksamkeit auf seinen neusten Schatz legen und im Notfall eingreifen. Beide Kandidaten waren dann an der Reihe und wussten es nicht einmal. Aber genauere Pläne musste sich Vhaeraun erst selbst zu Recht legen und dann handeln. Der Maskierte Fürst war und blieb chaotisch böse und die wahren Hintergründe eines Gottes ließen sich nicht wirklich ergründen. Für ihn zählten andere Dinge und vor allem die Zukunft, die förmlich nach ihm rief. Mit diesen und weiteren Gedanken brach der Sohn Lolths in schallendes Gelächter aus. Wenn ihn jemand bemerkt hätte, dann hätte der derjenige einen halbverhüllten Dunkelelfen auf einem Dachfirst erspäht, der sich vor Lachen den Bauch hielt und sich freute, als gehöre die Oberfläche bereits ihm.
Nach diesem Tag waren nun weitere vergangen. Shar verbrachte die Zeit versteckt in der kleinen Höhle mit Schlafen, Erholen und Essen. Anfänglich hatte er nur einige Male die Augen geöffnet und war doch gleich wieder eingeschlafen. Er fühlte sich aber mit jeder Stunde wohler und vor allem schien die Angst völlig von ihm abgefallen zu sein. Außerdem war Handir wieder bei ihm und sprach mit ihm. Das schenkte dem jungen Halbdrow die Sicherheit, die er so sehr vermisst hatte und die er brauchte. Etwas Schöneres konnte sich Shar nicht vorstellen. Das magische Feuer brannte weiterhin und spendete in der Finsternis dieser Abgeschiedenheit Schutz.
Shar fühlte sich bald besser und als er irgendwann erwachte, schaute er sich neugierig um. Doch viel konnte er nicht erkennen. Das Licht enthüllte lediglich die massiven Felswände, einige Felsvorsprünge und den klaffenden Abgrund auf einer Seite dieser Höhle. Aber von Furcht keine Spur, denn der Junge wusste instinktiv, dass ihm keine Gefahr drohte. Außerdem konnte er sich erholen und musste nicht ständig daran denken, wie er der Gewalt der Stadt entkommen konnte. Zu seiner größten Überraschung fand er sogar reichlich zu Essen und zu Trinken vor und dachte nicht einmal an Nhaundar und all die anderen. Die Stimme von Handir erzählte ihm, dass alles nur für ihn bestimmt sei und er kräftig und viel zu sich nehmen sollte. Das ließ sich Shar natürlich nicht zweimal sagen und verputzte innerhalb von Minuten mehr, als jemals an einem Tag. Anschließend legte er sich immer wieder hin und schlief beruhigt ein.
Nach fast zwanzig Tagen fühlte sich der junge Halbdrow wieder kräftig und bereit sich etwas schneller und besser zu bewegen. Das Essen ging auch niemals aus und so tat sich Shar an den köstlichen Speisen mehr als gütlich. Doch eines blieb, die Narben auf seinem Gesicht und Armen, wie auch auf dem Rücken waren nicht verschwunden. Aber wenigstens waren sie nicht mehr entzündet und das schien das Wichtigste, selbst für Shar. Zum Glück für ihn, dass es hier keinen Spiegel gab, der ihm wohl ein ganz anderes Bild vermittelt hätte, als er sich fühlte, denn er sah schrecklich aus. Der junge Halbdrow war immer noch verwahrlost. Er stank und seine Haare standen ihm in alle Himmelsrichtungen ab. Die wollende Hose und ein recht verdrecktes und löchriges Hemd trugen nicht zum Ansehen bei. Aber es handelte sich wenigstens um Kleidung. Seine Füße waren nackt. Alles im allem wirkte er wie ein Straßenkind, dass seit Jahren in den schmutzigen Gassen von Menzoberranzan lebte. Genau das, was von Vhaeraun beabsichtig und von Nöten war. Aus diesem Grund heilte er auch nicht die Narben, die er zu einem späteren Zeitpunkt immer noch entfernen konnte. Aber das musste er Shar nicht auf die Nase binden.
Ein weiterer Zehntag verstrich in der kleinen, versteckten Höhle und niemand ahnte auch nur etwas von dem jungen Halbdrow. Vhaeraun hatte wahrlich einen guten Platz gefunden. Er konnte mit ansehen, wie der Junge neue Kräfte entwickelte. Nachdem nun auch der bedrohliche Einfluss gänzlich von ihm entfernt wurde, wurde Shar langsam jemand mit Charakterstärke und Mut. Er wirkte nicht mehr so ängstlich und unbeholfen und total verschreckt. Sehr wichtig waren dabei die Gespräche, die die beide stundenlang führten.
Shar saß die meiste Zeit in der Nähe des Feuers und lernte schnell, dass er mit Handir nur auf Grund seiner Gedanken kommunizieren durfte. Am Anfang wirkte er noch etwas enttäuscht, aber immerhin zählte nur eines, sein Vater war wieder da. Vhaeraun machte sich sogar hin und wieder einen kleinen Spaß daraus, den Jungen zu necken. Der Maskierte Fürst ließ seine Silhouette an die Wand werfen und versuchte einen Mondelfen darzustellen. Wenn der junge Halbdrow sich jedoch näheren wollte, griff Vhaeraun ein und bestrafte ihn dafür. Die Strafe war nicht gefahrvoll und auch von einer Gedankenpeitsche ließ der Maskierte Fürst ab, aber stattdessen ließ Vhaeraun seine Stimme laut und gellend im Inneren von Shars Kopf erschallen, so dass der Junge von seinem Vorhaben abließ und sich einen Moment erholen musste. Die einfache Erklärung, dass bei der kleinsten Berührung Handir für immer verschwinden würde, reichte aus, dass der junge Halbdrow nach dem dritten Versuch aufgab. Enttäuschend für Shar, aber er sagte sich, es sei nötiges Muss. Niemals wieder wollte er seinen Vater verlieren und so fand er sich mit dieser Situation letztendlich ab und lernte sogar dadurch. Shar wurde ein wenig selbstständiger und hörte plötzlich nur noch auf sich selbst, als immer nur auf die Stimme seines angeblichen Vaters, den er nur noch ab und zu um Rat fragte. Allerdings die Nachricht, dass Shar bald wieder in die Straßen der stinkenden Stadt sollte, baute den Jungen nicht wirklich auf. Am liebsten wäre er für immer hier geblieben. Aber Vhaerauns Tricks gingen nicht aus. Als Handir forderte er von dem Jungen einen starken und vor allem folgsamen Sohn. Weichlinge und Dummköpfe gab es genug auf Abeir-Toril und im Unterreich und hauptsächlich in der Stadt der Spinnenkönigin, die wie Ungeziefer wuchsen und prächtig gediehen. Er erklärte Shar am Ende auch, dass er nun frei und kein Sklave mehr war. Etwas, was den Jungen irritierte, aber er nahm es vorerst einmal hin. Er sollte sich keine weiteren Gedanken über Nhaundar Xarann, Sorn und Nalfein machen und auch nicht um den Waffenmeister Zaknafein Do’Urden. Lediglich vor den Dunkelelfen sollte er sich hüten, meinte Vhaeraun, und er sollte stets Acht geben. Alles würde nun bald selbst in der Hand von Shar liegen. Nicht zu vergessen, dass er dem Jungen seine Hilfe versprach. Ob nun mit Worten oder Ratschlägen oder in anderer Form. Die nächsten Monate wären Shars Bewährungsprobe.
Tage später setzte der Maskierte Fürst seine Zukunftspläne in die Tat um und nahm den Körper von Shar mit sich, als dieser schlief. Noch war der junge Halbdrow nicht soweit, um sich den komplexen Dingen seiner neuen Aufgabe zu widmen. So hatte Vhaeraun sich für den ersten Teil der Erziehung und für einen Dunkelelfen entschieden und dieser Teil wurde nun ausgeführt. Das harte Leben in den Straßen würde es zeigen, ob der Maskierte Fürst gut gewählt hatte, doch Vhaeraun schien zuversichtlich und wollte jederzeit eingreifen. Doch er selbst musste sich zuerst um andere Angelegenheiten kümmern und Vorbereitungen mussten getroffen werden.
Als Shar erwachte war er leicht irritiert. Er öffnete die Augen und fand sich auf dem Boden einer kleinen Seitenstraße wieder. Er blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und richtete sich langsam in eine sitzende Position auf. Der junge Halbdrow brauchte einige Minuten, um zu verstehen, dass er sich nicht mehr in der kleinen Höhle befand, sich stattdessen wieder in Menzoberranzan aufhielt. Enttäuscht seufzte er, hatte er sich doch nichts sehnlicher gewünscht, dass Handir es sich doch noch anders überlegte, aber das hatte er offensichtlich nicht getan. Also musste Shar jetzt versuchen das Beste daraus zu machen, ganz so, wie es sein Vater von ihm verlangte. Shar nahm sich fest vor ein gehorsamer Sohn zu sein und damit auch Handir glücklich zu machen, auch wenn es hieß, sich hier zu Recht zu finden und die wirren Gedanken seines Vaters nicht zu hinterfragen.
Noch während der junge Halbdrow überlegte, was er tun sollte, erschrak er. Laute Stimmen näherten sich ihm plötzlich und eindeutig stammten sie von Dunkelelfen. Eilig schaute Shar nach rechts und links und versuchte zu erkunden, aus welcher Richtung sich die Männer auf ihn zu bewegten. Denn eines wusste der Junge augenblicklich, er musste verschwinden und das rasch. Bloß nicht erwischen lassen und die Erinnerungen an den Hinterhof von Veszmyr Zolond kehrten zurück. Sein Herz klopfte wild in der Brust und die Angst vor einer unliebsamen Begegnung saß tief. Shar sprang hastig auf und erkannte, was sich ihm näherte, aber für Flucht war es dennoch zu spät, er war bereits gesehen worden.
Eine Stadtwache bog in die Gasse ein, gefolgt von weiteren Dunkelelfen, die plötzlich stehen blieben und sich zuerst suchend umschauten. Sie suchten jeden Winkel mit den Augen ab und schauten dabei in alle Richtungen, auch zu Shar hinüber. Die Soldaten flankierten dabei mit gezogenen Waffen zwei merkwürdige Drow, die der Junge so noch nie gesehen hatte. Einer davon trug eine dunkle Robe und zu ihm gesellte sich eine Dunkelelfe, eine Priesterin Lolths, die sich nun an die Spitze der Gruppe setzte. Ihr heiliges Symbol, eine Spinne aus Jaspis, hing um ihren Hals, während sie es mit einer Hand fest hielt. Sie schien sich zu konzentrieren.
„Das ist der Weg“, verkündete sie plötzlich mit kalter Stimme und ein Soldat nickte daraufhin.
„Los, hier her Männer. Wir werden ihn schon in die Finger bekommen“, spornte der Soldat die anderen an, während er mit einer Hand der Gruppe den Weg in die lange Gasse wies. Es handelte sich dabei um den Hauptmann.
Shars Körper zitterte plötzlich und er wusste nicht was er tun sollte. Wenn er hier blieb dann würden die Männer an ihm vorbei kommen. Wenn er weglief, würden sie ihn ebenfalls sehen. So stand der Junge ohne Ziel und Antwort immer noch auf der Stelle und die Patrouille näherte sich Schritt für Schritt. Letztendlich entschloss sich Shar für das, was er kannte, sich Unscheinbarmachen. Da er schon auf den Füßen war, wich er nach hinten aus, bis er mit dem Rücken eine kalte Häuserwand berührte. Er ging in die Knie und schaute zu Boden. Nur nicht bewegen, sagte er sich noch und dann beobachtete er aus den Augenwinkeln heraus was passierte. Es dauerte nur zehn Atemzüge da liefen die ersten zwei Soldaten an dem jungen Halbdrow vorbei. Nichts geschah. Es folgten weitere und Shar schien schon froh aus der Gefahr heraus zu sein, da hielt die komplette Gruppe an.
„Was ist los?“, wollte die Priesterin wissen und funkelte den Hauptmann böse an.
„Meine Herrin, hier ist jemand“, antwortete dieser wahrheitsgemäß und deutete mit einem Finger auf den sitzenden Jungen.
Gereizt wand die Dunkelelfe ihren Kopf zu Shar und rümpfte die Nase. „Das ist ein stinkendes Straßenbalg“, spie sie mit Verachtung heraus. „Hauptmann Urlryn, habt ihr den Verstand verloren? Wir müssen den Flüchtigen dringend finden und ihr wollt euch mit Kleinigkeiten abgeben.“
Der angesprochene Drow versuchte sich im gleichen Moment zusammen zu reißen und nichts zu erwidern, was er bereuen könnte. Dann holte er Luft und antwortete respektvoll. „Herrin, ich dachte mir nur, er könnte den Flüchtigen gesehen haben. Wie ihr seht ist diese Gasse verlassen, aber euer Zauber hat uns hier her geführt.“
Diese Antwort saß und die Lolthpriesterin konnte im ersten Augenblick nichts darauf erwidern, was ihr nicht die Würde nahm. So versuchte sie ihren Ärger hinunter zu schlucken und richtete anschließend ihren Körper zur vollen Größe auf. „Dann fragt dieses Straßenbalg endlich und verschwendet nicht so viel Zeit“, meinte sie nüchtern.
Der Hauptmann nickte lediglich und freute sich innerlich einen Triumph errungen zu haben. Doch auch er wusste, dass die Zeit knapp wurde und sie die Suche dringend weiterführen mussten. Mit schnellen Schritten stand er sogleich vor dem immer noch am Boden sitzenden Shar und befahl ihm, er solle den Hauptmann anschauen.
Das Herz des jungen Halbdrow schlug wieder heftiger und ihm traten die Schweißperlen auf die Stirn. Die Gefahr schien noch lange nicht gebannt. Schon wollte der Junge nach seinem Vater rufen, aber er ließ im letzten Moment doch davon ab. Er wollte gehorsam sein und wenn er bei jeder Schwierigkeit nach ihm rief, wäre er ganz und gar nicht folgsam. Obwohl er immer noch die Angst verspürte, nahm er seinen Mut zusammen und sah augenblicklich in rote Augen, die ihn unheilsvoll anstarrten.
Urlryn wirkte überrascht, als er in tiefblaue Augen blickte. Vor ihm hockte ein Mischling. Mit einem Halbdrow hatte er nicht gerechnet, auch wenn er im ersten Moment eher wie ein Drow wirkte. Dann erkannte der Hauptmann, dass der Junge völlig verdreckt und schmutzig war und plötzlich stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase. Urlryn schluckte, rümpfte leicht die Nase und wollte jetzt nur eilig weiter. Aber er wollte auch den Jungen befragen und er musste sich gleichzeitig beeilen. So zog er einen Dolch aus dem Waffengürtel und befahl, dass der Junge aufstehen sollte.
Shar tat wie ihm geheißen, während sein Körper anfing zu zittern und die Klinge sich gefährlich seiner Brust näherte.
„Hast du einen Drow gesehen, der hier vorbei gerannt ist?“, wollte der Hauptmann der Stadtwache wissen. Alle aufkommenden Fragen über die Herkunft des Halbdrow interessierten ihn in jenem Moment nicht, denn wichtigere Dinge hatten Vorrang. Er und seine Leute mussten dringend einen flüchtigen Drow finden und es gab keine Zeit, sich Gedanken um ein verwahrlostes Kind und erst recht nicht um einen verwilderten Halbelfen zu machen.
Shar schüttelte angestrengt den Kopf und piepste ein leises „Nein“. Dabei musterte er den Dolch genau, der sich nun unmittelbar auf seiner Haut befand und ihn ängstigte.
„Es handelt sich um einen Dunkelelfen“, wiederholte nun Urlryn seine Frage genauer, um sich zu vergewissern, dass der Halbdrow ihn auch verstanden hatte. „Er trägt eine schwarze Lederhose, ein schwarzes Hemd und darüber einen schwarzen Umhang. Sein Haar hat er zusammengebunden“, führte der Hauptmann seine Frage noch weiter aus und sein Tonfall klang ganz so, als würde er mit jemanden reden, der das Sprechen eben erst erlernt hatte.
Shar biss sich auf die Unterlippe und fast schon hätte der Soldat mehr als lächerlich in seinen Augen gewirkt, weil er so langsam und betont sprach. Außerdem passte diese Beschreibung bestimmt auf viele Dunkelelfen in der Stadt. Doch er verkniff sich jede Gefühlsregung und wusste trotzdem nicht, wen die Stadtwache suchte. Dass er erst aufgewacht und sich selbst wunderte, wo er war, konnte er ja niemandem sagen und gesehen hatte er auch niemanden. Also schüttelte er verneinend den Kopf und antwortete im Flüsterton. „Nein, mein Herr.“
„Hauptmann“, warf nun die Priesterin ein und ihre Stimme troff vor Spott. „Wenn ihr euch länger hier ausgeruht habt, dann könnten wir weiter suchen. Er ist schon über alle Berge bis ihr euch mit so einem Ding überhaupt verständigen könnt.“
Urlryns Augen verengten sich zu Schlitzen und erneut musste er seinen Ärger über seine Vorgesetzte herunter schlucken. Dann zog er augenblicklich seinen Dolch zurück, steckte ihn in die Scheide und wand sich ohne Shar eines weiteren Blickes zu würdigen um. Er lief zurück zu der Gruppe, die sich alle köstlich zu amüsieren schienen und dann setzten sie ohne ein weiteres Wort ihren Weg fort.
Zurück blieb ein bebender Shar, der sein Glück kaum fassen konnte. Seltsam, dachte er sich nur und verfolgte den Abmarsch der Wache aus den Augenwinkeln. Wieso dachten immer nur so viele Dunkelelfen, er wäre dumm und könnte nicht sprechen. Aber er wusste es besser. Dabei stahl sich ein kleines Lächeln auf seine verdreckten Gesichtszüge und er freute sich, dass er für dieses eine Mal wirklich mit Glück gesegnet schien. Und dies stimmte sogar teilweise. Vhaeraun hatte gelauscht, aber sich nicht beteiligt. Dafür, dass der Junge die Situation alleine gemeistert hatte, wusste er, eine große Hürde war genommen worden. Aber die nächste wartete bereits auf den Halbdrow, denn nicht umsonst hatte er genau jene Seitenstraße heraus gesucht.
Shar seufzte nochmals auf, sah in die Richtung in der die Stadtwachen verschwanden und entschied sich automatisch für die entgegengesetzte Richtung. Er drehte sich um, wobei er den Blick vorsichtshalber auf die Männer gerichtet hielt, man konnte ja nie wissen, ob sie nochmals zurückkommen wollten. Der junge Halbdrow machte dabei automatisch einen Schritt vorwärts und prallte plötzlich gegen etwas und taumelte zwei Schritte zurück. Erschrocken hielt er inne, wand sein Gesicht nach vorne und blickte nach oben. Zwei rot glühende Augen sahen auf ihn herab.
Die Karten werden neu gemischt
Die Schwärze der Nacht legte sich wie ein undurchdringlicher Schleier um eine kleine versteckte Höhle des Unterreiches. Ein attraktiver Dunkelelf mit weißen langen Haaren, schwarzer Lederrüstung, Kurzschwert und Dolch mit dunklen Klingen im Waffengürtel, durchschritt soeben diese Finsternis. Er trug eine Halbmaske und seine roten Augen funkelten in der Dunkelheit. Vhaeraun hielt den schwachen Körper von Shar auf den Armen und wusste, die Zeit wurde knapp.
Die Wut des Gottes war gerade rechtzeitig verraucht und er hatte mit einer seiner tausend Facetten den schwindenden Lebensmut des Jungen gespürt. Nach der Strafe durch die Gedankenpeitsche hatte sich der Maskierte Fürst nicht mehr um das Wohlbefinden des Halbdrow gesorgt, noch sich dafür interessiert. Seine Getreuen mussten und sollten erst lernen zu folgen und zu gehorchen, um ihm im Anschluss dienlich zu sein. Immerhin handelte es sich bei dem Maskierten Fürsten um eine chaotisch böse Gottheit.
Vhaerauns Wille und der Umstand, endlich einen neuen und treuen Auserwählten gefunden zu haben – auch wenn Shar sich niemals darüber bewusst war – wollte er ihn zuerst auf den steinigen Weg der Läuterung schicken. Wer vor seiner Bestimmung davon lief, sollte auch die Konsequenzen kennen. Genauso wie die Tatsache, auch die unangenehmsten Seiten des Lebens überwinden zu können. Dabei vergaß Vhaeraun, dass der junge Halbdrow zurzeit ohne Führer war. Solange sich Sorn Dalael um das Wohlbefinden Shars gekümmert hatte, war die Ordnung im Chaos einigermaßen sicher gestellt, doch nun lagen die Veränderungen klar auf der Hand und Vhaeraun kümmerte sich selbst darum, aber er war nicht wirklich liebreizend dabei. Lange Zeit grübelte der Maskierte Fürst vor sich hin und schob und wendete die Ereignisse von eine in die andere Richtung, überlegte, welche ihm den meisten Nutzen brachte und während er wütend und grübelnd da saß, überließ er Shar einfach dem Schicksal ohne an die Folgen zu denken.
Doch auf seltsame Art und Weise schien er überhaupt nicht mit dem Elend des Jungen gerechnet zu haben. Als er das Desaster im Innenhof des widerlichen, alten Drow bemerkte, musste er einschreiten. Nach fast zehn Tagen packte ihn so wieder die Neugier und mit Schrecken stellte er die auswegslose Situation des Jungen fest. In den ersten Sekunden ärgerlich über die unerwartete Wandlung, hatte sich das aufbrausende Gemüt Vhaerauns wieder gemeldet. Er bekam sich jedoch schnell wieder in den Griff. Das langsame Dahinsiechen des Jungen war niemals beabsichtigt gewesen. Als Vhaeraun sich auf den jungen Halbdrow fokussiert, wusste er, dass er seine Zukunftspläne nicht gefährden durfte, tot benötigte er keinen Auserwählten. In einem hintersten Teil seiner Existenz gestand sich sogar der Maskierte Fürst ein, dass er mehr Vorsicht walten lassen musste. So beschloss der Sohn der Spinnenkönigin sich vorerst persönlich an dem Verlauf von Shars Schicksal zu beteiligen. Den Anfang machte er, als er im gleichen Augenblick, als Hatch’nett das Messer holte, er den Jungen zu sich holte.
Nun schritt Vhaeraun mit dem immer schwächer werdenden jungen Halbdrow, der nicht mehr bei Bewusstsein war, auf den Armen durch eine kleine Höhle, unmittelbar in der Nähe des Klauenspaltes und dem Hauptquartier von Bregan D’aerthe und seines Sohnes Jarlaxle. Alles geschah in absoluter Heimlichkeit und ohne das Wissen eines Dritten. Vhaeraun wählte den sicheren Weg und einen abgeschiedenen Ort aus, der nur durch den gähnenden Abgrund erreichbar war. Ringsherum wurde die Nische von mehreren Metern massivem Fels umschlossen und selbst Shar wäre niemals so dumm, sich durch das Erklimmen scharfer und tödlicher Felsvorsprünge von hier nach oben zu kämpfen. Vorerst wäre dies sowieso nicht möglich, denn der Junge lag im sterben, wenn nicht bald Hilfe kam.
In der Mitte der kleinen Höhle angekommen, legte Vhaeraun den abgemagerten Halbdrow auf den Boden und konnte sich selbst eines Seufzen nicht erwähren. Vielleicht trug er tatsächlich eine Mitschuld an diesem Dilemma, aber diesen Gedanken schob er weit weg. Stattdessen musste er nun versuchen sich in Geduld zu üben – keine große Stärke von ihm - und sobald Shar wieder einigermaßen gesund und kräftig war, stand seine erste, große Aufgabe an. Er musste erzogen werden und lernen, sich alleine zu behaupten. Die Erziehung des Jungen sollte von Jemand mit Kompetenz und Mut erfolgen und vor allem von einem Dunkelelfen, der sich auf der neutralen Seite sah. Somit kein korrupter und selbstverliebter Sklavenhändler oder Waffenmeister und auch keine widerlichen Anhänger seiner Mutter. Den Priester und sein Bruder benötigte er für andere, viel wichtigere Dinge.
„Ausnahmsweise überlasse ich dir gerne deine stinkenden Wanzen, die sich Lolthanhänger nennen, Hure, die sich Mutter schimpft“, sagte Vhaeraun sarkastisch und ein Lächeln huschte über sein halbverdecktes Gesicht.
Aber nun kam Shar an erster Stelle. Der Maskierte Fürst beugte sich zu dem sterbenden Körper hinunter und beobachtete mit einer Mischung aus Neugier und Freude seine eigene Zukunft.
„Eines Tages wirst du deinen Platz kennen und all die anderen werden treu auf deiner Seite stehen. Nicht einmal Handir hätte dir solche eine Position zugedacht und er freut sich zu wissen, dass ich dich für diese Aufgabe auserkoren habe. Du kannst stolz auf deinen Vater sein, der mir wahrhaft treu zur Seite steht.“
Daraufhin erhob Vhaeraun eine Hand, ließ den schwarzen Lederhandschuh mit einem einzigen Gedanken verschwinden und beobachtete wenige Lidschläge die eigene, obsidiane Haut. Im Bruchteil von Sekunden und durch einen einzigen Gedanken verwandelten sich seine Hand und der Arm plötzlich. Die feste Oberfläche wurde durchscheinender. Der Maskierte Fürst versetzte ein Teil seiner rechten Hand und Arm in die Schattenebene, woraus er seine Kraft schöpfte, während der Rest seiner Existenz auf der Materiellen Ebene weilte. Mit dem Schattenarm griff er damit in den Brustkorb von Shar und drang bis zum Herzen vor. Seine Schattenhand legte sich um das kaum noch schlagende Herz und Vhaeraun nahm das Schwinden des Lebens in sich auf.
„Du wirst nicht sterben, nicht solange ich dich brauche“, sagte der Sohn Lolths und konzentrierte sich auf den Rhythmus des Herzens.
Augenblicklich durchströmte den Gott eine ihm wohl vertraute Energie und er übertrug einen Bruchteil auf den jungen Halbdrow. Die Kraft durchflutete das schwache Herz und brachte es von neuem zum kräftigen Schlagen. Von einem Moment zum anderen bäumte sich Shars Körper auf und fiel entspannt auf den Boden zurück. Es war vollbracht, denn Vhaeraun zog seine Schattenhand zurück und beobachtete den Jungen und wie sich dessen Brustkorb langsam und stetig hob und senkte. Der Atem kam ruhig und genauso ruhig klopfte das Herz tief im Inneren von Shar und er war erfüllt mit einem Tropfen von Vhaerauns Essens.
Einige Minuten verstrichen ohne dass etwas geschah, bis der junge Halbdrow ganz überraschend die Augen aufschlug. Noch war er schwach und sah alles durch einen nebelhaften Schleier. Es war alles dunkel um ihn herum, aber nicht finster genug, um nicht doch etwas erkennen zu können. Shars Verstand handelte noch träge, aber mit seinen Augen erkannte er jemanden über sich. Eines wusste er sofort, er war nicht mehr in diesem Hinterhof, auch nicht bei dem widerlichen Drow, dem Ork und Hatch’nett. Allein bei diesem Gedanken wirkte er froh und brachte ein zaghaftes Lächeln zustande.
Der Maskierte Fürst kniete neben dem Jungen und musterte ihn neugierig, wie ein kleines Kind, dass etwas Neues entdeckt hatte.
So ist es recht, dachte sich der Drowgott und schmunzelte. Dann entzündete er in einigen Metern Entfernung durch seine göttliche Kraft und mit einem einzigen Gedanken ein Feuer. Es wurde durch Magie gespeist und die Flammen erhellten die kleine Höhle ein wenig. Der Halbdrow sollte sich hier wohl fühlen und vor allem wieder gesund werden. Vhaerauns Silhouette wurde dabei an eine Felswand geworfen und er wirkte in jenem Moment wie ein ganz normaler Drow.
„V … V …“, versuchte Shar zu sprechen, als er den Schatten an der Wand wahrnahm, aber seine dünne Stimme versagte und er seufzte nur kurz auf. Noch konnte er nicht alles sehen und kaum sprechen, aber er wusste, er war nicht alleine und brauchte keine Angst zu haben.
„Du sollst nicht sprechen sondern dich ausruhen“, verkündete Vhaeraun laut ohne gedanklich mit dem Jungen in Kontakt zu treten.
Der junge Halbdrow vernahm augenblicklich diese Stimme und spürte zwar die Schwäche und die Müdigkeit, aber er schien davon überzeugt, dass Handir gerade mit ihm gesprochen hatte. Handir war hier bei ihm und war zu ihm zurückgekehrt. Er würde ihn immer erkennen, sagte sich Shar. Sein Herz schlug bei diesem Gedanken schneller und die Freude über diese unerwartete Begegnung ließ Shar plötzlich über das ganze Gesicht strahlen. Die Tränen traten ihm in die Augen und er weinte. Weinte vor Freude und vor Ehrfurcht ohne zu wissen, dass diese Ehrfurcht seinem Gott galt. Dann, völlig unerwartet für Vhaeraun, suchte der Junge nach der Hand seines angeblichen Vaters und fand sie sogleich. Er griff zu und hielt sie fest in der eigenen. Vhaeraun starrte in jenem Moment den Halbdrow verdutzt an und schon bekam dieser nichts mehr mit. Shar schwelgte so sehr in seiner Wiedersehensfreude, dass er beruhigt in einen tiefen und erholsamen Schlaf glitt. Einzig und alleine die Stimme und die Anwesenheit seines angeblichen Vaters spendeten ihm Trost, schenkten ihm eine innere Kraft und überwältigten ihn am Ende. Sein Vater war bei ihm, was sollte nun schon passieren. Vhaeraun begann dabei zu lächeln.
„Schlafe und ruhe dich aus. Du musst zu Kräften kommen und dann wartet ein neues Leben auf dich“, meinte der Maskierte Fürst ruhig.
Vhaeraun gratulierte sich selbst und schmunzelte dabei immer breiter. Auf eine merkwürdige Art und Weise berührte ihn das noch unschuldige Wesen des Jungen und er konnte dafür keine Erklärung finden, wieso, weshalb und warum. Shar wirkte tatsächlich wie ein roher Diamant, der bald bereit schien, geschliffen zu werden. Jetzt galt es noch jemanden zu finden, der sich Seiner annahm und der dabei mehr Köpfchen beweisen würden, als so manch ein anderer. Sich selbst schloss er natürlich aus. So erhob sich der attraktive Dunkelelf, ließ den jungen Halbdrow schlafend zurück und schritt auf eine der massiven Felswände zu. Ein Teil seiner Existenz konzentrierte er dabei auf Shar, damit er jederzeit wusste, wann er erwachte und er zurückkehren sollte. Dann umwaberte ein schwarzer Nebel seine noch dunklere Silhouette und bereits einen Augenblick später durchschritt Vhaeraun die Wand wie Luft und war verschwunden.
Einige Minuten später und viele hundert Meter weiter oben, über dem Klauenspalt und über den Dächern der Stadt Menzoberranzan, spazierte der Maskierte Fürst durch die Luft, wie andere auf festem Boden. Er schien zu schweben und gleichzeitig zu fliegen und dann doch wieder nicht. Die Sohlen der Lederstiefel berührten hier und da die Dachfirste und Dächer der Häuser. Doch niemand konnte ihn sehen. Vhaeraun bewegte sich in der Schattenebene und beobachte mit Interesse das Geschehen in den engen Gassen und Straßen von Ostmyr. Ein Negativbild dessen, was sich hier zutrug. Sein Blick wanderte neugierig von einer Richtung in die andere und es wirkte ganz so, als würde er sich amüsieren. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht und dann nahm er plötzlich auf einem hohen Dachfirst Platz und beobachtete weiter. Die rot glühenden Augen blickten hinunter zum Basar.
Hier in diesem Bezirk wurde offen gehandelt. Praktisch alle Völker Faerûns konnte man vorfinden, entweder als Händler oder Sklaven. Auf dem Basar war alles erhältlich und ungeachtete der Preise und Dienstleistungen aller Art wurde hier erworben und verkauft. Ein Ort wo Vhaeraun als erstes suchen wollte. Immerhin wurde das Angebot durch die ausgefallenen Rassen größer und reizvoller. Doch ein Dunkelelf sollte es sein. Jemand der sich des Jungen annahm und dabei noch ein kluges Köpfchen bewies. Die Erziehung sollte perfekt werden, auch wenn sie Jahre zu spät erfolgte. Was wäre ein Auserwählter des Maskierten Fürsten, wenn er sich nicht seiner Aufgaben in der Zukunft stellen konnte. Dummköpfe gab es genug und Shar bewies manchmal doch mehr Verstand, als es vielleicht den Eindruck machte. Abgesehen von dem katastrophalen Erlebnis der letzten Tage, das Vhaeraun eilig aus den eigenen Gedanken verbannte, überlegte er weiter. Es musste ein Drow mit Fähigkeiten sein, das sich dem Dogma des Maskierten Fürsten als gerecht erwies. Jemand der das Chaos kannte, die Gesellschaft der Dunkelelfen verstand, alle möglichen Tricks beherrschte und sich mit Diebstahl auskannte und der aus der männlichen Dunkelelfenschicht stammte. Außerdem sollte dieser jemand die Aktivitäten auf der Oberfläche verstehen. So schweifte der Blick aufgeregt über die Masse am Boden. Kein leichtes Unterfangen, nicht einmal wenn man ein Gott ist. Aber eine Entscheidung musste fallen, wenn auch langsam. Der Sohn Lolths drang in die Erinnerungen und Gedanken der herumwuselnden Drowmänner ein und wog sorgfältig ab. Da erspähte Vhaeraun plötzlich einen Dunkelelfen der alles in sich vereinte, was er nur zu wünschen hoffte, und er wunderte sich, den Drow hier zu finden. Immerhin war der Maskierte Fürst nicht allmächtig.
Ein noch recht junger Drow schlich sich im Schatten einer Häuserecke, am Rand des Basars, herum. Wenn man ihn besser gesehen hätte, wäre manch einer wohl auf die Idee gekommen er könnte zu jung sein. Mit seinen 250 Jahren war er jedoch ein erwachsener Dunkelelf, der sich als Assassine seinen Lebensunterhalt verdiente. Der Mann hieß Malag’edorl, stammte ursprünglich aus der Stadt Sshamath - die Stadt der dunklen Gewebe. Er lebte schon einige Jahre in Menzoberranzan und bewohnte ein bescheidenes Zimmer am Rand von Ostmyr, direkt am Basar. Malag’edorl besaß weiße, lange Haare, die er sich zu einem Zopf zusammen gebunden hatte, trug schwarze Lederhosen und dazu ein dünnes, schwarzes Hemd. Ein schwarzer Umhang aus einem edlen Stoff verhüllte den meisten Teil seiner Statur und somit auch seine Waffen. Ein Dolch und Kurzschwert prangten in einem Waffengürtel und hier und dort versteckte er noch viele weitere Klingen, die er gerne zum Einsatz brachte. Rote Augen glimmten in der dunklen Ecke auf und Vhaeraun erkannte darin grüne Flecken, die ihn in seiner Abstammung gleich außergewöhnlich machten. Außerdem las er in dessen Erinnerungen, dass der Assassine sogar bereits mehrmals auf der Oberfläche gewesen war und ihn – den Maskierten Fürsten - anbetete.
Der Maskierte Gott der Nacht durchstreifte daraufhin weitere Erinnerungen von Malag’edorl und spürte die tiefe Verbundenheit zu ihm und schon seine Eltern beteten Vhaeraun an. Wenn er noch tiefer in das Innere dessen Seins blickte, dann wusste er, er hatte soeben einen geeigneten Kandidaten gefunden. Schon freute sich der Sohn Lolths, da drängte sich gleichzeitig eine weitere, noch stärkere Präsenz in sein Bewusstsein. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte er irritiert und verstand es selbst nicht. Dann konzentrierte sich eine der tausend Facetten auf die neue Gegenwart und ein weiteres Lächeln huschte über die attraktiven Züge des Gottes. Er hatte soeben einen zweiten Anwärter gefunden und jemand, der sich durchaus lohnte. Zwei Drow mit einem Schlag und Vhaeraun gratulierte sich für diesen Zufall.
Jetzt hieß es nur noch abwarten und sich vorerst auf den jungen Halbdrow zu konzentrieren und die beiden Anwärter nicht aus dem Bewusstsein zu verlieren. Shar sollte genesen, anschließend sich ein dickes Fell zulegen, um alleine auf den Straßen von Menzoberranzan überleben können. Wenn ihm das gelang, war er wahrlich das Wesen, dass Vhaeraun für seine Zukunft mehr als dienlich wäre. Diesmal würde der Maskierte Fürst mehr Aufmerksamkeit auf seinen neusten Schatz legen und im Notfall eingreifen. Beide Kandidaten waren dann an der Reihe und wussten es nicht einmal. Aber genauere Pläne musste sich Vhaeraun erst selbst zu Recht legen und dann handeln. Der Maskierte Fürst war und blieb chaotisch böse und die wahren Hintergründe eines Gottes ließen sich nicht wirklich ergründen. Für ihn zählten andere Dinge und vor allem die Zukunft, die förmlich nach ihm rief. Mit diesen und weiteren Gedanken brach der Sohn Lolths in schallendes Gelächter aus. Wenn ihn jemand bemerkt hätte, dann hätte der derjenige einen halbverhüllten Dunkelelfen auf einem Dachfirst erspäht, der sich vor Lachen den Bauch hielt und sich freute, als gehöre die Oberfläche bereits ihm.
Nach diesem Tag waren nun weitere vergangen. Shar verbrachte die Zeit versteckt in der kleinen Höhle mit Schlafen, Erholen und Essen. Anfänglich hatte er nur einige Male die Augen geöffnet und war doch gleich wieder eingeschlafen. Er fühlte sich aber mit jeder Stunde wohler und vor allem schien die Angst völlig von ihm abgefallen zu sein. Außerdem war Handir wieder bei ihm und sprach mit ihm. Das schenkte dem jungen Halbdrow die Sicherheit, die er so sehr vermisst hatte und die er brauchte. Etwas Schöneres konnte sich Shar nicht vorstellen. Das magische Feuer brannte weiterhin und spendete in der Finsternis dieser Abgeschiedenheit Schutz.
Shar fühlte sich bald besser und als er irgendwann erwachte, schaute er sich neugierig um. Doch viel konnte er nicht erkennen. Das Licht enthüllte lediglich die massiven Felswände, einige Felsvorsprünge und den klaffenden Abgrund auf einer Seite dieser Höhle. Aber von Furcht keine Spur, denn der Junge wusste instinktiv, dass ihm keine Gefahr drohte. Außerdem konnte er sich erholen und musste nicht ständig daran denken, wie er der Gewalt der Stadt entkommen konnte. Zu seiner größten Überraschung fand er sogar reichlich zu Essen und zu Trinken vor und dachte nicht einmal an Nhaundar und all die anderen. Die Stimme von Handir erzählte ihm, dass alles nur für ihn bestimmt sei und er kräftig und viel zu sich nehmen sollte. Das ließ sich Shar natürlich nicht zweimal sagen und verputzte innerhalb von Minuten mehr, als jemals an einem Tag. Anschließend legte er sich immer wieder hin und schlief beruhigt ein.
Nach fast zwanzig Tagen fühlte sich der junge Halbdrow wieder kräftig und bereit sich etwas schneller und besser zu bewegen. Das Essen ging auch niemals aus und so tat sich Shar an den köstlichen Speisen mehr als gütlich. Doch eines blieb, die Narben auf seinem Gesicht und Armen, wie auch auf dem Rücken waren nicht verschwunden. Aber wenigstens waren sie nicht mehr entzündet und das schien das Wichtigste, selbst für Shar. Zum Glück für ihn, dass es hier keinen Spiegel gab, der ihm wohl ein ganz anderes Bild vermittelt hätte, als er sich fühlte, denn er sah schrecklich aus. Der junge Halbdrow war immer noch verwahrlost. Er stank und seine Haare standen ihm in alle Himmelsrichtungen ab. Die wollende Hose und ein recht verdrecktes und löchriges Hemd trugen nicht zum Ansehen bei. Aber es handelte sich wenigstens um Kleidung. Seine Füße waren nackt. Alles im allem wirkte er wie ein Straßenkind, dass seit Jahren in den schmutzigen Gassen von Menzoberranzan lebte. Genau das, was von Vhaeraun beabsichtig und von Nöten war. Aus diesem Grund heilte er auch nicht die Narben, die er zu einem späteren Zeitpunkt immer noch entfernen konnte. Aber das musste er Shar nicht auf die Nase binden.
Ein weiterer Zehntag verstrich in der kleinen, versteckten Höhle und niemand ahnte auch nur etwas von dem jungen Halbdrow. Vhaeraun hatte wahrlich einen guten Platz gefunden. Er konnte mit ansehen, wie der Junge neue Kräfte entwickelte. Nachdem nun auch der bedrohliche Einfluss gänzlich von ihm entfernt wurde, wurde Shar langsam jemand mit Charakterstärke und Mut. Er wirkte nicht mehr so ängstlich und unbeholfen und total verschreckt. Sehr wichtig waren dabei die Gespräche, die die beide stundenlang führten.
Shar saß die meiste Zeit in der Nähe des Feuers und lernte schnell, dass er mit Handir nur auf Grund seiner Gedanken kommunizieren durfte. Am Anfang wirkte er noch etwas enttäuscht, aber immerhin zählte nur eines, sein Vater war wieder da. Vhaeraun machte sich sogar hin und wieder einen kleinen Spaß daraus, den Jungen zu necken. Der Maskierte Fürst ließ seine Silhouette an die Wand werfen und versuchte einen Mondelfen darzustellen. Wenn der junge Halbdrow sich jedoch näheren wollte, griff Vhaeraun ein und bestrafte ihn dafür. Die Strafe war nicht gefahrvoll und auch von einer Gedankenpeitsche ließ der Maskierte Fürst ab, aber stattdessen ließ Vhaeraun seine Stimme laut und gellend im Inneren von Shars Kopf erschallen, so dass der Junge von seinem Vorhaben abließ und sich einen Moment erholen musste. Die einfache Erklärung, dass bei der kleinsten Berührung Handir für immer verschwinden würde, reichte aus, dass der junge Halbdrow nach dem dritten Versuch aufgab. Enttäuschend für Shar, aber er sagte sich, es sei nötiges Muss. Niemals wieder wollte er seinen Vater verlieren und so fand er sich mit dieser Situation letztendlich ab und lernte sogar dadurch. Shar wurde ein wenig selbstständiger und hörte plötzlich nur noch auf sich selbst, als immer nur auf die Stimme seines angeblichen Vaters, den er nur noch ab und zu um Rat fragte. Allerdings die Nachricht, dass Shar bald wieder in die Straßen der stinkenden Stadt sollte, baute den Jungen nicht wirklich auf. Am liebsten wäre er für immer hier geblieben. Aber Vhaerauns Tricks gingen nicht aus. Als Handir forderte er von dem Jungen einen starken und vor allem folgsamen Sohn. Weichlinge und Dummköpfe gab es genug auf Abeir-Toril und im Unterreich und hauptsächlich in der Stadt der Spinnenkönigin, die wie Ungeziefer wuchsen und prächtig gediehen. Er erklärte Shar am Ende auch, dass er nun frei und kein Sklave mehr war. Etwas, was den Jungen irritierte, aber er nahm es vorerst einmal hin. Er sollte sich keine weiteren Gedanken über Nhaundar Xarann, Sorn und Nalfein machen und auch nicht um den Waffenmeister Zaknafein Do’Urden. Lediglich vor den Dunkelelfen sollte er sich hüten, meinte Vhaeraun, und er sollte stets Acht geben. Alles würde nun bald selbst in der Hand von Shar liegen. Nicht zu vergessen, dass er dem Jungen seine Hilfe versprach. Ob nun mit Worten oder Ratschlägen oder in anderer Form. Die nächsten Monate wären Shars Bewährungsprobe.
Tage später setzte der Maskierte Fürst seine Zukunftspläne in die Tat um und nahm den Körper von Shar mit sich, als dieser schlief. Noch war der junge Halbdrow nicht soweit, um sich den komplexen Dingen seiner neuen Aufgabe zu widmen. So hatte Vhaeraun sich für den ersten Teil der Erziehung und für einen Dunkelelfen entschieden und dieser Teil wurde nun ausgeführt. Das harte Leben in den Straßen würde es zeigen, ob der Maskierte Fürst gut gewählt hatte, doch Vhaeraun schien zuversichtlich und wollte jederzeit eingreifen. Doch er selbst musste sich zuerst um andere Angelegenheiten kümmern und Vorbereitungen mussten getroffen werden.
Als Shar erwachte war er leicht irritiert. Er öffnete die Augen und fand sich auf dem Boden einer kleinen Seitenstraße wieder. Er blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und richtete sich langsam in eine sitzende Position auf. Der junge Halbdrow brauchte einige Minuten, um zu verstehen, dass er sich nicht mehr in der kleinen Höhle befand, sich stattdessen wieder in Menzoberranzan aufhielt. Enttäuscht seufzte er, hatte er sich doch nichts sehnlicher gewünscht, dass Handir es sich doch noch anders überlegte, aber das hatte er offensichtlich nicht getan. Also musste Shar jetzt versuchen das Beste daraus zu machen, ganz so, wie es sein Vater von ihm verlangte. Shar nahm sich fest vor ein gehorsamer Sohn zu sein und damit auch Handir glücklich zu machen, auch wenn es hieß, sich hier zu Recht zu finden und die wirren Gedanken seines Vaters nicht zu hinterfragen.
Noch während der junge Halbdrow überlegte, was er tun sollte, erschrak er. Laute Stimmen näherten sich ihm plötzlich und eindeutig stammten sie von Dunkelelfen. Eilig schaute Shar nach rechts und links und versuchte zu erkunden, aus welcher Richtung sich die Männer auf ihn zu bewegten. Denn eines wusste der Junge augenblicklich, er musste verschwinden und das rasch. Bloß nicht erwischen lassen und die Erinnerungen an den Hinterhof von Veszmyr Zolond kehrten zurück. Sein Herz klopfte wild in der Brust und die Angst vor einer unliebsamen Begegnung saß tief. Shar sprang hastig auf und erkannte, was sich ihm näherte, aber für Flucht war es dennoch zu spät, er war bereits gesehen worden.
Eine Stadtwache bog in die Gasse ein, gefolgt von weiteren Dunkelelfen, die plötzlich stehen blieben und sich zuerst suchend umschauten. Sie suchten jeden Winkel mit den Augen ab und schauten dabei in alle Richtungen, auch zu Shar hinüber. Die Soldaten flankierten dabei mit gezogenen Waffen zwei merkwürdige Drow, die der Junge so noch nie gesehen hatte. Einer davon trug eine dunkle Robe und zu ihm gesellte sich eine Dunkelelfe, eine Priesterin Lolths, die sich nun an die Spitze der Gruppe setzte. Ihr heiliges Symbol, eine Spinne aus Jaspis, hing um ihren Hals, während sie es mit einer Hand fest hielt. Sie schien sich zu konzentrieren.
„Das ist der Weg“, verkündete sie plötzlich mit kalter Stimme und ein Soldat nickte daraufhin.
„Los, hier her Männer. Wir werden ihn schon in die Finger bekommen“, spornte der Soldat die anderen an, während er mit einer Hand der Gruppe den Weg in die lange Gasse wies. Es handelte sich dabei um den Hauptmann.
Shars Körper zitterte plötzlich und er wusste nicht was er tun sollte. Wenn er hier blieb dann würden die Männer an ihm vorbei kommen. Wenn er weglief, würden sie ihn ebenfalls sehen. So stand der Junge ohne Ziel und Antwort immer noch auf der Stelle und die Patrouille näherte sich Schritt für Schritt. Letztendlich entschloss sich Shar für das, was er kannte, sich Unscheinbarmachen. Da er schon auf den Füßen war, wich er nach hinten aus, bis er mit dem Rücken eine kalte Häuserwand berührte. Er ging in die Knie und schaute zu Boden. Nur nicht bewegen, sagte er sich noch und dann beobachtete er aus den Augenwinkeln heraus was passierte. Es dauerte nur zehn Atemzüge da liefen die ersten zwei Soldaten an dem jungen Halbdrow vorbei. Nichts geschah. Es folgten weitere und Shar schien schon froh aus der Gefahr heraus zu sein, da hielt die komplette Gruppe an.
„Was ist los?“, wollte die Priesterin wissen und funkelte den Hauptmann böse an.
„Meine Herrin, hier ist jemand“, antwortete dieser wahrheitsgemäß und deutete mit einem Finger auf den sitzenden Jungen.
Gereizt wand die Dunkelelfe ihren Kopf zu Shar und rümpfte die Nase. „Das ist ein stinkendes Straßenbalg“, spie sie mit Verachtung heraus. „Hauptmann Urlryn, habt ihr den Verstand verloren? Wir müssen den Flüchtigen dringend finden und ihr wollt euch mit Kleinigkeiten abgeben.“
Der angesprochene Drow versuchte sich im gleichen Moment zusammen zu reißen und nichts zu erwidern, was er bereuen könnte. Dann holte er Luft und antwortete respektvoll. „Herrin, ich dachte mir nur, er könnte den Flüchtigen gesehen haben. Wie ihr seht ist diese Gasse verlassen, aber euer Zauber hat uns hier her geführt.“
Diese Antwort saß und die Lolthpriesterin konnte im ersten Augenblick nichts darauf erwidern, was ihr nicht die Würde nahm. So versuchte sie ihren Ärger hinunter zu schlucken und richtete anschließend ihren Körper zur vollen Größe auf. „Dann fragt dieses Straßenbalg endlich und verschwendet nicht so viel Zeit“, meinte sie nüchtern.
Der Hauptmann nickte lediglich und freute sich innerlich einen Triumph errungen zu haben. Doch auch er wusste, dass die Zeit knapp wurde und sie die Suche dringend weiterführen mussten. Mit schnellen Schritten stand er sogleich vor dem immer noch am Boden sitzenden Shar und befahl ihm, er solle den Hauptmann anschauen.
Das Herz des jungen Halbdrow schlug wieder heftiger und ihm traten die Schweißperlen auf die Stirn. Die Gefahr schien noch lange nicht gebannt. Schon wollte der Junge nach seinem Vater rufen, aber er ließ im letzten Moment doch davon ab. Er wollte gehorsam sein und wenn er bei jeder Schwierigkeit nach ihm rief, wäre er ganz und gar nicht folgsam. Obwohl er immer noch die Angst verspürte, nahm er seinen Mut zusammen und sah augenblicklich in rote Augen, die ihn unheilsvoll anstarrten.
Urlryn wirkte überrascht, als er in tiefblaue Augen blickte. Vor ihm hockte ein Mischling. Mit einem Halbdrow hatte er nicht gerechnet, auch wenn er im ersten Moment eher wie ein Drow wirkte. Dann erkannte der Hauptmann, dass der Junge völlig verdreckt und schmutzig war und plötzlich stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase. Urlryn schluckte, rümpfte leicht die Nase und wollte jetzt nur eilig weiter. Aber er wollte auch den Jungen befragen und er musste sich gleichzeitig beeilen. So zog er einen Dolch aus dem Waffengürtel und befahl, dass der Junge aufstehen sollte.
Shar tat wie ihm geheißen, während sein Körper anfing zu zittern und die Klinge sich gefährlich seiner Brust näherte.
„Hast du einen Drow gesehen, der hier vorbei gerannt ist?“, wollte der Hauptmann der Stadtwache wissen. Alle aufkommenden Fragen über die Herkunft des Halbdrow interessierten ihn in jenem Moment nicht, denn wichtigere Dinge hatten Vorrang. Er und seine Leute mussten dringend einen flüchtigen Drow finden und es gab keine Zeit, sich Gedanken um ein verwahrlostes Kind und erst recht nicht um einen verwilderten Halbelfen zu machen.
Shar schüttelte angestrengt den Kopf und piepste ein leises „Nein“. Dabei musterte er den Dolch genau, der sich nun unmittelbar auf seiner Haut befand und ihn ängstigte.
„Es handelt sich um einen Dunkelelfen“, wiederholte nun Urlryn seine Frage genauer, um sich zu vergewissern, dass der Halbdrow ihn auch verstanden hatte. „Er trägt eine schwarze Lederhose, ein schwarzes Hemd und darüber einen schwarzen Umhang. Sein Haar hat er zusammengebunden“, führte der Hauptmann seine Frage noch weiter aus und sein Tonfall klang ganz so, als würde er mit jemanden reden, der das Sprechen eben erst erlernt hatte.
Shar biss sich auf die Unterlippe und fast schon hätte der Soldat mehr als lächerlich in seinen Augen gewirkt, weil er so langsam und betont sprach. Außerdem passte diese Beschreibung bestimmt auf viele Dunkelelfen in der Stadt. Doch er verkniff sich jede Gefühlsregung und wusste trotzdem nicht, wen die Stadtwache suchte. Dass er erst aufgewacht und sich selbst wunderte, wo er war, konnte er ja niemandem sagen und gesehen hatte er auch niemanden. Also schüttelte er verneinend den Kopf und antwortete im Flüsterton. „Nein, mein Herr.“
„Hauptmann“, warf nun die Priesterin ein und ihre Stimme troff vor Spott. „Wenn ihr euch länger hier ausgeruht habt, dann könnten wir weiter suchen. Er ist schon über alle Berge bis ihr euch mit so einem Ding überhaupt verständigen könnt.“
Urlryns Augen verengten sich zu Schlitzen und erneut musste er seinen Ärger über seine Vorgesetzte herunter schlucken. Dann zog er augenblicklich seinen Dolch zurück, steckte ihn in die Scheide und wand sich ohne Shar eines weiteren Blickes zu würdigen um. Er lief zurück zu der Gruppe, die sich alle köstlich zu amüsieren schienen und dann setzten sie ohne ein weiteres Wort ihren Weg fort.
Zurück blieb ein bebender Shar, der sein Glück kaum fassen konnte. Seltsam, dachte er sich nur und verfolgte den Abmarsch der Wache aus den Augenwinkeln. Wieso dachten immer nur so viele Dunkelelfen, er wäre dumm und könnte nicht sprechen. Aber er wusste es besser. Dabei stahl sich ein kleines Lächeln auf seine verdreckten Gesichtszüge und er freute sich, dass er für dieses eine Mal wirklich mit Glück gesegnet schien. Und dies stimmte sogar teilweise. Vhaeraun hatte gelauscht, aber sich nicht beteiligt. Dafür, dass der Junge die Situation alleine gemeistert hatte, wusste er, eine große Hürde war genommen worden. Aber die nächste wartete bereits auf den Halbdrow, denn nicht umsonst hatte er genau jene Seitenstraße heraus gesucht.
Shar seufzte nochmals auf, sah in die Richtung in der die Stadtwachen verschwanden und entschied sich automatisch für die entgegengesetzte Richtung. Er drehte sich um, wobei er den Blick vorsichtshalber auf die Männer gerichtet hielt, man konnte ja nie wissen, ob sie nochmals zurückkommen wollten. Der junge Halbdrow machte dabei automatisch einen Schritt vorwärts und prallte plötzlich gegen etwas und taumelte zwei Schritte zurück. Erschrocken hielt er inne, wand sein Gesicht nach vorne und blickte nach oben. Zwei rot glühende Augen sahen auf ihn herab.